Über Achtsamkeit

"Ein Gedanke, der sich selbst beobachtet"

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Anne Paschen
Anne Paschen

BERLIN. (hpd) Zum Inhalt der Sunday Assemblys gehören auch Vorträge, die sich mit ethischen Themen, mit Fragen nach dem Sinn des Lebens, mit dem Staunenswerten über unsere Welt beschäftigen. Bei der Berliner “Sunday Assembly” Ende Oktober sprach Anne Paschen über Achtsamkeit.

Der hpd veröffentlicht im Folgenden den Vortrag im Wortlaut:

 

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich etwas Wertvolles zum Thema Achtsamkeit beizutragen habe. Ich bin schließlich keine Zen-Meisterin, kein buddhistischer Mönch. An manchen Tagen bin ich schon mit zwei Minuten Stillsitzen überfordert. Mein Geist ist wie ein Nachrichten-Ticker über den die Gedanken mit 200 km/h hinwegrasen. Vorwärts und rückwärts. Manchmal unverständlich, manchmal so laut, dass es alles andere übertönt. Aber wenn ich tief durchatme, diesen nervösen Endlosstrom vorbeiziehen lasse und lausche, dann ist da auch ein Gedanke, der sagt: gerade deshalb.

Achtsamkeit muss man nicht meistern, um darüber zu sprechen. Achtsamkeit kann man nicht meistern. Man kann sie lernen. Und dazu muss man nicht nach Indien in einen Ashram fahren und sich ins Delirium fasten. Man muss nicht an Karma glauben und an das Göttliche das uns vermeintlich erschafft und lenkt. Man muss sich nicht eine halbe Stunde in irgendeinem Berliner Hinterhofszimmer, im Dunst von Räucherstäbchen, vor einem Plastikbuddha, den Hintern plattsitzen, um achtsame Momente und innere Ruhe zu finden.

Alles was es braucht, ist ein einziger achtsam wahrgenommener Gedanke. Ein Gedanke, der sich selbst beobachtet. Eine Empfindung, die wir aktiv und ohne Wertung wahrnehmen. Wenn ihr eure Aufmerksamkeit auf die Sitzfläche eures Stuhls unter euren Hintern lenkt, dann habt ihr gerade Achtsamkeit praktiziert. Herzlichen Glückwunsch.

Das ist die Achtsamkeit über die ich reden kann, weil sie mein Leben verändert hat. Weil sie mein Leben lebbar gemacht hat. Und erlebbar. Eine achtsame Wahrnehmung, macht die Welt erlebbar. Die Welt, die die meiste Zeit nur im Berufsverkehr an uns vorbeirauscht.

Manchmal wollen wir diese Welt aber gar nicht achtsam wahrnehmen. Sie ist laut und verlangt uns viel ab. Um sie auszuhalten, ihren Lärm zu dimmen oder ihn zu übertönen, haben wir uns viele interessante Dinge ausgedacht. Einige davon sind gefährlich, schädigen uns und die Menschen, die uns nahestehen. Andere sind sehr unterhaltsam. Wenn mir der Sitznachbar in der U-Bahn zum Beispiel auf die Nerven geht, versorgt mich mein SmartPhone wahlweise mit der Stimme der besten Freundin, mit lautstarker Musik oder mit dem gesamten literarischen Schaffenswerk der Weltgeschichte um mich abzulenken. Das ist schön. Technologie ist aufregend, finde ich, und Ablenkung hat natürlich ihre Daseinsberechtigung.

Aber manchmal ist es besser hinzusehen, wo wir wegsehen wollen. Hinzuhören, wo wir unsere Ohren verschließen möchten. Dann lernen wir nicht nur etwas über unseren Sitznachbarn. Sondern – und das ist viel wichtiger – über uns selbst. Wir lernen, dass uns seine Stimme an diese fiese Grundschullehrerin erinnert und wir, obwohl wir vielleicht anderes behaupten würden, noch nicht über das hinweg sind, was sie in der vierten Klasse Gemeines zu uns gesagt hat. Vielleicht lernen wir, dass wir schlecht geschlafen haben und die kleine Verspannung unter der linken Schulter an unserer schlechten Laune Schuld hat und nicht der Nachbar. Dann wäre es nämlich die bessere Idee, zu planen, sich eine neue Matratze zu kaufen, statt diesem Typen zu sagen, dass er seine blöde Klappe halten soll. Vielleicht lernen wir aus seinem Genörgel aber auch, dass er die gleichen Sorgen hat wie wir. Und so jemandem kann man schwer böse sein.

Wenn man von jeder kleinen Achtsamkeitsübung jedoch tiefschürfende Erkenntnis über sich und seine Umwelt erwartet, wird man schnell enttäuscht sein. Sehr viel wahrscheinlicher ist es, dass man die Augen schließt, seine Sinne öffnet und die eigenen Gedanken über einem hereinbrechen, die man wie einen dreckigen Geschirrturm aufgestapelt und ignoriert hat, bis sich diese fiese, pelzige Schicht drauf bildet, die so übel riecht und die man so schwer wieder abkriegt. Aber auch das ist okay. Ich persönlich habe davon profitiert mir dieses Chaos anzusehen. Hinzusehen. Damit vertraut zu werden. Darin zu navigieren. Denn das Leben ist Chaos und man gewöhnt sich besser gleich dran, dass es aus einer ganzen Menge dreckigen Geschirrs besteht, anstatt darüber zu verzweifeln, dass es sich schneller ansammelt, als man es abgewaschen bekommt.

Aber auch diese leistungsgesellschaftliche geprägte Idee, dass man mit Hilfe von Achtsamkeit irgendwie besser klarkommt im Leben; das kurze Dasein auf diesem Planeten besser organisiert und optimiert kriegt, ist nur ein positiver Nebeneffekt dieser Praxis. Klar hilft es allen Beteiligten, wenn z.B. ein Gewalttäter lernt, seine Wut rechtzeitig in sich zu spüren – achtsam wahrzunehmen also – und dann, statt jemanden zu schlagen, dreimal tief durchatmet und seine Gefühle wie fließendes Wasser an sich vorbeiziehen lässt. Das besondere und das Berührende an Achtsamkeit ist jedoch, dass man überhaupt spürt, dass man ein lebender, atmender Organismus ist. Und aus der Perspektive eines gewaltigen Universums in dem unvorstellbare physische Kräfte walten, betrachtet, ist das doch ziemlich abgefahren – nicht immer zwar, Montag morgens zum Beispiel, oder wenn man die Stromrechnung aus dem Briefkasten holt. Dann wäre es mir mitunter auch lieber, wenn mich das Universum mit einem Bewusstsein verschont hätte. Aber so im Allgemeinen …

Nennt mich ruhig ein bisschen verklärt, aber dass wir überhaupt hier sind, wissen wie Regen klingt, wie sich Sonne auf der Haut anfühlt und Gras riecht und ja – auch was Schmerz ist, ist etwas ganz Besonderes.

Wenn wir den Bus verpassen, oder eine halbe Stunde beim Zahnarzt warten müssen und, statt uns zu ärgern, dabei dem Murmeln der Großstadt lauschen, beobachten wie sich das Licht in einem Regentropfen bricht, oder dabei zusehen, wie liebevoll ein Vater sein Kind auf den Knien wippen lässt und wie sorglos und fröhlich es dabei gluckst, dann sind wir zwar immer noch dreißig Minuten zu spät, aber wir haben auch zwanzig Minuten länger gelebt. Intensiver gelebt. Achtsam gelebt. Dort gelebt, wo wir es gar nicht in unserem engen Terminkalender eingeplant hatten. Vielleicht haben wir uns auch nur einen Moment lang verbunden und friedvoll gefühlt, aber von diesem Moment zehren wir. Für diese Momente leben wir. Oder vielmehr: weil wir leben, erfahren wir diese Momente. Und je achtsamer wir mit uns und dem, was um uns herum passiert sind, desto mehr können wir von diesen Momenten haben.

Das Ziel von Achtsamkeit ist nun aber nicht, eins mit allem zu sein. Ich persönlich bin die meiste Zeit nicht mal eins mit mir selbst. Wir praktizieren Achtsamkeit um Leid zu mindern. Unser eigenes und das, was wir im Schmerz manchmal auf anderen abladen. Vielleicht muss ich nicht immer etwas Gemeines sagen, wenn ich mich übervorteilt fühle. Vielleicht brauche ich gar keinen Zweitwagen, nur weil der Nachbar einen hat. Vielleicht brauche ich neue Nachbarn. Vielleicht war ich mir selbst kein guter Nachbar, kein guter Freund. Vielleicht mache ich so viele Überstunden, weil ich glaube, dass mein Vater recht hatte, als er mich einen Nichtsnutz genannt hat. Auf diese Ideen komme ich aber nur, wenn ich mir einen Moment Zeit nehme, um hinzuhören, statt dem nachzugehen, was mir mein Kopf und die Gewohnheit diktieren.

Aber es geht nicht nur darum, was meine Gedanken sagen. Auch mein Körper ist in ständiger Interaktion mit meinem Geist. Meistens wollen wir davon gar nichts so genau wissen, weil so ein Körper manchmal ein ganz schöner Spielverderber sein kann. Eigentlich ist er aber eher ein Teamplayer. Er sagt uns, dass wir zu viel gearbeitet haben. Erinnert uns daran, dass Schlafen nicht nur eine lästige Zeitverschwendung ist, die das Bruttoinlandsprodukt drückt. Unser Bauch sagt uns nicht nur, dass das Mittagessen schon zwei Stunden zu spät dran ist, sondern auch dass es unser Gegenüber nicht gut mit uns meint. Mit heftigem Herzklopfen bestätigt es uns, dass wir etwas Mutiges tun, oder etwas, das wir lieber lassen sollten – ich gebe zu, da ist unser Herz manchmal ein bisschen fehleranfällig, aber dafür haben die meisten von uns ja noch einen Kopf.

Unser Körper sagt uns auch, wenn wir genug Alkohol hatten und dass sich innere Leere nicht mit Schokolade füllen lässt – wobei das jetzt aber nicht heißt, dass man es nicht trotzdem versuchen könnte! Gerade diese kleinen Schokoladenhütchen mit dieser Minzkaramellfüllung kommen ziemlich nah dran an eine spirituelle Erfahrung … aber auch Schokolade schmeckt einfach besser, wenn man sie achtsam genießt und nicht tafelweise in sich reinschiebt, weil einem der Chef kurz vor Feierabend noch eine reingewürgt hat.

Wir finden Glück und Erfüllung auch in Zerstreuung, in unachtsamen Dingen, in Momenten, in denen wir uns fallenlassen und unsere Gedanken ruhig dahinfließen oder wild und ungebremst zwischen den Ohren umherfliegen. Wir müssen, und können gar nicht permanent achtsam sein. Aber es ist gut, dieses Werkzeug für die Baustelle unseres Geistes und unseres Lebens parat zu haben. Es kann Dinge erschaffen, wo es sonst nur darum geht Dinge einzureißen. Bringt uns bei loszulassen, wo wir so verzweifelt festhalten. Öffnet unseren Geist, wo wir gelernt haben ihn zu verschließen. Ersetzt Gleichmut mit Neugierde. Lässt uns die Welt wie ein Kind, wie ein Entdecker und Forscher betrachten. Immer wieder aufs Neue. Und dafür muss man nicht einmal verreisen oder in eine einsame Berghütte ziehen. Manchmal muss man dafür nicht mal vom Sofa aufstehen.

 


Die nächste Berliner Sunday Assembly findet am 30. November statt. Thema wird "Altruismus ohne Moralin" sein.