"Zwei Welten treffen aufeinander"

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Im Haus der Bundespressekonferenz. Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) „Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren". Montag, 13. Dezember 2010, Schiffbauer Damm 40. Ein gemeinsames Thema und zwei voneinander unabhängige Termine waren der Anziehungspunkt für Menschen, um auch aus weit entfernten Teilen der Bundesrepublik anzureisen. Nein, nicht wirklich alle 800.000 der von der Heimerziehung Betroffenen, so hoch wird die Anzahl in der alten Bundesrepublik geschätzt.

Es waren auch nicht die 30.000 dort, von denen mindestens angenommen wird, dass sie finanzielle Ansprüche aus den nun ausgelobten "Töpfen" beanspruchen. Es waren rund 30 eher ältere Menschen, die sich durch schwarze T-Shirts, dem Aufdruck "Ehemalige" in Orange und einer Träne im Auge an diesem sonnigen Wintertag von allen anderen abhoben und damit das Thema signalisierten.

Eines wurde an diesem Tag vollkommen klar. Weder ist die gewünschte Einmalzahlung als Pauschale verabschiedet worden, noch eine für alle gültige monatliche Rente. Der Runde Tisch Heimerziehung (RTH) hat sich zu einer individuellen Bewertung durchgerungen. Weiter zu warten ist also nicht die Lösung. Es kommt nichts von alleine. Jeder Einzelne ist aufgefordert, seinen Antrag zu stellen, kurz und "unbürokratisch", so die Empfehlung des RTH und dafür soll eine neutrale Stelle zuständig werden. Wir werden weiter berichten und nun zurück zum Ort der Aufklärung:

1. Akt

Teil 1: Haus der Bundespressekonferenz, 10:30 Uhr, Großer Saal: "ABSCHLUSSBERICHT Runder Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren", so steht's auf dem Umschlag geschrieben, darin 66 plus 41 Seiten Anhänge.

Auf dem Podium die Vorsitzende und heutige Moderatorin, Dr. Antje Vollmer. Hier wird berichtet über Schwierigkeiten der Vorgehensweisen am RTH, bis diese zu dem schließlich bekannten Ergebnis führten. Nicht nur, dass es Leid und Unrecht, Regel- und Rechtsverstöße gegeben hat - nicht nur nach heutiger Sicht, sondern sogar nach damaliger Rechtsauffassung - und dass in der Heimerziehung die Grundrechte von Kindern und Jugendlichen vielfach verletzt wurden. Gesprochen wird auch über "... die Anerkennung des begangenen Unrechts durch alle Verantwortlichen und die Bitte um Verzeihung sowie eine generelle Auseinandersetzung mit ehemaligen Heimkindern, Hilfe bei dem Auffinden ihrer Akten und bei dringenden aktuellen Notlagen können sofort und unmittelbar stattfinden." Wir hören, die Ansprüche aus den Geschehnissen der 50er und 60er Jahre allerdings seien zu Beginn des Runden Tisches generell verjährt gewesen. "Eine Lösung, die auf geltendem Recht fußt", so Anke Vollmer, "war daher von vornherein nicht denkbar. Es galt, einen Weg zu finden", der für alle beschwerlich und doch gefunden wurde. Die Worte fliegen dahin.

Teil 2: Dr. Hans -Siegfried Wiegand, an der Seite von Antje Vollmer. Als Vertreter ehemaliger Heimkinder brachte er selbst im Juli 2010 einen Lösungsvorschlag ein. Heute seine Worte zusammengefasst: "Wir haben viel erreicht, wenn auch nicht alles." Dazu gehört, dass dieser Fond nicht nach oben hin "gedeckelt" ist, für Zustifter aus Verbänden und Stiftungen offen ist und als sehr wesentlichen Punkt: die in Heimen sexuell missbrauchten Kinder aus dem Fond des Runder Tisch sexueller Kindesmissbrauch entschädigt werden sollen.

Teil 3: Vertretung der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Johannes Stücker-Brüning, Geschäftsführer der Caritaskommission der DBK: Alle, die an der damaligen Heimerziehung beteiligt waren, müssen sich an der Lösung beteiligen und die muss umfassend, möglichst adäquat und schnell geschehen. Die Heimerziehung der frühen Bundesrepublik hat den christlichen Wertvorstellungen zutiefst widersprochen, sie war auf das bloße Funktionieren von Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Wir bedauern als Kirchen und Wohlfahrtverbände zutiefst, dass Menschen, die uns anvertraut wurden, "schlimme Erfahrungen machen" mussten und wollen helfen, die Stigmatisierung aufzuheben. So seine Worte.

Teil 4: Georg Görrissen, Jurist, langjährig parteiloser Landespolitiker in Schleswig-Holstein, Landrat im Kreis Segeberg, Beauftragter des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren Schleswig-Holstein, kommt den Wünschen der Konferenzleitung nach, formuliert kurz und bündig, dass die Bundesländer einstimmig hinter dem Abschlussbericht stehen, weist auf den Teil hin, der Entschuldigungen für erfahrenes Leid und Unrecht bedauert, Wiedergutmachung vorträgt und dass erstmals überhaupt eine fundierte Darstellung der Heimerziehung entstanden ist.

  

Vorhang. Blumen. Kein Beifall. Die Versammlung löst sich auf.

Am Fuß der Treppe sammeln sich Mikrophone, Kameras und Lichter in Erwartung auf Antje Vollmer und sie kommt dann moderat 'rüber.

  

Andere Medien und Teams nutzen die Möglichkeit der seltenen Gäste: Aufgelöste Gesichter halten tapfer stand, sprechen über Kindheit und Heute, Angst, Frust, Lust ... , den Alltag des Lebens. Das ist ein Thema, das für einige der Betroffene gleich nach ihrer Geburt begann, nämlich dann, wenn sie als Säugling in die Betten staatlicher oder kirchlicher Heime und von der Mutter wegkamen. Andere wurden in Kinderjahren von Jugendämtern genommen oder auch zum Teil im Einvernehmen des Erziehungsberechtigten im "guten Sinne" zur Ausbildung staatlicher Fürsorge oder christlicher Obhut übergeben. Der Möglichkeiten gab es zu viele. Aber kaum eine Chance, ihr vor der Volljährigkeit wieder zu entgehen. Nur einigen ist es gelungen und irgendwann stand jeder dann unvorbereitet - so lauten immer wieder die Berichte - plötzlich schlicht vor dem eben noch verriegeltem Eisentor. Draußen. Freiheit. Einige standen nun dort ausgestattet zumindest mit einem kleinen Geld. Ausweis, Zeugnisse, Papiere? Wer wusste schon von einer Lohnsteuerkarte? So waren die meisten "Draußen" mit leeren Händen, Schwielen, blauen Flecken und manche mit einem Seefahrtsbuch in der Tasche.

2.Akt

Gleiches Haus, 11:45 Uhr, Raum 4.

 

1. Bild: "Jetzt reden wir". Ein Slogan, der sich hier bewahrheitet. Schreibende mit Notizblöcken oder Mikrophonen, Fernsehkameras, Fotografen gleichermaßen, die Gäste finden nicht alle Stühle, stehen oder sitzen auf dem Boden. Ingrid Matthäus-Maier, Moderatorin der Pressekonferenz ehemaliger Heimkinder, benennt Kinderarbeit, Zwangsarbeit, Missbrauch, dauernde Demütigung, Zwangsernährung oder den Entzug von Nahrung als das, was die Presse in dieser massiven Form erst an den Tag gebracht hat und wozu im November 2008 der Deutsche Bundestag über den Petitionsausschuss den Runden Tisch eingerichtet hat.

Irritiert und unruhig zu werden, so Matthäus-Maier, begann sie anfänglich bei einem formalen Grund, als den Opfervertretern am Runden Tisch nicht erlaubt wurde, juristischen Beistand bei sich zu haben. Die Begründung lautete damals, auf der anderen Seite wären ebenfalls keine Juristen. Sie konnte das nicht so einfach glauben und stellte fest: Das stimmt nicht, natürlich sind dort Juristen, nur hatten sie am RTH eine andere Funktion. Schauen wir uns die 19 Teilnehmer genauer an: Den Vorsitz hat Frau Antje Vollmer, eine evangelische „Spitzentheologin“, drei Stimmen haben die ehemaligen Heimkinder, und nun die Juristen, vorsichtig gezählt, ergibt acht. Das sind die Fakten dazu.

Zurück in die Pressekonferenz

2. Akt, 2. Bild: Monika Tschapek-Günter, Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder: Der RTH hat Rechts-Expertisen in Auftrag gegeben. So wurden Fehler bei der Heimeinweisung aufgedeckt, aber einmal im Heim, gab es kein Entrinnen und keine Chance, Gehör zu finden. Das wurde im Laufe der Konferenzen immer klarer und es tauchte am RTH die Frage auf, wie kann man das neutralisieren und bagatellisieren? So jedenfalls ist unser Empfinden und nun versucht man mit einer Minimal-Entschädigung, das Thema vom Tisch zu bekommen.

2.Akt. 3. Bild: Jürgen Beverförden, ehemaliges Heimkind, ständiger Vertreter am RTH, war von 1949 bis 1960 in verschiedenen Heimen. Ganz klar, der entscheidende Punkt ist der kürzeste, wir konnten die Einmalzahlung von 54.000 Euro nicht erreichen. Für ältere Betroffene wäre das eine Erleichterung, eine richtige Entschädigung gewesen. Aber man hat uns klar gemacht: Wenn ihr den RTH platzen lasst, gibt es keinen Weg mehr in das Parlament. Das wäre das Aus gewesen. Das wollten wir nicht. So haben wir zugestimmt.

Auch Beverförden hebt die Zusage hervor, dass die in Heimen Missbrauchten den Entscheidungen vom RT Kindesmissbrauch gleichgestellt werden und als weiteren Punkt, dass die während der Heimarbeit von den Institutionen nicht geleisteten Sozialabgaben nun aus dem zu gegründenden „Rentenfond“ fließen werden. Bremerförden berichtet, dass Zwangsarbeiter-Rente und Missbrauchsentschädigung individuell zu stellen sind, das gehöre in das zugestimmte Paket des RTH hinein.

2. Akt, 4. Bild: Klaus Dickneite, 20 Jahre stationärer Heimaufenthalt. Dickneite nimmt Stellung aus der Sicht Behinderter, die am RTH überhaupt ignoriert wurden. Die Eingaben wurden rundweg abgelehnt mit der Begründung, dafür habe der RTH keinen Auftrag. Ein Skandal!, so ruft er lebhaft und fordert die Nicht-Anrechnung der Geld- bzw. Sachleistungen anderer Leistungsträger und macht klar, dass Behinderte von ihrer Lebenszeit früher als andere auf eine stationäre Aufnahme zurückgreifen müssen und die, bitteschön, möchten sie mitbestimmen können.

Es kommen Gedanken und Überlegungen von allen Seiten und hier im Raum kennt bisher keiner auch nur annähernd den Abschlussbericht. Eine Analyse wird kommen.

2. Akt, 5. Bild: Robert Nieporte, Rechtsanwalt, ist zur Pressekonferenz von Trier nach Berlin gekommen und vertritt zahlreiche Heimkinder in Einzelverfahren. „Wenn man sich diesen umfangreichen Bericht anschaut, dann sieht man klar, hier ist gearbeitet worden, die Frage ist allerdings, von wem. Die Beteiligung der Opfer dabei ist sehr gering gewesen, sechs Personen, und die blieben ohne juristischen Beistand.“ Nieporte nennt das ein unübliches Verfahren, bemerkt, dass man lediglich mit der Heimerziehung der 50er und 60er Jahre einen Bereich herausgegriffen und zum Part der Untersuchung benannt hat. „Die Heime in der DDR sind ebenso unberücksichtigt geblieben wir die Behinderten.“

Jursitisch ist viel zu sagen. Gesondert folgt deshalb ein ausführlicher Bericht zur Pressekonferenz „Jetzt reden wir“. Dabei wird dem Thema „Opferrente“ besonderer Raum gegeben und der Frage: Was ist nun zu tun?

Monika Tschapek-Günter dazu: „Ich habe so viel Energie hierfür aufgewandt, ich mache weiter“ und damit gibt sie die Atmosphäre der von Ingrid Matthäus-Maier geführten Pressekonferenz weiter. Mit einer Pressestimme möchte ich hier enden: „Sie wissen doch noch gar nicht, wie Ihre Forderungen beantwortet werden. Wogegen wollen Sie denn jetzt klagen?“

Evelin Frerk

Anhänge:

1. Ehemalige Heimkinder geben keine Ruhe - Reflexion zu zwei Pressekonferenzen 13.12.2010 von Manuel Koesters.

2. „Wir haben es satt, entmündigt zu werden“ - Ein kurzes Gespräch aufgezeichnet von Katharina Micada.
 

„Eine weitere Demütigung“ (13.12.2010)

Heimkinder kämpfen um Entschädigung (11. Dezember 2010)

Für.Sorge.Erziehung in Glückstadt (4. Oktober 2010)

„Es muss ein Miteinander sein“ (23. August 2010)

Die Hölle mit Seitennischen (15. Juli 2010)

Heime unterm Hakenkreuz – Verdrängt? (2. Juli 2010)

Anwälte legen Mandat für Heimkinder nieder (30. Juni 2010)

Geschichte einer geraubten Kindheit (2. Juni 2010)

„Prügelnonne“ fährt zum Kirchentag (11. Mai 2010)

hpd podcast 11/2010 (Zur Heimkinder-Demo) (22. April 2010)

Heimkinder gehen auf die Straße (Video) (15. April 2010)

Seit Jahren verhöhnt (Video) (13. April 2010)

„Prügel-Nonne“ fordert Kirchen heraus (30. März 2010)

„Jetzt reden wir!“ (17. März 2010)

„Gipfel der Scheinheiligkeit“ (24. Februar 2010)

Von Staat und Kirchen verschaukelt (1. Februar 2010)

Heimkinder fordern 25 Milliarden Euro (2. Juni 2009)

Kindesmisshandlungen in Irland. Und Deutschland? (25. Mai 2009)

Ehemalige Heimkinder düpiert (2. April 2009)

1. Sitzung des Runden Tisches „Heimerziehung" (17. Februar 2009)

„Runder Tisch" für ehemalige Heimkinder (27. November 2008)