Warum steht das Wort "Rasse" im Grundgesetz?

Obwohl sich die Ampelkoalition 2021 in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt hatte, das Wort "Rasse" aus dem Grundgesetz zu streichen, bleibt es weiterhin dort stehen. Über die Argumente und Hintergründe.

"Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden."

Ein Satz, der vernünftig und gut klingt. Ein Satz, sozusagen in Stein gemeißelt, schließlich geht es um ein Grundrecht. Und doch sollte der Satz, enthalten im Artikel 3 Absatz 3 des Grundgesetzes, stutzig machen. Da ist von "Rasse" die Rede.

Die Ampelkoalition hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag 2021 eigentlich darauf geeinigt, das Grundgesetz an dieser Stelle zu ändern. In der Vereinbarung über das Regierungsprogramm von SPD, FDP und Grünen heißt es auf Seite 121: "Wir wollen den Gleichbehandlungsartikel des Grundgesetzes (Artikel 3 Absatz 3 GG) um ein Verbot der Diskriminierung wegen sexueller Identität ergänzen und den Begriff 'Rasse' im Grundgesetz ersetzen." Doch das auch schon in früheren Jahren diskutierte Vorhaben wurde im Februar beerdigt. Aber warum? Wie kann das sein? Wenn es doch keine Menschenrassen gibt, dann hat das Wort im Grundgesetz nichts verloren. Und ist es nicht geradezu eine Einladung, sich in böser Absicht auf die Verfassung zu berufen: Seht her, da steht doch, dass es Menschenrassen gibt! Und den Begriff dann am Ende doch in diskriminierender Absicht zu verwenden?

Der Begriff Rasse

Biologisch betrachtet bilden gemäß zoologischer Systematik alle heute lebenden Menschen eine einzige Art. Angehörige aller Populationen können sich fruchtbar miteinander paaren. Natürlich gibt es genetische Unterschiede zwischen Menschen. Doch der größte Teil der genetischen Unterschiede findet sich nicht zwischen den geographischen Gruppen, sondern zwischen den Individuen der einzelnen Populationen.

Im Jahr 1995 schrieb die "Wissenschaftliche Arbeitsgruppe der internationalen Unesco-Konferenz 'Gegen Rassismus, Gewalt und Diskriminierung'":

"Das Konzept der 'Rasse', das aus der Vergangenheit in das 20. Jahrhundert übernommen wurde, ist völlig obsolet geworden… 'Rassen' des Menschen werden traditionell als genetisch einheitlich, aber untereinander verschieden angesehen. Diese Definition wurde entwickelt, um menschliche Vielfalt zu beschreiben, wie sie beispielsweise mit verschiedenen geographischen Orten verbunden ist. Neue, auf den Methoden der molekularen Genetik und mathematischen Modellen der Populationsgenetik beruhende Fortschritte der modernen Biologie zeigen jedoch, dass diese Definition völlig unangemessen ist. Die neuen wissenschaftlichen Befunde stützen nicht die frühere Auffassung, dass menschliche Populationen in getrennte 'Rassen', wie 'Afrikaner', 'Eurasier' (einschließlich 'eingeborener Amerikaner'), oder irgendeine größere Anzahl von Untergruppen klassifiziert werden könnten. Mit diesem Dokument wird nachdrücklich erklärt, dass es keinen wissenschaftlich zuverlässigen Weg gibt, die menschliche Vielfalt mit den starren Begriffen 'rassischer' Kategorien oder dem traditionellen 'Rassen'-Konzept zu charakterisieren. Es gibt keinen wissenschaftlichen Grund, den Begriff 'Rasse' weiterhin zu verwenden."

Und 2019 veröffentlichte das Institut für Zoologie und Evolutionsforschung der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Anschluss an eine Fachtagung die sogenannte Jenaer Erklärung, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig lässt.

Die Wissenschaftler betonen:

"Die Idee der Existenz von Menschenrassen war von Anfang an mit einer Bewertung dieser vermeintlichen Rassen verknüpft, ja, die Vorstellung der unterschiedlichen Wertigkeit von Menschengruppen ging der vermeintlich wissenschaftlichen Beschäftigung voraus. Die vorrangig biologische Begründung von Menschengruppen als Rassen – etwa aufgrund der Hautfarbe, Augen- oder Schädelform – hat zur Verfolgung, Versklavung und Ermordung von Abermillionen von Menschen geführt. Auch heute noch wird der Begriff Rasse im Zusammenhang mit menschlichen Gruppen vielfach verwendet. Es gibt hierfür aber keine biologische Begründung und tatsächlich hat es diese auch nie gegeben. Das Konzept der Rasse ist das Ergebnis von Rassismus und nicht dessen Voraussetzung."

Die Einteilung der Menschen in Rassen sei eine gesellschaftliche und politische Typenbildung, gefolgt und unterstützt durch eine anthropologische Konstruktion auf der Grundlage willkürlich gewählter Eigenschaften wie Haar- und Hautfarbe. Diese Konstruktion diene dazu, offenen und latenten Rassismus mit angeblichen natürlichen Gegebenheiten zu begründen und damit eine moralische Rechtfertigung zu schaffen.

Heute wisse man, dass beim Menschen der mit Abstand größte Teil der genetischen Unterschiede nicht zwischen geographischen Populationen bestehe, sondern innerhalb solcher Gruppen.

"Es gibt im menschlichen Genom unter den 3,2 Milliarden Basenpaaren keinen einzigen fixierten Unterschied, der zum Beispiel Afrikaner von Nicht-Afrikanern trennt…. Äußere Merkmale wie die Hautfarbe, die für die typologische Klassifikation oder im alltäglichen Rassismus verwendet werden, sind eine höchst oberflächliche und leicht wandelbare biologische Anpassung an die jeweiligen örtlichen Gegebenheiten… Die Verknüpfung von Merkmalen wie der Hautfarbe mit Eigenschaften oder gar angeblich genetisch fixierten Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensweisen, wie sie in der Blütezeit des anthropologischen Rassismus verwendet wurden, ist inzwischen eindeutig widerlegt. Diese Argumentation heute noch als angeblich wissenschaftlich zu verwenden, ist falsch und niederträchtig. Es gibt auch keinen wissenschaftlich nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Intelligenz und geographischer Herkunft, aber einen deutlichen mit sozialer Herkunft. Auch hier schafft Rassismus in Form von Ausgrenzung und Diskriminierung die vermeintlichen Rassen."

Der Appell der Wissenschaftler

Ein Kennzeichen heutiger Formen des Rassismus sei bereits die Vermeidung des Begriffes "Rasse" gerade in rechtsradikalen und fremdenfeindlichen Milieus, argumentieren die Wissenschaftler: "Rassistisches Denken wird mit Begriffen wie Selektion, Reinhaltung oder Ethnopluralismus aufrechterhalten. Bei dem Begriff des Ethnopluralismus handelt es sich aber um nichts weiter als um eine Neuformulierung der Ideen der Apartheid. Auch die Kennzeichnung 'des Afrikaners' als vermeintliche Bedrohung Europas und die Zuordnung bestimmter, biologischer Eigenschaften stehen in direkter Tradition des übelsten Rassismus vergangener Zeiten."

Und dann der deutliche Appell der Naturwissenschaftler aus Zoologie und Anthropologie: "Sorgen wir also dafür, dass nie wieder mit scheinbar biologischen Begründungen Menschen diskriminiert werden und erinnern wir uns und andere daran, dass es der Rassismus ist, der Rassen geschaffen hat und die Zoologie/Anthropologie sich unrühmlich an vermeintlich biologischen Begründungen beteiligt hat. Der Nichtgebrauch des Begriffes Rasse sollte heute und zukünftig zur wissenschaftlichen Redlichkeit gehören."

Ein deutlicher Aufruf, der seinen Widerhall dann 2021 im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP fand. Doch Koalitionsverträge sind Absichtserklärungen und keine Gesetze. Im Ergebnis ändert sich nun doch nichts an der Grundgesetzformulierung. Aber warum? Was spricht dafür, trotz solcher naturwissenschaftlicher Erkenntnisse an dem Begriff festzuhalten? Und dann auch noch an dieser prominenten Stelle im Gesetz – bei den Grundrechten?

Die Gegenargumente

Als der Rechtsausschuss des Bundestages im Juni 2021 Experten zu dieser Frage anhörte, da sprachen sich zwar einige Experten für die Streichung des Begriffs "Rasse" aus dem Grundgesetz aus. Doch die Gegner dieses Vorhabens setzten sich mit ihren Argumenten bei den politischen Entscheidungsträgern an Ende durch. So argumentierte etwa Rechtsprofessor Dr. Christian Kirchberg als geladener Sachverständiger: Das Verbot der Benachteiligung (oder der Bevorzugung) "wegen seiner Rasse" habe erklärtermaßen als Reaktion auf den "Rassenwahn" des nationalsozialistischen Regimes Eingang in das Grundgesetz gefunden. "Gerade wegen des Rassenwahns des Nationalsozialismus und wegen des unendlichen Leids, das dieser Rassenwahn deswegen als minderwertig angesehenen, nicht nur einzelnen Menschengruppen, sondern Bevölkerungsteilen (vor allem, aber nicht nur Juden sowie Sinti und Roma) zugefügt hat, wäre die Streichung der als Reaktion darauf erfolgten Benennung der 'Rasse' als unzulässiges Differenzierungskriterium in Art. 3 Abs. 3 GG ein (rechts-)politisches Menetekel. Ein Menetekel nicht nur auf der nationalen, sondern insbesondere auch auf der internationalen Ebene." Spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg sei das Verbot der Diskriminierung wegen der Rasse in allen wichtigen Menschenrechtsverträgen enthalten und gehöre zum Kernbestand der internationalen Rechtsordnung – in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen völkerrechtlichen Abkommen.

Professor Dr. Uwe Kischel von der Universität Greifswald pflichtete dem Kollegen bei: "Gerade zu diesen internationalen Menschenrechtsinstrumenten und ihrer klaren Sprache würde die Streichung des Begriffs aus dem Grundgesetz in Widerspruch stehen. Wichtiger noch kommen Rechtstexte allgemein nicht umhin, ihren Gegenstand klar und deutlich zu benennen, auch und gerade wenn das zu Bekämpfende abstoßend ist." Der Begriff der Rasse werde in anderen Staaten, wie etwa den USA, nicht tabuisiert, sondern spiele dort auch im Alltag und im Recht eine wichtige Rolle. Dass die Einstellung dazu in Deutschland eine andere ist, liege an der untrennbaren emotionalen Verbindung, die der Begriff der Rasse hier mit den Verbrechen des Nationalsozialismus eingeht. Kischel: "Gerade wegen dieser Sonderlage wäre es in Deutschland in unerträglicher Weise geschichtsvergessen, den Rassebegriff als ein Mahnmal gegen die Greuel des Nationalsozialismus aus dem Grundgesetz zu streichen."

Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprang in der Diskussion dieser Argumentation zur Seite, als er in einem Zeitungsbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, der im Grundgesetz genutzte Begriff "Rasse" sollte unbedingt darin erhalten bleiben. Der Begriff erinnere an die deutsche Geschichte, vor allem "an die Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen, in erster Linie Jüdinnen und Juden; an die Schrecken der Schoa". Der Begriff sei von den Verfassungsvätern bewusst gewählt worden, "um die Diskontinuität zur völkischen Ideologie der Nationalsozialisten zu untermauern", so Schuster. Zwar sei es heute gesellschaftlicher Konsens, dass es keine Menschenrassen gebe, das sei aber in der Geschichte nicht immer so gewesen. Artikel 3 des Grundgesetzes schaffe "ein Bollwerk" gegen die NS-Ideologie.

Ein Urteil aus der Praxis

Pragmatisch gesehen "funktioniert" der Artikel 3 Grundgesetz mit seinem Rasse-Begriff übrigens durchaus gegen rassistische Diskriminierung. Das zeigt ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts Koblenz (Aktenzeichen 7 A 11108/14.OVG) aus dem Jahr 2016. Bei einer Polizeikontrolle in einem Zug waren die Personalien einer vierköpfigen dunkelhäutigen Familie überprüft worden. Alle anderen Fahrgäste blieben von der Kontrolle unbehelligt. Die Familie klagte und bekam vor Gericht recht. Unter Bezugnahme auf den Artikel 3 des Grundgesetzes. Danach dürfe niemand wegen seiner Rasse benachteiligt werden, womit auch die Hautfarbe umfasst sei, sagten die Richter. Auch wenn das nun ganz und gar nicht der geschilderten naturwissenschaftlichen Erkenntnis entspricht, kommen die Richter doch zum "richtigen" Ergebnis. Immerhin.

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