Kommentar

Warum die Offene Gesellschaft keine Spartiaten braucht

Dieser bisher nicht veröffentlichte Artikel hat den zweiten Platz des ersten Helmut-M.-Selzer-Journalistenpreises des hpd gewonnen, der am Wochenende verliehen wurde. Diesjähriger thematischer Schwerpunkt waren die Werte der Offenen Gesellschaft.

"DAS IST SPARTA!", rief König Leonidas (Gerard Butler) pathetisch, als er den gesandten Persiens in einen schier endlos tiefen Brunnen hinabstieß – ein ikonischer Moment für alle, die sich 2007 das erste Mal den Film "300" (Zack Snyder) im Kino angesehen haben. Der Plot handelt von einer Gruppe von heroischen Spartiaten – den titelgebenden 300 – die in der Antike bei den griechischen Thermopylen todesmutig den "Horden" anrückenden Perser gegenübertraten, um gegen die Versklavung und für die Freiheit Griechenlands zu kämpfen. Hollywood gab dieser historischen Schlacht einen revolutionären Anstrich, demnach die Spartiaten als bodenständig, freiheitlich, fortschrittlich, nahbar und sympathisch dargestellt wurden.   

Das wahre Sparta

Jedoch handelt es sich bei den beliebten Spartiaten um ein zeitgenössisches Zerrbild, denn in Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall: Die antiken Spartiaten vertraten das Ideal der Stammesgesellschaft, das mit klaren Strukturen und Machtvorstellungen einherging und sich nach außen hin abschottete. Individualismus, Gleichheit und Demokratie waren ihnen fremd, Herrschaft und Partikularismus waren das Schwert und Schild der Spartiaten1. Sie blickten deshalb verächtlich auf die aufblühenden Athener hinab, deren gesellschaftliches System sich allmählich öffnete, in dem "Unwürdige" machtvolle Positionen ergreifen konnten. Eine Verfallserscheinung, die lediglich durch die Wiederherstellung der "natürlichen Ordnung" und Rückbesinnung auf Tradition und Religion aufgehalten werden könnte.

Obwohl der Sieg Spartas im Peloponnesischen Krieg die goldene Ära Athens beendete, währte die neuartige Idee der Offenen Gesellschaft über die Epochen hinweg fort. Individualität, Gleichheit und Freiheit ließen den Wettstreit um angesehene Positionen gesellschaftsfähig werden. Kritik und Vernunft waren die Motoren des athenischen Fortschritts, während selbige in Sparta lediglich einen Freiflug vom Kaiadas-Felsen bescherten. Jedoch sollte man sich keine Illusionen machen, Athen öffnete sich nicht um seiner selbst willen, war der Prozess doch begleitet von heftigem Widerstreit in der Bevölkerung. Denn der Zusammenbruch einer Stammesgesellschaft kann Furcht und Ungewissheit auslösen. Die liebgewonnene Ordnung weicht einem sich stetig verändernden, intersubjektiven Aushandlungsprozess und partikulare Privilegien bröckeln zugunsten eines universalen Gleichheitsverständnisses.

Moderne Spartiaten

Die Entstehungsgeschichte der Offenen Gesellschaft, die Karl Popper in seinem monumentalen Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" anhand der kulturellen Evolution der Antike beschreibt, prägt Westeuropa bis heute, denn zu keiner Zeit vorher lebten Menschen vergleichbar selbstbestimmt. Obwohl das antike Sparta längst ein Relikt vergangener Tage ist, währt der spartanische Geist ebenfalls in einigen Menschen fort und offenbart sich in Zeiten der Ungewissheit, indem er freiheitliche Werte abermals attackiert.

Auch heute gibt es sie noch, die Spartiaten, bewaffnet mit der Furcht vor der Freiheit, der Geißel der Offenen Gesellschaft. Zu finden sind sie vor allem in den reaktionär-konservativen und den reaktionär-progressiven Lagern, wobei erstere die spartanischen Ideale in ihrer ursprünglichen, traditionellen Form auslegen. Letztere interpretieren die spartanische Ideologie neu und greifen eher den Partikularismus und den Antiindividualismus heraus. Beide eint allerdings die Liebe zur Stammesgesellschaft. Die reaktionären Konservativen loben den einen "wahren" Stamm, die Gemeinschaft der Würdigen, deren exklusive Rechte es zu bewahren gilt und die nach außen konsequent – bei Bedarf auch unter Verwendung von physischer Gewalt – verteidigt werden müssen. Die reaktionären Progressiven liebäugeln dagegen mit einer Fülle an koexistierenden Stämmen, die jeweils ihren eigenen Regeln und Wahrheiten unterworfen sind, die im Konfliktfall einem Tribunal aus intellektuellen Spartiaten vorgeführt werden, das über die Privilegien der einzelnen Stämme urteilt.

Die Furcht der Spartiaten

Spartiaten fürchten den Blick ins Auge der nüchternen Realität. In einer modernen, offenen Gesellschaft existieren keine Stämme mehr. Stammesdenken ist anachronistisches Denken, es ist die Gleichsetzung des eigenen Irrtums mit der Realität, wie es den Verlust des (gesellschaftlichen) Fortschritts und der Vernunft bedeutet. Spartiaten lehnen Individualität ab, weil sie sich vor der Wahrheit fürchten, dass Mitglieder des eigenen Stamms nicht so denken und fühlen wie sie es tun. Spartiaten lehnen Gleichheit ab, weil sie den Machtverlust fürchten, wenn Mitglieder anderer Stämme dieselben Privilegien haben wie sie selbst. Spartiaten lehnen Freiheit ab, weil sie um die Beständigkeit ihres Weltbilds fürchten, wenn Mitglieder des eigenen Stammes oder fremder Stämme sich nicht so verhalten, wie sie es selbst für richtig erachten.
Die Offene Gesellschaft ist angreifbar, wie Sparta an Athen demonstrierte. Spartanischer Furcht darf daher kein falsches Mitgefühl entgegengebracht werden, da wir sonst einfach alles riskieren.

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1 Popper, K. R. (1992). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I: Der Zauber Platons.