Europa sollte entschiedener für seine freiheitlichen Werte eintreten und totalitären Tendenzen entgegentreten. Konflikte mit den heutigen Großmächten sind dabei unausweichlich, aber sinnvoll. Zwei sehr unterschiedliche Ereignisse verdeutlichen das exemplarisch.
Manchmal kommt einem die politische Weltbühne vor wie ein Sandkasten: Eitelkeiten, einseitige Interessen und das Recht des Stärkeren regieren – nach einer gefühlten Phase der Vernunft – zunehmend die internationalen Beziehungen. Neu dabei ist: Neben einer militärischen Überlegenheit, bei Energie- oder anderen Ressourcen, sind nun auch IT- und Meinungshoheit neue Quellen der Macht geworden.
Europa hat, als Ansammlung verklärter ehemaliger Großmächte, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Hassliebe zu seinen jeweiligen Schutzmächten entwickelt. Eine freiwillige oder erzwungene Identifikation, die bis heute nachwirkt – rechts wie links, im Osten wie im Westen. All die Kriege und Aggressionen in Korea, Ungarn, Vietnam, CSSR, Afghanistan, Süd- und Mittelamerika, Afrika und Asien wurden jeweils nur von der anderen Seite als das gebrandmarkt, was sie waren: blanker Imperialismus. Erst nach dem Kalten Krieg konnten einheitliche Standards überhaupt gedacht werden, etwa in der Debatte der Grünen um den Krieg im Kosovo oder Schröders und Fischers Absage, sich am zweiten Irakkrieg zu beteiligen.
Moralisch, so scheint es, ist Europa froh, wirtschaftliches Gewicht zu haben, aber selbst nicht mehr als aggressive Großmacht wahrgenommen zu werden. Den heutigen Supermächten Russland, China und den USA gegenüber verhalten sich die europäischen Regierungen wie zu unberechenbaren Halbstarken: Sie tun so, als sei alles okay und vermeiden den Blickkontakt, um nicht zu provozieren. Dass diese Rechnung nicht aufgehen kann, sollen die beiden aktuellen Beispiele zeigen.
Erstes Kapitel: Der Fall "Privacy Shield"
"Abhören unter Freunden, das geht gar nicht" – dieses Zitat Angela Merkels war schon der Gipfel der Aufmüpfigkeit, als 2013 ans Licht kam, dass die NSA zügellos alles überwacht und sammelt, was technisch machbar ist. Barack Obama war Präsident, Deutschland eine Wirtschaftsnation erster Güte, ein Bürgerrechtler war Bundespräsident. Genützt hat es nichts – nicht einmal die Aussicht auf ein No-Spy-Lippenbekenntnis war der US-Regierung abzuringen. Die Reaktion der europäischen Politik und Wirtschaft war: Weiterwursteln und sich arrangieren. So wie man sich auch mit den Desinformations-Kampagnen Russlands oder dem neuen globalen Imperialismus Chinas arrangiert hat.
Ein genervtes Aufstöhnen war daher vielerorts zu hören, als der Europäische Gerichtshof jüngst urteilte, dass das Datentransfer-Abkommen "Privacy Shield" mit den Persönlichkeitsrechten von Bürger*innen der EU unvereinbar und daher nichtig sei.
Muss man nun also am Ende doch tätig werden, umdenken, durchgehend europäische Standards garantieren? Bei der heutigen Verwobenheit digitaler Angebote kann es schon mal als Zumutung empfunden werden, das Geflecht der eigenen Dienstleistungen zu durchleuchten und umzustellen. Zusicherungen, Hilfestellungen und DSGVO-Zertifikate werden jetzt wie Pilze aus dem Boden schießen. Der ganze Schlamassel, so meint man, wird am Ende ja doch wieder nur den Juristen zugute kommen – wirklich?
Was war nochmal "Privacy Shield"?
"Safe Harbour" und sein Nachfolger "Privacy Shield" waren Vereinbarungen, die den Austausch personenbezogener Daten zwischen der EU und den USA legitimieren sollten. Dieser Austausch ist bekanntlich sehr rege: Ein Großteil unserer Chats, Cloudlösungen, KI-Anwendungen oder Sozialen Netzwerke basiert auf dem Austausch mit Anbietern aus den USA.
Das Problem dabei: Die US-Geheimdienste bedienen sich weiterhin massenhaft und ohne die geforderte Verhältnismäßigkeit an den sensiblen Daten – bei einem Speichervolumen über 400 Terabyte (2013) für eine einzelne Person der Weltbevölkerung. Online-Einkäufe, Metadaten, Chats, Betriebsgeheimnisse werden ausgewertet, sobald sie über Großbritannien oder die USA laufen. Die Geheimdienste genießen quasi Hausrecht bei den dort ansässigen IT-Konzernen und verpflichten diese zur Verschwiegenheit. Und was heute noch verschlüsselt ist, ist morgen vielleicht schon lesbar.
Zusammengeführt wissen die Datensammlungen mehr über uns, als wir selbst. Vor dieser Drohkulisse war der Name "Privacy Shield" ein böser Euphemismus – und der Angemessenheitsbeschluss der EU-Kommission dazu nichts als ein kleinlautes "Passt schon". Auch mit der fehlenden Klagemöglichkeit für EU-Bürger fand man sich ab. Damit ist jetzt erst mal Schluss – der klagenden Organisation NOYB ("My Privacy is None of Your Business", übersetzt: "Meine Privatsphäre geht euch nichts an") aus Österreich sei Dank.
Ich arbeite mit sensiblen oder personenbezogenen Daten – Was ist nun konkret zu tun?
Mit einer raschen Abkehr von der Massenüberwachung in den USA ist kaum zu rechnen. Zu prüfen ist daher, welche der eigenen Datenverarbeiter dem Zugriff der US-Behörden tatsächlich unterworfen sind – und zwar gleich, ob die Grundlage der Datenübertragung bisher "Privacy Shield"- oder Standardvertragsklauseln waren. Wenn man auf der Website keine aktuellen Erläuterungen findet, sollte man es als Kunde mit einem Formschreiben abfragen und anmahnen. Generell gilt:
• Unbedenklich ist weiterhin alles, was "notwendig" ist (z. B. ein Kauf, ein Service oder eine Buchung in den USA) und mit ausdrücklichem und folgenlos widerrufbarem Einverständnis der betreffenden Person an Daten in die USA gesendet wird.
• Auch EU-Tochtergesellschaften von US-Unternehmen (z. B. Facebook Irland) unterliegen der DSGVO und sind damit unproblematisch. Bei ihnen ist damit zu rechnen, dass sie Auslagerungen an ihre US-Muttergesellschaften nun unterbinden.
• In den meisten Fällen illegal sind dagegen ab sofort die Übertragung von personenbezogenen Daten an US-Unternehmen, etwa zu EDV-Zwecken. Dies betrifft u. a. AT&T, Amazon (AWS), AOL, Apple, Cloudflare, Dropbox, Facebook, Google, Microsoft, Oath, Verizon und Yahoo.
Diese letzteren Unternehmen werden sich nun beeilen, europäische Lösungen für ihre Kunden anzubieten – das Verbot gilt allerdings ab sofort und kann Schadensersatzklagen nach sich ziehen. Auch Anbieter von Videokonferenzen, Sprachassistenten u. v. m. müssen sich schleunigst Gedanken machen oder mit einer Kündigungswelle rechnen.
Zugegeben, das Ganze nervt. Dass nun alle mit den Augen rollen, liegt allerdings nicht an der Klage. Sondern daran, dass Politik und Wirtschaft das Thema nicht ernst genommen und so ein labiles Konstrukt wie "Privacy Shield" überhaupt akzeptiert haben. Dem liegt auch die irrige Vorstellung zugrunde, dass es unsere persönliche Sicherheit erhöhte, wenn das Internet in seiner Gesamtheit staatlich kontrollierbar wäre. Es ist ein Armutszeugnis, dass in Privacy-Fragen unbedarfte Politiker ständig Dinge in die Welt setzen, die von fachlich versierten Gerichten wieder kassiert werden. Zuletzt geschehen bei der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung zur Bestandsdatenabfrage.
Zweites Kapitel: Die Hongkong-Situation
Wissen ist Macht. Und totales Wissen ist totale Macht. Europa hat – anders als die USA – vielfältige und leidvolle Erfahrungen mit Totalitarismus. Und China – anders als Europa – kennt gar kein anderes Umfeld als ein totalitäres. Mit zwei bemerkenswerten Ausnahmen: Hongkong und Taiwan. Es ist kein Zufall, dass sich in den historischen Grauzonen (wie denen von Europa, Hongkong und Taiwan) das Bewusstsein für Pluralismus, Demokratie und digitale Selbstbestimmung besonders ausgeprägt hat.
Im Vergleich zu den USA verhält sich die Überwachung in China in ihren Auswirkungen noch extremer, denn sie zielt ganz offensiv auf die eigene Bevölkerung ab. Wer hier dumm auffällt, ausschert, sich nicht opportun äußert, kann mit täglich steigender Sicherheit davon ausgehen, sanktioniert zu werden. Aber auch im Ausland vertritt China seine Interessen mit zunehmender Aggressivität und Unverblümtheit. Die Entscheidung, den chinesischen Konzern Huawei an einer kritischen Infrastruktur wie dem 5G-Netz zu beteiligen, statt ein europäisches Konsortium zu gründen, könnte sich als kurzsichtig und sehr teuer erweisen. What could possibly go wrong?
Die Demokratie in Hongkong wurde abgeschafft
Für alle, denen die Menschenrechte um der eigenen Freiheit willen am Herzen liegen, war es quälend mit anzusehen, wie sich das politische Klima in Hongkong in den letzten Jahren verändert hatte. Die Meinungsfreiheit wurde systematisch beschnitten, die Keimzelle eines chinesischen Pluralismus erstickt. Es gehörte immer mehr Mut dazu, seinen Unmut zu äußern, dennoch gingen die Menschen im Zuge der Demokratiebewegung zu Millionen auf die Straßen. Diese Stimmen sind nun fast verstummt.
Das nun installierte "Gesetz zum Schutz der Nationalen Sicherheit" widerspricht den Erklärungen von 1985 zur politischen Eigenständigkeit und Demokratie Hongkongs bis 2047. Es richtet sich drakonisch gegen alle Aktivitäten, die von der chinesischen Regierung als subversiv, separatistisch oder "terroristisch" angesehen werden. Dazu kann das Hochhalten eines unbeschriebenen Pappschildes gehören, die Installation einer verschlüsselten Messenger-App oder die Mitgliedschaft in einer Chatgruppe.
Die Volksrepublik China der Ära Xi Jinping hat einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt, in Sachen Demokratie aber nichts zu erwarten. Der erhoffte politische "Wandel durch Handel" hat nicht stattgefunden. Die Unterdrückung Tibets und der Uiguren, die Besetzung des Südchinesischen Meers, die Unterstützung des nordkoreanischen Regimes, das rücksichtslose Auftreten in Afrika, die Niederschlagung von Demokratiebestrebungen im eigenen Land, die Drangsalierung von Dissidenten auch in Europa … die Liste der Vergehen ist lang.
Die Eigenständigkeit Hongkongs
Der Sonderstatus Hongkongs (heute rund 7 Mio. Einwohner) stammt aus der leidvollen Zeit der Opiumkriege ab 1841, in denen die Kolonialmacht Großbritannien China ihren Drogenhandel aufzwang. Die britische Kronkolonie wurde später, entgegen anders lautender Versprechungen, verteidigt. Sie bot Chinesen während des Bürgerkriegs (1927 – 1949) oder der Kulturrevolution (1966) Zuflucht, war aber auch geprägt von sozialen Spannungen. Als Wirtschaftszentrum war Hongkong auch für die Volksrepublik China wichtig, die mit Großbritannien eine Rückgabe Hongkongs an das Mutterland für 1987 verhandelte.
Als Bedingung dafür versprach man Hongkong den Status als Sonderwirtschaftszone, der ihm bis 2047 eine politische Eigenständigkeit mit freien demokratischen Wahlen garantieren sollte. Durch die Einführung der neuen Sicherheitsgesetze ist diese Eigenständigkeit nun de facto abgeschafft.
Darf Freiheit nichts kosten?
Was muss eine Regierung sich noch herausnehmen, bis die EU sich einmal traut – bei aller Diplomatie – eine klare Ansage zu machen? Zum Beispiel das gemeinsame Aufkündigen von Auslieferungsabkommen. Die Sanktionierung von Parteikadern. Oder die längst überfällige konzertierte Anerkennung Taiwans – dessen Flagge sich das auswärtige Amt auf seiner Website nicht mal zu zeigen traut.
Doch die Reaktionen der europäischen Außenministerien auf die Ereignisse in Hongkong sind enttäuschend. Vor allem Griechenland und Ungarn haben sich von China längst umgarnen lassen. Allein die britische Regierung machte Ernst und eröffnete den vor 1997 geborenen Hongkong-Chinesen einen Weg ins britische Exil. Der deutsche Wirtschaftsminister Peter Altmaier wurde derweil zitiert, dass er sich nicht als Lehrmeister Chinas in Sachen Demokratie sehe – während er der Türkei gegenüber damit keinerlei Probleme hatte.
So sollte man sich fragen, welche Standards die europäischen Regierungen denn anlegen wollen, zu welchem Preis oder ab welchem Machtgefälle sie bereit sind, die berühmten europäischen Werte zu opfern, von denen wir alle profitieren. Sicher, es ist nicht gut für's Geschäft, sich mit den USA, China, Russland, der Türkei oder Saudi-Arabien punktuell anzulegen. Aber wer so eine Rechnung aufstellt, könnte eines Tages sehr viel draufzahlen – in Form von globalen Konflikten, Umweltkosten, Migration, Reformstau in den internationalen Beziehungen und beständiges Störfeuer auf unsere liberalen Demokratien durch autoritäre Staaten.
China und die USA sind nicht gleichzusetzen
Nein, es geht nicht um eine Indifferenz, im Gegenteil. Und es geht schon gar nicht darum, neue Kriege anzuzetteln oder Regimewechsel zu betreiben. Es wäre ja Unsinn, Gemeinsamkeiten und gegenseitige Abhängigkeiten auszublenden. Wie es auch Unsinn ist, Aggressionen schönzureden, weil man einer Nation einen Opferstatus zubilligt oder mit ihr sympathisiert. Auch historische Dankbarkeit oder Schuld muss abstrahiert werden. Sympathien sind ein wichtiger Leitstern in unserem Leben, aber Menschen verändern sich und Regierungen wechseln.
Worum es geht, ist, die Voreingenommenheit abzulegen und jedem modernen Totalitarismus und Chauvinismus seine Geschäftsgrundlage zu entziehen. Das Ideal mündiger Menschen als Bürger gleichberechtigter souveräner Staaten ist eine humanistische Utopie, der Europa folgen sollte. Ihr etwas näherzukommen, das imperiale Streben der Großmächte zu begrenzen, liegt in unserem eigenen Interesse – und sollte uns etwas wert sein.
2 Kommentare
Kommentare
Junius am Permanenter Link
Europa ist ein geografischer Begriff, die EU vor allem ein gemeinsamer Zoll- und Wirtschaftsraum, sowie ein Zusammenschluß von Staaten, und Staaten haben keine „Werte“, sondern Interessen.
Balázs Bárány am Permanenter Link
Eine kleine Korrektur: NOYB war die beklagte Partei vor dem EuGH. Die Klage wurde von der irischen Datenschutzbehörde eingebracht.
"C-311/18 - Data Protection Commissioner v Facebook Ireland Ltd and Maximillian Schrems"