Rezension

Siegen heißt, den Tag überleben

Die mit dem Concordia-Preis für Menschenrechte ausgezeichnete österreichische Politikwissenschaftlerin Petra Ramsauer ist seit 20 Jahren als profunde Kennerin der Region Krisen- und Kriegsberichterstatterin im Nahen Osten. Im vorliegenden Buch analysiert sie fachkundig, tiefgründig und mit viel Empathie die Entwicklungen der letzten Jahre in Syrien und beschreibt, wie ein schonungsloser Luftkrieg ein Volk und Land brutal zerstört, wie Hunger als Waffe eingesetzt wird, wie Terrornetzwerke entstanden sind und wie ein Volk zwischen den Fronten zerrieben wird. Es geht ihr dabei weniger um die Kampfhandlungen und den Frontverlauf als um die verheerenden Folgen des Krieges und der Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung.

"Wer während des Krieges nach Syrien fährt, kommt verändert zurück….. Die Ereignisse dort führen vor Augen, zu welch bestialischen Gräueltaten Menschen fähig sind. Aber sie zeigen auch, wie viel Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen in Menschen stecken kann" (S. 10).

"Mit friedlichen Protesten gegen Präsident Baschar al-Assad wollten die Menschen "nur" Syrien verändern. Daraus wurde ein Bürgerkrieg, der die Welt veränderte" (S. 11). Ohnmächtig wird die Weltöffentlichkeit tagtäglich Zeuge neuer Gräueltaten und menschlicher Katastrophen, mindestens 500.000 Opfer forderte der Krieg bis jetzt, bis zu einer Million könnten es schlussendlich sein. Zum überwiegenden Teil ist daran die brachiale Kriegsführung des syrischen Regimes und seiner Verbündeten – ab Herbst 2015 vor allem Russland mit seinen Luftangriffen – schuld. Während in Syrien immer stärker ein Stellvertreterkrieg der Großmächte tobt, in dem auch immer mehr verschiedene – zum Großteil djihadistische - Gruppierungen mitmischen, ficht die Zivilbevölkerung Tag für Tag einen immer aussichtsloser werdenden Kampf ums nackte Überleben.

Cover

Petra Ramsauer beschreibt die geschichtliche Entwicklung Syriens und die Auswüchse von Assads Gewaltregime, das mit eiserner Hand und brutalen Foltermethoden jeden Versuch zur Erlangung von mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Demokratie unterdrückte. Im Februar 2011 beschmierten 19 Buben eine Mauer ihrer Schule in Dara’a mit Parolen gegen Baschar al-Assad; sie wurden verhaftet und brutal gefoltert, was einen Aufstand entfachte, der zum Zündfunken der Revolution wurde - wobei die Hoffnung in der Luft lag, dass "der Westen" moderate Kräfte unterstützt. Was nicht geschah und dazu führte, dass al-Kaida Kämpfer sowie zahlreiche weitere djihadistische Extremisten ins Land strömten, die islamistische al-Nusra–Front und – ausgehend vom Irak - den Islamischen Staates (IS) bildeten und ein paralleles Netzwerk an Extremistengruppen entstehen ließ. Aus der "Freien Syrischen Armee", die in den Anfängen des Aufstandes 2011 als bewaffneter Flügel der politischen Opposition auftrat, wurde eine chaotische Allianz völlig unterschiedlicher Gruppierungen, die in einem Wildwuchs von zehntausenden Milizen ohne Struktur und Kommandokette unkoordiniert kämpfen und nicht selten in den Sog von Korruption driften und die Zivilbevölkerung ausbeuten (S. 140).

In 8 Haupt- und zahlreichen Unterkapiteln zeichnet die Autorin – belegt mit 121 Quellen - das Schreckensbild eines Landes, in dem unbeschreibliche Brutalität und undurchschaubares Chaos herrscht, beides sich von Jahr zu Jahr verschlimmernd. Hunderttausende Zivilisten wurden in den umkämpften Gebieten - belagert und abgeschnitten von der Außenwelt – zu Gefangenen des Krieges, finden keinen Zugang zu humanitärer Hilfe und leben in permanenter Todesangst ohne Möglichkeit zu fliehen, da alle Nachbarstaaten die Grenzen längst geschlossen haben.

In den Kapiteln "Was von Syrien bleibt" und "Auf der Suche nach der Zukunft Syriens" versucht Petra Ramsauer aufzuzeigen, was an eigenen Kräften im Land sowie an politischer und wirtschaftlicher Hilfe international nötig sein wird, das Land zu stabilisieren, wenn der IS und Assad Geschichte sind. Es steht zu befürchten, dass danach ein weiterer großer Konflikt beginnt; zwischen Säkularen, die eine Demokratie nach westlichem Vorbild und Dschihadisten, die einen islamischen Gottesstaat errichten wollen. Nach Ansicht zahlreicher Experten droht hier die nächste Revolution, u.a. auch, weil es der dschihadistischen Nusra-Front gelungen ist, sich im Alltag der Menschen zu verankern. Völlig offen ist auch, wie sich die Wünsche der Kurden, die eine Hauptlast im Kampf gegen den IS tragen, nach mehr Autonomie, bzw. einem eigenen Staat, verwirklichen lassen werden.

"Siegen heißt, den Tag überleben" ist kein leicht zu lesendes Buch! Einerseits, weil die verwirrende Fülle vieler beschriebener Einzelereignisse sowie die Undurchschaubarkeit der komplizierten Verhältnisse und komplexen Vorgänge es nicht leicht machen, den Hauptsträngen der jeweiligen Entwicklungen zu folgen und andererseits, weil die Not und das beschriebene Leid der Bevölkerung aufwühlen und keine distanzierende Lektüre zulassen. Petra Ramsauer ist mit dieser Reportage ein Buch gelungen, das erschüttert und klar macht, dass dieser Krieg uns alle angeht!

Petra Ramsauer: "Siegen heißt, den Tag überleben - Nahaufnahmen aus Syrien", © 2017, Verlag Kremayr & Scheriau, Wien, ISBN 978-3-218-01060-3, 207 Seiten