"Wo leben wir denn?"

Berlin, Moabit: In der Carl-Bolle-Grundschule gibt es von streng muslimischen Eltern schon Beschwerden, wenn Lehrerinnen zu kurze Röcke tragen. Und dann sagt Oziel Inácio-Stech seinen Schülern, dass er schwul ist. Die Geschichte eines Albtraums.

Der Artikel ist Gewinner des Sonderpreises des ersten Helmut-M.-Selzer-Journalistenpreises des hpd, der am Wochenende verliehen wurde. Diesjähriger thematischer Schwerpunkt waren die Werte der Offenen Gesellschaft. Mehr zur Preisverleihung und der Begründung der Jury lesen Sie hier.

Im Leben von Oziel Inácio-Stech ist seit zwei Jahren nichts mehr, wie es einmal war. Im Moment kann er nicht mal mehr unterrichten, sein Arzt hat ihn krankgeschrieben. Posttraumatische Belastungsstörung. Weil Schülerinnen und Schülern ihn mobben. Ihn, den Lehrer.

Oziel Inácio-Stech, 43, lockige Haare, kariertes Hemd, arbeitet als pädagogische Unterrichtskraft an der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit, einem Stadtteil mit 85 .000 Menschen und vielen afghanischen und libanesischen Restaurants. Lehrer wie er arbeiten in Berliner Schulen zusammen mit Klassenlehrerinnen oder Klassenlehrern, sie betreuen und unterrichten Kinder mit Förderbedarf, manchmal im Unterricht, manchmal in Extraräumen, in denen die Kinder das bekommen, was sie brauchen: mehr Zeit für Matheaufgaben, mehr Zuwendung, wenn sie einen Text nicht verstehen.

Rund dreihundert Kinder besuchen die Carl-Bolle-Grundschule. 95 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund, stammen aus sozial benachteiligten Familien und manche aus Ländern, in denen Homosexuelle getötet werden. In einer Nachricht an die SZ hatte Inácio-Stech gefragt, ob man über seinen Fall berichten könne. Es klang wie ein Hilferuf: "Mein Thema ist schwuler Lehrer und fanatische religiöse Eltern."

Zusammen mit seinem deutschen Mann, der im Wirtschaftsministerium arbeitet, sitzt Oziel Inácio-Stech im Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung. An den Wänden hängen Ölbilder, die Inácio-Stech selbst gemalt hat, sein Mann bringt Kräutertee und Obst. Seit 2010 lebt Oziel Inácio-Stech in Berlin. Vor neun Jahren kam er an die Carl-Bolle-Grundschule. Er wusste, dass es eine Brennpunktschule ist. Aber er wollte genau hier arbeiten, um, wie er sagt, die Welt ein bisschen besser zu machen.

Aber: Seit fast zwei Jahren sieht sich Inácio-Stech homophoben Anfeindungen und Übergriffen ausgesetzt. Seine eigene Welt ist sehr viel schlechter geworden.

In all den Jahren, in denen er an der Carl-Bolle-Schule gearbeitet hat, hatte er mit sich gehadert. Soll ich den Kindern die Wahrheit sagen? Ihnen erzählen, dass ich mit einem Mann zusammenlebe? Oder soll ich "mich schützen", wie er sagt, weil viele Eltern "doch sehr religiös" seien und aus "traditionellen Kulturen" stammten? Oft habe er mitbekommen, wie Väter sich beschwerten, dass Erzieherinnen oder Lehrerinnen ihrer Meinung nach "zu kurze Röcke" getragen hätten.

Aber Kolleginnen und Kollegen hätten ihn immer wieder ermuntert, sich nicht zu verstecken. Den Kindern zu sagen, dass er schwul ist. Dazu rät auch die GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. Vor fünf Jahren also gab Inácio-Stech sich einen Ruck, er hatte das Verstecken satt.

Diesen Vormittag kurz vor Beginn der Corona-Pandemie werde er nie vergessen, sagt er. Er saß mit ein paar Kindern in seinem Unterrichtsraum, Kinder aus Rumänien, Bulgarien, Libanon, den Palästinensergebieten. Es gab Kakao und belegte Brötchen. Immer montags beginnt er seinen Unterricht mit einem Frühstück und der Frage: Was habt ihr am Wochenende gemacht? Oft, sagt er, ist die Antwort der Kinder: Nichts. Oder: Fernsehen. Sie würden nicht raus in die Natur fahren, nicht ins Kino oder ins Museum gehen.

An diesem Vormittag vor fünf Jahren wollten die Kinder wie so oft nicht von sich sprechen, erinnert sich Inácio-Stech. Sie interessierten sich vor allem für sein Privatleben. Sie wussten, dass er aus Brasilien stammt, wo doch die besten Fußballer herkommen. Und sie wussten, dass er verheiratet ist, er trug ja einen Ehering. Wie seine Frau heißt, hätten die Kinder gefragt. Herr Inácio-Stech, haben Sie Kinder?

An diesem Morgen hatte Oziel Inácio-Stech sein zweites Coming-out, mit vierzig. Bei seinem ersten Coming-out, vor seinen Eltern in Brasilien, hatten die geantwortet: Wir lieben dich, Oziel, so wie du bist. Diesmal reagierte eine zwölfjährige Schülerin als Erste, sagt Inácio-Stech. Was, habe sie gerufen, Sie sind schwul? Das werde ich in der ganzen Schule rumerzählen. Kurz danach hätten viele gewusst, dass er mit einem Mann verheiratet ist. Dann brach die Pandemie aus, es gab kaum Präsenzunterricht.

Oziel Inácio-Stech hat Aktenordner, Briefe, ein Klassenbuch und Chat-Notizen geholt. Er sagt, es sei "bitter, einfach nur bitter", was seitdem passiert sei. Früher habe ihm das Malen geholfen. Aber gemalt hat er seit Monaten nicht. "Ich lebe in einem Albtraum", sagt er.

Der Albtraum begann im Frühjahr 2023

Der Albtraum begann, als die Pandemie im Frühjahr 2023 endete und die Kinder wieder Präsenzunterricht hatten. Oziel Inácio-Stech öffnet einen Aktenordner, zeigt das Protokoll einer Deutschlehrerin, die zusammen mit ihm am 5. Mai 2023 eine fünfte Klasse unterrichtete, wobei es dazu an diesem Tag gar nicht kam. "Y. machte Witze über Homosexuelle und zeigte respektloses und beleidigendes Verhalten Herrn Inácio Stech gegenüber", schreibt die Lehrerin im Protokoll. "Er ließ sich nicht beruhigen und spielte sich immer weiter auf. Y. wurde ausfallend."

Oziel Inácio-Stech habe das Gespräch mit dem Schüler gesucht, aber "Y. bäumte sich auf, bedrohte Herrn Inácio Stech körperlich und machte vor der gesamten Klasse weiterhin Witze über den Pädagogen", schreibt sie weiter. "Die Klasse war außer Rand und Band." Eine Kollegin holte schließlich Y. und einen weiteren Schüler, der aus einer libanesischen Familie stammt, aus der Klasse und beendete so den Vorfall, schreibt die Lehrerin, den sie als "bedrohlich" für ihren Kollegen bezeichnet. Die beiden muslimischen Schüler hatten immer wieder gerufen, Oziel Inácio-Stech sei "eine Familienschande", er werde "in der Hölle landen", er sei "eine Schande für den Islam".

Inácio-Stech ruft nach diesem Vorfall die Mutter des Schülers an. Sie bittet ihn, keine Anzeige zu stellen beim Jugendamt, sie befinde sich gerade in Trennung und wolle das Sorgerecht nicht verlieren. Inácio-Stech zeigt den Schüler nicht an. Zwei Wochen später wiederholt derselbe Schüler auf dem Schulhof vor Hunderten anderen Kindern seine Beschimpfungen, Inácio-Stech sei "ekelhaft", "kein Mann".

Seit diesen Zwischenfällen im Mai 2023 mobben ihn Schülerinnen und Schüler, setzen Gerüchte in Umlauf, beschimpfen ihn. Manche weigern sich, an seinem Unterricht teilzunehmen, weil er homosexuell ist. Sie lassen den Kakao und die belegten Brötchen stehen, mit denen er montags seinen Unterricht beginnt. Er sei "unrein", sagen die Kinder. Inácio-Stech hat alles protokolliert, man kann es nachlesen, in seinen privaten Notizen und im Klassenbuch. Jeden Vorfall hat er an die Schulleiterin und den Konrektor gemeldet.

"Der Islam ist hier der Chef"
Schüler der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit

Einmal fragen ihn Sechstklässler, wer bei ihm die Frau und wer der Mann sei. "Sie werden bestimmt gefickt", sagt ein Schüler. Die Schülerinnen und Schüler erzählen untereinander, er würde "Frauen hassen", er würde "Frauen töten". Und sie treten gegen die Tür, hinter der er unterrichtet, reißen sie auf, brüllen hinein, er sei eine Familienschande, schwul sein sei eklig. Der Konrektor, so steht es in den Aufzeichnungen von Inácio-Stech, habe ihm gesagt: Herr Inácio-Stech, Sie können zur Polizei gehen und eine Anzeige erstatten gegen die Eltern.

Die SZ hat die Schulleiterin und den Konrektor mit Fragen konfrontiert und um Auskunft gebeten, welche Maßnahmen die Schulleitung unternommen hat, um das Mobbing gegen Inácio-Stech zu unterbinden. Weder Schulleiterin noch Konrektor haben bis heute die Fragen beantwortet.

Einmal hat Inácio-Stech einen der Schüler zur Rede gestellt. Der Fünftklässler hatte die Unterrichtstür aufgerissen, homophobe Sprüche in den Klassenraum gerufen. Was das soll, habe er den Schüler gefragt, das sei ein Gewaltvorfall, den er protokollieren und der Schulleitung melden werde. Der Schüler, so steht es in seinen Aufzeichnungen, habe gesagt: "Du Schwuler, geh weg von hier. Der Islam ist hier der Chef." Noch am selben Tag, dem 19. November 2024, schildert Inácio-Stech im schulinternen Chatsystem dem Konrektor, was passiert ist und bittet diesen, Maßnahmen zu ergreifen. Bis heute hat der Vizeschulleiter nicht auf diese Nachricht reagiert, das lässt sich dem Chat-Verlauf entnehmen.

Inácio-Stech sitzt in seinem Wohnzimmer, umgeben von Zetteln, Ordnern, Heften. Er hat auch notiert, dass es Mitarbeitende gebe, die manche Schülerinnen und Schüler nicht mehr unterrichten wollten. Ein Mitarbeiter aus Israel habe die Schule verlassen, weil muslimische Kinder seine Arbeit wegen seines Jüdischseins boykottiert hätten. Das bestätigen zwei Lehrkräfte der Schule. Oziel Inácio-Stech ist auch jüdisch. Wissen das die Schüler? Er schüttelt den Kopf.

Es kam noch schlimmer

Seit mehr als einer Stunde redet er jetzt schon, dann weint er. "Ich hätte nie erwartet, dass ich so etwas in Deutschland erlebe", sagt er. Aber es kam noch schlimmer.

Inácio-Stech arbeitet seit einem Jahr mit einer Klassenlehrerin zusammen, mit der er nicht zurechtkommt. Sie werfe ihm etwa vor, sagt er und das sagen auch andere Lehrkräfte der Schule, dass er als pädagogische Unterrichtskraft die Kinder nicht nur in Mathematik unterrichte, sondern ihnen auch Videos der Bundeszentrale für politische Bildung zeige, zu Themen wie Antidiskriminierung und Antisemitismus. Inácio-Stech sagt, ja, er habe manchmal Filme gezeigt. Zum Beispiel einmal, nachdem die Schülerin einer fünften Klasse gesagt habe, der Islam werde siegen, bald würden Christen "zerstört werden". Er habe dem Mädchen daraufhin ein Video gezeigt, in dem Staatsformen wie Demokratie und Diktatur erläutert würden.

Die Klassenlehrerin habe davon erfahren und Inácio-Stech gebeten, das zu unterlassen. Es sei ihre Aufgabe, die Kinder in politischer Bildung zu unterrichten, er solle Mathematik und Rechtschreibung lehren. Er habe erwidert, dass der Videobeitrag wichtig und sinnvoll sei für die Kinder, da sie aus fundamentalistischen Familien kämen. "Ihr Männer", soll die Lehrerin erwidert haben, "wollt immer das letzte Wort für die Frau sagen."

Im Juni vergangenen Jahres sieht die Lehrerin, wie er neben zwei Schülern sitzt, "zu nah", wie sie später der Schulleitung sagt. Das kann man einem Protokoll der Schulleitung entnehmen, das der SZ vorliegt. Was war passiert? Inácio-Stech war von einem Ausflug mit ein paar Schülerinnen und Schülern zurückgekehrt. Auf dem Weg in die Schule hatte ihn ein Schüler aus Damaskus gefragt, warum golden glänzende Steine in Bürgersteigen eingelassen sind. Inácio-Stech beschloss, dem Schüler eine Arte-Reportage über Stolpersteine zu zeigen. Er rückte drei Sitzkissen zusammen, setzte sich in die Mitte, zwischen den Schüler und eine Schülerin, die auch wissen wollte, was Stolpersteine sind. Sie schauten die Reportage, auf Inácio-Stechs Handy. Plötzlich trat die Klassenlehrerin in den Unterrichtsraum, sagte, sie suche etwas, und ging wieder raus. So erinnert sich Inázio-Stech an die Szene.

Ein paar Tage später wird Inácio-Stech von der Schulleitung zu einem Gespräch gebeten. Es gibt davon ein Protokoll der Schulleiterin. Inácio-Stech zeige eine "zu große Nähe" zu den Schülerinnen und Schülern, wird ihm vorgehalten. Die Schulleiterin sagt in diesem Gespräch, er müsse sich "schützen" vor "eventuell entstehenden Gerüchten" an der Schule. In demselben Gespräch sagt der Personalrat der Schule, die Schule werde "von überdurchschnittlich vielen Kindern aus traditionellen Elternhäusern" besucht, "was die Akzeptanz von Diversität erschweren" könne. Es gebe "gesellschaftliche Unterschiede beim Klientel der Carl-Bolle-Grundschule in Bezug auf die Wahrnehmung von Nähe zwischen männlichen und weiblichen Lehrkräften". Inácio-Stech möge sein pädagogisches Konzept, "das an einer anderen Schule vielleicht anders bewertet würde", der "sozialen Ausgangsvoraussetzung" an der Carl-Bolle-Grundschule anpassen.

Oziel Inácio-Stech ist bis heute geschockt darüber. Anstatt ihn zu schützen, "maßregeln sie mich, lassen sie mich fallen", so empfindet er die Belehrungen der Schulleitung und des Schulrats.

"Ich bin es doch, der hier diskriminiert wird"
Oziel Inácio-Stech

Im vergangenen Herbst nimmt sich Oziel Inácio-Stech dann einen Anwalt. Der sammelt Stellungnahmen von sieben Kolleginnen und Kollegen ein, die sich darin alle schockiert äußern über die Vorwürfe. Inácio-Stech sei nie einem Kind zu nah gekommen, gibt eine Lehrerin dem Anwalt zu Protokoll. Eine andere Lehrerin weist darauf hin, dass er sogar selbst die Unterrichtseinheit "Mein Körper gehört mir" initiiert hat, um die Schüler gegen übergriffiges Verhalten zu wappnen. Inácio-Stech zeigt die Klassenlehrerin an, wegen übler Nachrede.

Ein paar Tage später, es ist September 2024, erstattet die Schulleitung bei der Polizei dann Anzeige gegen Inácio-Stech, nicht wegen des Vorwurfs zu großer Nähe, sondern weil der Lehrer die Fürsorgepflicht verletzt habe. Er habe zum Beispiel die Kleidung der Schüler kommentiert, er habe Kinder zum Essen oder Trinken genötigt. Die Vorwürfe sind von Eltern an die Schulleitung herangetragen worden. Inácio-Stech sagt, er habe ein Mädchen, das mit bauchfreiem Oberteil an einem kalten Tag zur Schule gekommen sei, darum gebeten, sich wärmer anzuziehen. Und einem Schüler, der während des Fastenmonats Ramadan im Unterricht müde und blass gewesen sei und über Kopfschmerzen geklagt habe, habe er geraten, etwas Wasser zu trinken.

Erst forderte die Schulleitung Inácio-Stech auf, seinen Unterricht bis zur Klärung der Anzeige im Flur abzuhalten: "Zu seinem eigenen Schutz". Inácio-Stech protestiert dagegen, einige Lehrkräfte stehen ihm bei. Er unterrichtet weiter im Klassenzimmer. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen werden eine Schülerin und ein Schüler befragt. Beide entlasten ihn, streiten ab, dass er ihnen zu nahe gekommen sei oder dass er sie gezwungen haben soll zu essen oder zu trinken. Das Verfahren wird eingestellt, bis heute sind die Eltern der Schülerinnen und Schüler nicht über die Einstellung informiert worden.

Detlev Thietz leitet das Referat der Schulaufsicht Mitte, er ist für die Carl-Bolle-Grundschule zuständig. In den vergangenen Monaten hat er mit Schulleitung, Lehrkräften und Inácio-Stech Gespräche geführt. Er weigert sich, Inácio-Stech zu rehabilitieren, obwohl das Verfahren gegen ihn eingestellt worden ist. Stattdessen belehrt der Referatsleiter den Lehrer in einem Brief, der der SZ vorliegt. Die Vorwürfe der Schulleitung, die zu der Anzeige geführt hatten, könne er "nicht mehr zweifelsfrei bewerten". Deshalb "belehre" er Oziel Inácio-Stech "vorsorglich", dass er von ihm einen "professionellen Umgang mit Schülerinnen und Schülern erwarte unter Wahrung einer körperlichen und emotionalen Distanz". Ebenso erwarte er von ihm "die Vermittlung einer offenen und nicht diskriminierenden Weltanschauung". Ein seltsamer Satz, findet Inácio-Stech, "ich bin es doch, der hier diskriminiert wird".

Darüber hinaus, schreibt der Referatsleiter, sei die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens "kein Freispruch". Daher werde Inácio-Stech nicht rehabilitiert. Er fordert den Lehrer außerdem auf, sich nicht an die Presse zu wenden, da dies "den Schulfrieden" gefährden könne.

Die Direktorin der Schule und der Konrektor wollen sich gegenüber der SZ nicht äußern, ebenso wie der Referatsleiter. Auch die Pressestelle der Bildungssenatorin reagiert nicht auf Fragen.

Die, die schweigen sollen, sprechen

Die, die reden müssten, schweigen also. Aber die, die schweigen sollen, weil Reden sie den Job kosten könnte, sprechen mit der SZ. Einzige Bedingung: Keine Namen, keine Details, die Rückschlüsse auf ihre Identität gewähren könnten.

Mehrere Mitarbeitende der Carl-Bolle-Grundschule haben mit der SZ geredet. Alle haben nur lobende Worte für Inácio-Stech. Eine Kollegin sagt: "Er war immer eine Bereicherung, zuverlässig, ein guter Kollege, ein geduldiger, ruhiger Pädagoge und ein Vorbild für die Kinder."

Manche Aussagen sind eher düster. "Der Islam zieht an unserer Schule immer weitere Kreise", sagt eine Lehrkraft. "Wir Deutschen gehen hier unter." Sie habe vor Kurzem ein Gespräch mit der Schülerin einer vierten Klasse geführt, das Mädchen hatte den Unterricht gestört. Im Gespräch habe das Mädchen gesagt, es möge "die Deutschen" nicht. Die Lehrkraft habe ihr gesagt, dass sie doch auch deutsch sei. Ob sie lieber in einem anderen Land leben wolle, weil es "die Deutschen" ja nicht mag? Das Mädchen habe geantwortet: Ihr könnt doch gehen, wir brauchen euch hier nicht.

Eine andere Lehrkraft sagt, dass viele Lehrkräfte den Druck an der Schule nicht mehr aushalten, dass sie sich krankschreiben lassen. Eltern würden den Lehrkräften Kleidungsvorschriften machen. Ein Vater habe sie gebeten, einer Kollegin auszurichten, sie solle nicht so kurze Röcke anziehen. Dass die Schulleitung ihn gemaßregelt habe, anstatt ihn "in Schutz zu nehmen und zu verteidigen", sei ein Beweis dafür, dass die Elternschaft den Umgang bestimme mit Menschen, die nicht ihrem traditionellen Menschenbild entsprächen.

"Verheerend" sei das Verhalten der Schulleitung im Fall von Inácio-Stech gewesen, er sei ein geschätzter Kollege, der bei den Kindern sehr beliebt gewesen sei und immer auf professionelle Distanz zu den Kindern Wert gelegt habe. Das bestätigt auch eine weitere Lehrkraft. Ein Schüler sei in Inácio-Stechs Unterricht "förmlich aufgeblüht, ich habe gesehen, wie happy der war, dass er was lernt".

Eine Lehrkraft sagt, sie habe Inácio-Stech davon abgeraten, den Kindern zu sagen, dass er homosexuell ist, er hätte sich "schützen" müssen. "Guck dir doch an, wo du arbeitest", habe sie ihm gesagt. Sie selbst schützt sich auch, zum Beispiel, wenn sie von den Kindern bestürmt werde, ob sie für oder gegen Israel sei. "Dann wechsle ich das Thema. Auf so ein Gespräch lasse ich mich erst gar nicht ein."

Eine andere Lehrkraft, mit Migrationshintergrund, redet abends bei einer Tasse Tee. Sie sagt, man müsse den Schulkindern zeigen, dass es in Deutschland "ganz normal ist, dass Männer Männer lieben und Frauen Frauen". Sie führe oft Gespräche mit Schülerinnen und Schülern, die mit ihr über Inácio-Stech reden wollten. In eurer Kultur ist es vielleicht verboten, sage sie dann, aber hier in Deutschland nicht. Sie sagt: "Wo leben wir denn, dass das an einer Berliner Schule im Jahr 2025 nicht angenommen wird, dass ein Lehrer schwul ist?"

"Ihr könnt doch gehen, wir brauchen euch hier nicht"
Schülerin der Carl-Bolle-Grundschule in Berlin-Moabit

Wie es jetzt weitergeht? Oziel Inácio-Stech weiß es nicht. Seit ein paar Monaten ist er in psychotherapeutischer Behandlung, manchmal hat er Panikattacken. Er schaut aus dem Fenster. "Das Leben geht weiter", sagt er, "ich werde das schaffen."

Er wartet jetzt erst mal auf einen Reha-Platz. Danach möchte er wieder unterrichten, die Kinder brauchen mich doch, sagt er. Und er möchte tolerant bleiben, möchte "jetzt nicht zum AfD-Wähler werden". Sein Traum: "Dass wir als Pädagogen in der Schule es schaffen, dass diese Kinder eine andere Welt entdecken."

Eine Kollegin hat über Oziel Inácio-Stech gesagt: "Jedes Kind kann von Glück reden, Oziel Inácio-Stech als Pädagogen zu haben." Es gibt auch Kinder, die das genau so empfinden. Der Schüler aus der vierten Klasse zum Beispiel, der große Schwierigkeiten hatte zu lesen. Auch ihm sei Deutsch am Anfang wahnsinnig schwergefallen, hatte Inácio-Stech dem Jungen gesagt. Und wenn man geflohen sei, wie der Junge, falle es einem noch schwerer. "Du brauchst einfach ein bisschen mehr Zeit."

Also hat Inácio-Stech sich Zeit für den Schüler genommen. Hat mit ihm das Lesen geübt, Woche für Woche. Und plötzlich begann der Junge zu lesen, immer flüssiger. Sie, Herr Inácio-Stech, habe der Junge gesagt, haben mir geholfen, dass ich lesen kann. Dann sagte der Schüler ein Wort, das der Lehrer an seiner Schule schon lang nicht mehr gehört hat: "Danke."

Der Text erschien am 19.05.2025 zuerst auf der Website der SZ. © Süddeutsche Zeitung GmbH, München. Nachveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Süddeutsche Zeitung Content.

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