DRESDEN. (hpd) Der Autor Martin Winckler (in Algerien als Marc Zaffran geboren) lässt sehr einfühlsam seine Erfahrungen als Mediziner, der Sterbehilfe leistet, in diesen Roman einfließen. In verschiedenen Ebenen lässt er seine Protagonisten zu Wort kommen.
Die letzten Gespräche, die er mit den Sterbewilligen geführt hat, aufgezeichnet in kleinen Heftchen, geben Einblicke in die persönlichen Umstände und Lebenssituationen der einzelnen Menschen. Die Rahmenhandlung bildet das Lebensende dieses Arztes, der seine eigene Geschichte und die damit verbundenen vielen Geheimnisse nur einem bestimmten Menschen zur Kenntnis geben möchte.
Der Autor Martin Winckler (Jahrgang 1955) kam mit seinen Eltern nach Israel und 1962 nach Frankreich. Er studierte dort Medizin und legte 1982 sein Staatsexamen an der medizinischen Fakultät in Tours ab. 1983 eröffnete er seine eigene Praxis, in der er auch Abtreibungen durchführte. In seinen Romanen verarbeitete er die Erfahrungen als Arzt, aus einer Zeit, in der Abtreibung und Sterbehilfe Tabuthemen waren. neben autobiografisch gefärbten Texten verfasste er medizinische Publikationen und Essays, in denen dem Verhältnis von Arzt zu Patient eine bedeutende Rolle zukommt.
Seinem jüngsten Roman “En Souvenir d’André” (2012; dt. “Es wird leicht, du wirst sehen”, 2013) stellt Winckler einen Rat Kurt Vonneguts voran: “Fangen Sie so nah am Schluss an wie möglich.” Und tatsächlich, am Ende schließt sich der Kreis zum Beginn, nachdem man mehr über einige Schicksale von Menschen erfahren hat, als einem lieb ist. Man hat den Eindruck, die ganze Zeit Mitwisser geheimer und sehr persönlicher Informationen zu sein. Der Autor lässt einen sozusagen mit dem anfangs Unbekannten zusammen das Haus des alten Arztes betreten, sitzt neben ihm, während der todkranke Mann seine Lebensgeschichte und die seiner Patienten preisgibt.
Der Erzähler, ehemaliger Klinikarzt Emmanuel Zacks, ist durch eine “Zufälligkeit der Gene” mit einem perfekten Gedächtnis ausgestattet. Dies ermöglicht ihm neben seiner besonderen Sensibilität gegenüber den Patienten, besonders gut zuhören zu können. Seine Lebensgeschichte beginnt, als er durch den Tod seiner Katze ausgelöst, die Berufung zum Arzt fühlt und diesen Weg einschlägt. Als er den Tod seiner Eltern erlebt, beginnt seine maßlose Wut über die Zustände in Krankenhäusern – zu wenig Personal - zu Wenige, die zuhören können - zu wenig Zeit und zu Wenige, die sich darüber überhaupt Gedanken machen.
Seinen Eltern kann er noch nicht helfen. Noch ist er nicht in der Lage, sie von ihrem Leid zu befreien. Noch hat er Angst, etwas Falsches zu tun. Im Laufe der Zeit kommt er über verschiedene Stationen mit Schwangerschaftsabbrüchen und Schmerztherapien in Kontakt. Das Mitfühlen der Schmerzen seiner Patienten lässt schon bald Konflikte mit der Institution Krankenhaus aufkeimen. Er erträgt es nicht, seinen Patienten belanglose, nichtssagende und falsche Beschwichtigungen über deren Zustand zu vermitteln. Er fühlt direkt mit ihnen und möchte ihnen echte Hilfe zuteil werden lassen. Die nahezu menschenverachtenden Verhältnisse in den Sterbeabteilungen sind für ihn unerträglich.
Als Schmerzarzt kann er vielen Patienten mit den unterschiedlichsten Methoden und Medikamenten helfen, jedoch “es gab Schmerzen, die allem standhielten.” Für sie gab es keine Hilfe. Er musste feststellen, dass man in Frankreich zu dieser Zeit nicht einmal laut über Sterbehilfe nachdenken durfte, während bereits in anderen Ländern Europas dies erlaubt oder zumindest geduldet wurde. Er empfand die Heuchelei diesbezüglich widerwärtig.
In der täglichen Praxis stellte er fest, dass Ärzte nach Gutdünken entschieden. Einerseits wurden Angehörige von verunfallten, im Koma liegenden Patienten, dazu überredet, einer Organentnahme zuzustimmen und auf der anderen Seite wurden Menschen, die ihr Leben nur noch als Schmerz und untragbare Belastung empfanden unbedingt am Leben erhalten, notfalls auch in einer psychiatrischen, geschlossenen Abteilung. Ärzte entschieden, wie sie es brauchten. “Leben retten war die Devise der Ärzte, Töten ein Privileg ihrer Kaste.” Er übt harte Kritik an dem Gesundheitswesen und der Arbeit mancher Ärzte, die ihren Beruf zur Machtausübung benutzen.
“Die Chefärzte, die die Verabreichung der letzten Cocktails tagsüber unschuldigen Studentinnen und nachts erschöpften Krankenschwestern überließen, verkündeten, die Hand auf dem Herzen, laut und vernehmlich, das Leben sei heilig und müsse gemäß dem hippokratischen Eid respektiert werden, die Ethik des heilenden verbiete seinen Abbruch.” ( S. 49) Natürlich verweigerten die gleichen Ärzte einem Bankier oder einem Angehörigen eines politisch Hochstehendem die letzte Spritze nie, aber irgendein Anonymer “durfte” in irgendeiner Form weiterleben, ob er wollte oder nicht.
Er bemühte sich bei seiner Arbeit im Schmerzteam, den Patienten Linderung zu verschaffen, ihnen ihre Angst zu nehmen,und zu ermöglichen, dass sie die letzte Zeit ihres Lebens in Würde und Frieden mit ihren Angehörigen verbringen konnten.
Eines Tages bittet ihn sein ehemaliger Ziehvater und Kollege Andrè, der an einer unheilbaren Krankheit litt und dessen Körper bereits unübersehbar davon gezeichnet war, um Hilfe. Er formulierte seinen Wunsch sehr eindeutig, lässt aber dem jungen Arzt die Möglichkeit des Abwägens. Erst nachdem beide die berechtigte Angst vor dem letzten Schritt einerseits durch Erzählen und andererseits durch Niederschreiben ausgeräumt hatten, konnten beide diesen Schritt gehen.
Nach diesem ersten Mal bekam er immer wieder Anrufe, die ihn um die gleiche Hilfe baten – en souvenir d‘André, die letzten Worte Andrès als Erbe und Souvenir.
Obwohl niemand davon wußte, verbreitete sich sein Ruf unter suchenden Patienten. Er fand Möglichkeiten, den Leidenden eine Zeit zu schenken, ohne sie zu betäuben und “ohne sie daran zu hindern, sich lebendig zu fühlen”. Da sein Gedächtnis nicht abschalten kann, wird es ihm irgendwann zuviel und er beginnt die Geschichten, die ihm erzählt werden, aufzuschreiben. Es entsteht eine Sammlung von Lebensgeschichten, die einerseits alltäglich aber eben doch sehr einzigartig sind und teils lebenslang gehütete Geheimnisse und dramatische Liebesbeziehungen preisgeben. Aber leicht machen es sich seine Patienten mit der Entscheidung ihr Leben zu beenden nicht. Und leicht fällt auch dem Arzt die Entscheidung nicht, seinen Patienten dabei zu helfen. Jedoch am Ende der Erzählung ist man immer geneigt zu sagen, ja jetzt ist genug gelitten worden.
Unzähligen Menschen hilft er, das Leben in Würde zu beenden. Emmanuel Zacks outet sich mit der Bemerkung “ich glaube, dieses Leben ist alles, was ist, und sonst gibt es nichts” als Atheist. Das Leiden empfindet er als sinnlos und entwürdigend. Und noch eins: Kinder zeugen sieht er nur als Mittel an, “nach einem Ansatz von Ewigkeit zu streben”, indem die Gene in die nächste Generation gerettet werden. Aus diesem Grund verweigert er sich eigenen Kinder und kann doch nicht verhindern, dass aus einer tragischen Liebesbeziehung, letztlich ein Nachkomme existiert.
Der Arzt Zacks, inzwischen selbst unheilbar krank, bringt auch seine Geschichte zu Papier. Wincklers Nachdenken über das Thema Sterbehilfe in seiner Kompexität und Kontroverse bringt das Zuhören und Aufzeichnen, als den Tod überdauernde Lebenserinnerungen, als gute Möglichkeit des Abschiednehmens ins Spiel. Die bleibende Unsicherheit und die Qual, mit niemandem über seine Arbeit reden zu können, offenbaren sich in dem Gespräch kurz vor seinem Tod. Resigniert stellt er fest:“Letzten Endes haben wir nur das. Geschichten. Sie helfen uns zu leben und bereiten uns auf den Tod vor.” Sein innerer Zwiespalt wird deutlich, wenn er sagt: “Nicht ich habe mich dazu entschieden, diesen Männern zu helfen. Sie haben sich für mich entschieden.” Zacks bezeichnet es als “Freiheit des Individuums”.
Auch wenn der Roman so heißt, so leicht ist es in der Realität eben nicht. Anfang und Ende des Lebens sollten nicht zur Beliebigkeit werden. Dies klingt auch keinesfalls in diesem Roman an irgendeiner Stelle an. Nicht nur in Frankreich wird seit Jahren über Sterbehilfe debattiert, auch in Deutschland ist dies Bestandteil unzähliger Auseinandersetzungen. Kirchen und Christdemokraten fordern immer wieder strenge Verbote. Martin Winckler versucht in seinem Roman klar zu machen, dass es nur eine einzige Antwort geben kann, und die ist vom Willen der Patienten abhängig. “Die Frage ist nicht, ob ich ohne Arme und Beine, unter ständiger Morphiumzufuhr und mit einem aus dem Magen ragenden Röhrchen weiterleben kann”, sondern “ob ich auf diese Weise weiterleben will!” (S.50)
Der Roman ist packend geschrieben und man kann sich in die einzelnen Figuren gut hineinversetzen. Es sind berührende und sensibel erfasste Geschichten von Menschen, die uns jederzeit auf der Straße begegnen könnten. Und am Ende hält er noch eine Wendung bereit, die wiederum die von Zacks propagierte Sinnlosigkeit des Lebens widerlegt. Ein sehr empfehlenswertes Buch.
Winckler, Martin; Es wird leicht, du wirst sehen; Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2013, 159 S.; € 16,95; ISBN 978–3–88897–863–0