Die Bereitschaft zu politischer Gewalt steigt, während sich QAnon weiter in der politischen Landschaft ausbreitet, zeigt die alljährliche "American Value Survey" des Public Religion Research Institute (PRRI). Mittlerweile sind 25 Prozent der Bevölkerung überzeugt, Regierung, Medien und Bankensystem würden von satanistischen Pädophilen gesteuert – ein Anstieg von 66 Prozent über zwei Jahre. Die Befragung zeigt, dass die US-amerikanische Öffentlichkeit in fundamental verschiedenen Welten zu leben scheint.
Knapp vier von zehn Bürger*innen in den USA (38 Prozent) sind der Meinung, der nächste Präsident müsse einer sein, der "gewillt ist, die Regeln zu brechen", weil das Land auf dem "falschen Kurs" sei. Unter Angehörigen der Republikanischen Partei (REPs) stimmt dieser Aussage beinahe die Hälfte (48 Prozent) zu, unter denen, die Fox News oder rechtsextremen Kanälen am meisten vertrauen, sogar eine knappe Mehrheit.
Diese Sehnsucht nach einer autoritären Exekutive zeigt sich auch in der gestiegenen Bereitschaft, auf politische Gewalt zurückzugreifen. Während 2021 noch 15 Prozent der Befragten zustimmten, dass "wahre Patriot*innen möglicherweise zu Gewalt greifen müssen, um das Land zu retten", bejahen diese Frage nun 23 Prozent – ein Anstieg um knapp die Hälfte binnen lediglich zwei Jahren. PRRI zufolge ist dies die erste Untersuchung, in der mehr als ein Fünftel der Befragten politische Gewalt für ein nötiges Mittel hält.
Die Gewaltbereitschaft ist dabei nicht homogen über das politische Spektrum verteilt. REPs sind mehr als doppelt so oft bereit, Gewalt anzuwenden, wie Personen, die demokratisch wählen (DEMs): 33 gegenüber 13 Prozent. Die Gewaltbereitschaft ist somit unter REPs in zwei Jahren um 50 Prozent angestiegen, unter DEMs um beinahe 100 Prozent. Befragte, die der Überzeugung sind, die Präsidentschaftswahl 2020 sei Donald Trump gestohlen worden (sogenannte "election deniers"), stimmen in 46 Prozent der Fälle zu, dass politische Gewalt vonnöten sein wird.
Unter Weißen Evangelikalen findet sich der mit großem Abstand höchste Anteil an election deniers – ganze 60 Prozent. Auch in Bezug auf politische Gewaltbereitschaft liegen Weiße Evangelikale vor allen anderen religiösen Gruppen: 31 Prozent sind der Meinung, dass ein Rückgriff auf Gewalt aus patriotischen Gründen notwendig sein könnte.
QAnon ist kein Verschwörungsmythos mehr, sondern ein politisches Bollwerk
Die antisemitische Verschwörungsideologie QAnon zieht derweil weiter ihre Kreise durch die US-amerikanische Politiklandschaft. Seit März 2021 ist der Anteil der Bevölkerung, der an QAnon glaubt, von 14 auf 23 Prozent gestiegen, während der Anteil an Personen, die QAnon für absoluten Blödsinn halten, von 40 auf nunmehr nur noch 29 Prozent gesunken ist.
Besondere Beachtung verdient die Entwicklung der Zustimmungswerte zu der Frage: "Werden die Regierung, die Medien und die Finanzwelt von satanistischen Pädophilen gesteuert?" Während 2021 15 Prozent der Befragten zustimmten, bejahen diese Frage nun ganze 25 Prozent.
Ein genauerer Blick auf die Zustimmungswerte zu QAnon in verschiedenen Gruppen zeigt, dass der Verschwörungsmythos mittlerweile gesellschaftsfähig geworden ist: Der Anteil an DEMs, die an QAnon glauben, verdoppelte sich zwischen 2021 und 2023 von sieben auf 14 Prozent. Unter sogenannten "nicht religiös Gebundenen" ("religiously unaffiliated") verdoppelte sich dieser Anteil ebenfalls, von neun auf nunmehr 18 Prozent. Am weitesten verbreitet ist die QAnon-Verschwörungsideologie aber noch immer unter Weißen Evangelikalen: Hier kletterte der Anteil an QAnon-Gläubigen von 20 auf 30 Prozent.
Sind die USA eine christliche Nation?
Genau ein Drittel der Befragten stimmt folgender Aussage zu: "Gott wollte, dass die Vereinigten Staaten ein neues gelobtes Land werden, in dem europäische Christen eine Gesellschaft bilden können, die dem Rest der Welt ein Vorbild sein kann." Dem stimmen 51 Prozent der REPs zu, 31 Prozent der parteilich Unabhängigen und 21 Prozent der DEMs. Wer wiederum dieser Prämisse zustimmt, stimmt auch mit weit größerer Wahrscheinlichkeit der Aussage zu, dass patriotische politische Gewalt notwendig werden könnte. 39 Prozent derjenigen, die die USA als ein gelobtes christliches Land betrachten, sehen politische Gewalt am Horizont.
Robert Jones, Gründer und Präsident des Public Religion Research Institute, sieht eine direkte Verbindung zwischen dem versuchten Coup am 6. Januar 2021 und den vorliegenden Ergebnissen: "Wir hatten im letzten Wahljahr die erste Wahl, von der wir nicht sagen können, dass sie mit einer friedlichen Machtübergabe einherging. Wir hatten einen Aufstand am 6. Januar. Daher denke ich, dass wir gerade ein Überkochen der Gewaltbereitschaft erleben", so Jones gegenüber NPR.
In einem Statement bei Axios kontextualisiert Jones außerdem die relativ hohe Gewaltbereitschaft einzelner Gruppen: "Wenn man das Gefühl hat, dass die eigene Bevölkerungsgruppe an der Spitze der politischen Macht stehen sollte, Wahlen aber nicht zu diesem Ergebnis führen, dann ist fast alles gerechtfertigt, um das richtige 'Resultat' zu erzielen." Klar: Wer glaubt, die USA seien ein Geschenk Gottes für Weiße, europäischstämmige Menschen, wird sich von weltlichen Wahlen kaum umstimmen lassen.
Mehrheit sieht Demokratie in Gefahr
Betrachtet man die Themen, die Anhänger*innen der Republikanischen respektive Demokratischen Partei als kritisch betrachten, zeigt sich ein äußerst polarisiertes Bild: Von 20 abgefragten Themen gibt es nur fünf, bei denen REPs und DEMs weniger als zehn Prozentpunkte voneinander entfernt sind: Preisentwicklung, Menschenhandel, Arbeitsmarktpolitik, Terrorismus und Künstliche Intelligenz. Mit Ausnahme der Preisentwicklung gibt es kein einziges Thema, das von einer Mehrheit der Angehörigen beider Parteien als kritisch bewertet wird. Am deutlichsten zeigt sich diese Divergenz bezeichnenderweise beim wohl drängendsten Thema unserer Zeit: der Klimakrise. Während zwei Drittel aller DEMs den Klimawandel als Kernanliegen identifizieren, sehen unter REPs nur 12 Prozent hier akuten Handlungsbedarf.
Es gab keinen systematischen, ergebnisverändernden Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl 2020. Trump und sein Team haben über 60 Gerichtsverfahren verloren und das Department of Homeland Security bezeichnete die Wahl als die "sicherste in der Geschichte der Nation". Joe Biden ist seit 20. Januar 2021 der gewählte Präsident der USA: Kann man mögen, muss man nicht, aber ist Fakt. Allerdings sind noch immer fast zwei Drittel der Republikanischen Wähler*innen der festen Überzeugung, die Wahl sei Trump gestohlen worden. Knapp die Hälfte dieser Menschen, 46 Prozent, sieht politische Gewalt heraufziehen. Wie könnten sie auch nicht: Wenn der Präsident illegitim ist, ist es dann nicht patriotische Pflicht, ihn, wenn nötig gewaltsam, zu stürzen? Zu einem gewissen Grad fußt die Kultur der Vereinigten Staaten auf diesem Prinzip.
So erklärt sich auch, warum REPs, DEMs und Unabhängige gleichermaßen mit Supermajorität der Aussage zustimmen, die Demokatie sei bei der kommenden Präsidentschaftswahl in Gefahr: Man ist sich nicht mehr einig, ob die Nation überhaupt noch eine Demokratie ist – oder jemals eine war. Teile der Republikanischen Partei inklusive des aktuellen Haussprechers stellen den Begriff bereits seit Jahren in Abrede und sprechen stattdessen lieber von einer "Republik".
Der Einsatz, der auf dem Tisch, liegt, wird immer offensichtlicher. Die Republikanische Fraktion im Kongress wird zum Boxring, während ihr führender Präsidentschaftskandidat die Sprache des Dritten Reichs spricht. In Ohio torpediert die Republikanische Partei nicht nur einen kürzlich mit (für US-Verhältnisse) überwältigender Mehrheit gewählten abtreibungsfreundlichen Verfassungszusatz, sondern das Konzept der Gewaltenteilung an sich. Ein Gericht in Colorado stellte fest, dass Trump sich am 6. Januar an einem Aufstand beteiligt hat, was allerdings nicht ausreiche, um ihn vom Wahlzettel zu entfernen. Schließlich liegt mit "Project 2025" ein Fahrplan für die schrittweise Erosion der demokratischen Institutionen des Staates vor, der nicht einmal auf Donald Trump angewiesen ist. Die nächste Wahlperiode ist tatsächlich von entscheidender Bedeutung für die Existenz der US-Demokratie – denn es wird de facto offen darüber abgestimmt, ob sie abgeschafft werden soll.
4 Kommentare
Kommentare
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Beim lesen dieses Artikels ist mir, als eingefleischten Atheisten, Kotzübel geworden.
(...)
Es ist traurig zu sehen, was aus Amerika wird, da es doch einmal die Wiege der Demokratie war.
auf die gesamte Welt nach sich ziehen.
A.S. am Permanenter Link
Eine freiheitliche Demokratie kann die Zustimmung der Bevölkerung zu sich selbst nicht erzwingen. Sie wäre dann nicht mehr freiheitlich.
Eine freiheitliche Demokratie kann die Zustimmung der Bevölkerung zu sich selbst zerstören, durch schlecht gemachte Politik.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Europa muss unabhängiger und stärker werden. Noch leben wir in der besten Ecke der Welt. Stärken wir die Demokratie, am besten - meiner persönlichen Meinung nach-
Manfred Schleyer am Permanenter Link
Die USA sind das Land, in dem alles möglich ist - sogar das Richtige.