Interview mit Matthias Katsch vom "Eckigen Tisch"

"Uns läuft unsere Lebenszeit davon"

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Matthias Katsch, Sprecher der Opfervereinigung "Eckiger Tisch"
Matthias Katsch vom "Eckigen Tisch"

Bei der gerade zu Ende gegangenen Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz wurde der sogenannte "Synodale Weg" beschlossen: Es soll Reformen geben. Außerdem war der Missbrauchsskandal erneut ein zentrales Thema: Das Entschädigungsmodell soll weiterentwickelt werden. Matthias Katsch, Sprecher der Opfervereinigung "Eckiger Tisch", stellte auf der Konferenz ein Empfehlungspapier vor, das eine Einmalzahlung von 300.000 Euro pro Fall vorsieht. Bei geschätzten 3.000 Opferanträgen würde sich für die katholische Kirche daraus eine Summe von einer Milliarde Euro ergeben. Der hpd hat mit Katsch gesprochen.

hpd: Sie haben auf der Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz, die gerade in Fulda stattfand, ein von einer Arbeitsgruppe im Auftrag der Bischofskonferenz erstelltes Empfehlungspapier vorgestellt, das deutlich höhere Entschädigungen für die Opfer des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche vorschlägt. Als Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" haben sie eine pauschale Zahlung von 300.000 Euro pro geschädigter Person gefordert. Wie kam es zu dieser Summe?

Matthias Katsch: Der Einstieg in unsere Argumentation ist die Feststellung, dass es nicht um die Anerkennung des Leides geht, sondern um die Übernahme von Verantwortung für Unrecht, das durch die Täter und durch die Institution den Opfern zugefügt wurde. Weiterhin sollen sich die als Schmerzensgeld zu verstehenden Entschädigungen nicht allein auf die Tat oder die Taten beziehen, sondern die Folgen im Leben der Betroffenen in den Blick nehmen. Diese Lebensbeeinträchtigungen zeigen sich auf vielen Ebenen: Persönlich, wenn es um Beziehungen, Partnerschaft, Vertrauen und Sexualität geht, gesundheitlich im Hinblick auf häufige psychische Beeinträchtigungen, aber auch körperliche Folgen, etwa im Bereich Herzerkrankungen. Schließlich muss man die Folgen im Berufsleben der Betroffenen sehen, die oft in ihrer Arbeitsfähigkeit eingeschränkt sind und ihre Potentiale nicht in der Weise ausschöpfen können, wie es ohne den sexuellen Missbrauch in der Kindheit möglich gewesen wäre. Außerdem spielen die jahrelangen Auseinandersetzungen mit der Kirche bei der Betrachtung auch eine Rolle, die oft als sehr belastend erlebt wurden.

Die Höhe der vorgeschlagenen Entschädigungen orientiert sich an anderen Opferrentenmodellen, etwa für politische Verfolgte in der DDR, die Kriegsopferversorgung und dem allgemeinen Opferentschädigungsgesetz. Die dabei gezahlten monatlichen Renten liegen in Bereichen von etwa 300 bis 800 Euro. Wir schlagen nun vor, auf der Basis von monatlich 500 Euro für fiktive 50 Jahre Lebenszeit nach der Tat eine pauschale Entschädigung von 300.000 Euro zu leisten. Die andere Möglichkeit wäre nach einer Bewertung und Einordnung der individuellen Tatfolgen Entschädigungen in einem Bereich von 40.000 bis 400.000 zuzuerkennen. Das bedeutet natürlich einen erheblich höheren Aufwand. Und es müsste dann eine Öffnungsklausel nach oben geben, damit im Einzelfall auch wesentliche höhere Folgebeeinträchtigungen geltend gemacht werden können.

Sie lehnen eine Einzelfallbeurteilung und eine daran orientierte Zahlung jedoch ab, obwohl diese unter Umständen auch höher ausfallen könnte. Warum?

Die Sorge ist, dass eine Einzelfallbeurteilung zu neuen Belastungen für die Betroffenen führen würde. Die Erfahrungen mit Begutachtungen, die viele gemacht haben, sind nicht gut. Ein System, das ganz, ganz genau die einzelnen Folgen bewerten will, muss dafür einen erheblichen Aufwand betreiben. Das ist teuer und kostet Zeit. Und stiftet im Zweifel neuen Unfrieden. Eine Befriedung erreicht man eher mit einer ausreichend hohen Pauschalsumme. Außerdem zeigen Beispiele aus den Entschädigungslösungen, die in Irland oder den Niederlanden gefunden wurden, dass am Ende ohnehin eine Tendenz zur Mitte bei den zugesprochenen Entschädigungen zu beobachten ist; das heißt, die meisten Zahlungen liegen im mittleren Bereich zwischen den gewählten Eingangs- und Obergrenzen. Dann kann man sich auch gleich auf eine einheitliche Summe einigen.

Wie beschreiben Sie die Reaktionen der Anwesenden der Vollversammlung auf Ihre Forderung?

Bei den Nachfragen und Diskussionsbeiträgen wurde deutlich, dass die Bischöfe die Prinzipien, denen wir gefolgt sind, nachvollziehen können. Natürlich gibt es Bedenken bei der Höhe der vorgeschlagenen Entschädigungen, Sorgen, wie diese aufgebracht werden können und wie das gegenüber den Laien in der Kirche zu vertreten sei. Ich glaube aber, dass neben Problemen im Detail auch die Chance gesehen wurde, eine Befriedung für die Opfer und für die Kirche an dieser Front zu erreichen und zugleich ein starkes Signal in die Gesellschaft zu senden, endlich diese Verbrechen und ihre massiven Folgen für das weitere Leben der Betroffenen ausreichend ernst zu nehmen.

Die deutschen Bischöfe haben sich grundsätzlich für eine Weiterentwicklung des Entschädigungsmodells ausgesprochen und wollen ihr Anerkennungssystem überarbeiten. Gab es noch konkretere Zusagen? Sind Sie damit zufrieden?

Es gibt den Auftrag, mit einer Arbeitsgruppe aus den Empfehlungen ein beschlussfähiges Modell zu erarbeiten. Ich habe verstanden, dass in dieser Arbeitsgruppe auch weitere Bischöfe mitarbeiten sollen. Außerdem hat die Vollversammlung beschlossen, dass möglichst rasch ein Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz geschaffen werden soll, der dann auch die Anstrengungen bei der Aufarbeitung und bei der Prävention begleiten kann.

Wie bewerten Sie die Erfolgschancen der Forderungen der Empfehlungen insgesamt?

Ich bin vorsichtig optimistisch, dass wir mit dem eingeschlagenen Weg an das Ziel kommen, dass Betroffene bald eine substantielle Entschädigung erhalten können. Der Wille dazu ist klar geäußert worden, die Schwierigkeiten liegen jetzt – wie fast immer – in den Details der Ausgestaltung. Sicher wird es eine Herausforderung, nicht nur für die Bischöfe, sondern genauso für die Ordensgemeinschaften und die Kirche insgesamt in Deutschland, diese Entschädigungsregelungen zu finanzieren. Da wird es auf innerkirchliche Solidarität ankommen.

Gibt es noch etwas, das sie sich von der Deutschen Bischofskonferenz gewünscht hätten beziehungsweise wünschen?

Ich wünsche mir nach dieser Woche, die ich als eine qualitative Veränderung, einen großen Fortschritt im Umgang miteinander erlebt habe, dass wir mehr Gelegenheiten zum miteinander Sprechen haben werden. Bei dem ebenfalls diese Woche diskutierten "Synodalen Weg", der innerkirchlich beschritten werden soll, besteht die Gelegenheit, die von den Wissenschaftlern der MHG-Studie identifizierten Themenfelder und Risikoaspekte im Hinblick auf Anfälligkeit der Strukturen der Kirche für Verbrechen des sexuellen Kindesmissbrauchs durch Kleriker gründlich zu diskutieren. Dazu wünsche ich Mut und langen Atem und biete die Expertise von Betroffenen wie mir an. Für die Betroffenen aber wünsche ich mir, dass die jetzt angestrebte Entschädigungslösung zügig angegangen wird. Uns läuft die Zeit, unsere Lebenszeit davon.

Wie bewerten Sie die Fortschritte der katholischen Kirche in der Aufarbeitung und Prävention von Kindesmissbrauch insgesamt?

Ich finde, die Anstrengungen auf der Ebene von Bistümern und vieler Ordensgemeinschaften für eine Verbesserung beim Kinderschutz, die Initiativen gerade von vielen engagierten Laien für die Präventionsarbeit, hat inzwischen Vorbildcharakter für andere Institutionen und Einrichtungen in Deutschland. Bei der Aufarbeitung geht es deutlich zäher voran, das Ringen darum geht nun schon fast zehn Jahre. Der Weg in die Akten und Archive war lange verbaut. Ich hoffe, dass wir jetzt am Anfang einer tiefgreifenden und gründlichen Aufarbeitung durch unabhängige Kommissionen in den Bistümern stehen. Die Vereinbarungen zwischen dem UBSKM (dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Anm. d. Red.) der Bundesregierung und den Bischöfen dazu sind weit gediehen. Ich erwarte aber, dass die Ordensgemeinschaften ebenso einbezogen werden. Vielleicht können wir dann irgendwann sagen, Kirche in Deutschland ist beim Thema sexuelle Gewalt, insbesondere gegen Kinder und Jugendliche, nicht mehr nur Teil des Problems, sondern ein wichtiger Teil der Lösung.

Herr Katsch, vielen Dank für das Gespräch.