Europawahl 2014

Warum ist Europa wichtig? (7)

Die GegnerInnen von „One of Us“ traten sehr gut vernetzt und bestens vernehmbar auf. Europaabgeordnete unterschiedlicher Parteien hatten sich mit NGOs wie European Parliamentary Forum on Population and Development (EPF), IPPF EN, European Women’s Lobby (EWL), Centre for Reproductive Rights (CRR), European Humanist’s Federation, DSW (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung) zusammengetan.

Ist eine solche Vernetzung selbstverständlicher EU-Alltag oder wie erleben Sie als erfahrene Netzwerkerin die Entwicklungen?

In Brüssel sind die NGOs und die Europaabgeordneten, die sich für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte einsetzen, gut vernetzt und gut informiert. Auf der nationalen Ebene in den EU-Mitgliedsländern ist das leider noch nicht gleichermaßen der Fall.

Die fanatischen AbtreibungsgegnerInnen haben es geschafft, viele Menschen an der Basis zu mobilisieren, nicht nur für die EBI, sondern auch anschließend gegen die erwähnten EP-Berichte. Der Estrela-Bericht und der Zuber-Bericht wurden gekippt, nachdem sie mit konzertierten E-Mail-Kampagnen an Europaabgeordnete attackiert wurden. Beim Lunacek-Bericht waren diese Attacken nicht erfolgreich: ILGA Europe, der Dachverband der Lesben-und Schwulenverbände, hat seine Mitgliedsorganisationen mobilisiert und ein breites Bündnis zur Unterstützung des Lunacek-Berichts zusammengebracht, um Europaabgeordnete aufzufordern, für den Bericht zu stimmen. In Zukunft werden hoffentlich auch Frauenorganisationen es schaffen, ihre Mitglieder und BündnispartnerInnen gleichermaßen erfolgreich zu mobilisieren, wenn es um die Rechte und Selbstbestimmung von Frauen geht.

 

In der EU gibt es doch eine recht klar festgeschriebene und fortschrittliche Haltung zur reproduktiven und sexuellen Gesundheit, oder muss das jedes Mal neu diskutiert werden? Und um welche Gelder geht es eigentlich?

„One of Us“ geht es um die EU-Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, derzeit der einzige Bereich der EU-Politik, wo konkret finanzielle Mittel für diese Bereiche zur Verfügung gestellt werden. Die EU hat hier schon lang eine klare Position, die sich an dem Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz zu Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) orientiert, ebenso wie an den Millenniumsentwicklungszielen, insbesondere Ziel 5 zur Müttergesundheit. Das Aktionsprogramm der ICPD ist ein weltweiter Konsens, der vor 20 Jahren von den UNO-Mitgliedsstaaten beschlossen wurde, und der die Gesundheit und die Menschenrechte von Frauen als zentral für Bevölkerungspolitik anerkennt.

Die EU ist weltweit eine wichtige Unterstützerin von Maßnahmen für Müttergesundheit im Globalen Süden, wo noch immer täglich 800 Frauen wegen mangelnder sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung sterben. Eine Streichung der Mittel in diesem Bereich würde die Situation noch verschlechtern und weitere Menschenleben kosten.

 

Ist so eine EBI eine formale Angelegenheit, bei der sich die Europäische Kommission und das Parlament beschäftigen müssen oder sehen Sie reale Gefahren für Rückschritte?

Wir werden sehen, wie die Stellungnahme ausfällt, die die Europäische Kommission bis zum 28.5.2014 abgeben muss. Es ist schwer vorstellbar, dass die Kommission sich von dem internationalen Konsens des ICPD-Aktionsprogramms abwenden wird; insbesondere nachdem die Weltgemeinschaft erst kürzlich bestätigt hat, wie wichtig seine Umsetzung im Rahmen einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung und Armutsbekämpfung ist.

 

Lässt sich das anhand der Anhörung erkennen? Wie wurde dort reagiert?

Grégor Puppinck hat in der Anhörung angekündigt, dass die EBI erst der Anfang einer Bewegung sei. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament sollten sich also auf weitere Initiativen gegen sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, sowohl in Europa als auch im Rest der Welt, gefasst machen.

Die Argumentationslinien der radikalen Abtreibungsgegner lassen nicht immer gleich erkennen, was ihre wirkliche Agenda ist. Es ist wichtig, dass alle AdressatInnen ihrer Botschaften über die Hintergründe gut informiert sind. Ohne diese Aufklärungsarbeit besteht die Gefahr, dass rückschrittliche Positionen durch irreführende Argumentationen Mehrheiten finden können.

 

Sind die "One of Us"-Leute eine Ausnahme oder ist das eine neue, sich verbreitende Form der Agitation der Konservativen?

Sie sind eine Ausnahme in dem Sinn, dass sie nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft repräsentieren. Sie sind eine neue Form der Agitation in dem Sinne, dass sie gut vernetzt und gut organisiert sind und damit, trotz ihrer geringen Anzahl, eine große Mobilisierungskraft haben und politischen Einfluss ausüben können.

Da sie europaweit gut vernetzt sind und auch von erfahrenen Gruppen aus den USA unterstützt werden, müssen wir mit weiteren Attacken und Instrumentalisierungen von konsensfähigen Themen rechnen.

Die spanische Platform Citizengo, die ultrakonservative Petitionen in sieben Sprachen verbreitet, die deutsche „Freie Welt“ und Eucheck.org, die französische „Manif pour tous“-Bewegung und „One of Us“ haben mit 80.000 bis 200.000 Emails gegen die Berichte im Europaparlament mobilisiert. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der Lobby-Büros von ultrakonservativen Gruppen in Brüssel verfünffacht.

 

Welche nächsten Etappen zu reproduktiver und sexueller Selbstbestimmung und zum Thema Gewalt gegen Frauen stehen auf Ihrer europäischen Tagesordnung?

Einiges wird davon abhängen, wie die Mehrheiten im Parlament und wie die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission aussehen werden. Je nachdem werden Rückschritte verhindert werden müssen oder es wird möglich sein, Schritte nach vorn zu gehen.

Zum Thema Gewalt gegen Frauen steht nach wie vor aus, dass die Europäische Kommission eine schon lang angekündigte und von den Mitgliedsstaaten und dem Parlament geforderte Strategie und einen Aktionsplan erstellt. Die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ des Europarates (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) durch alle EU-Mitgliedsstaaten und die EU als Institution haben hohe Priorität. Die Konvention wird am 1.8. 2014 in Kraft treten, aber bisher haben erst fünf EU-Mitgliedsländer ratifiziert und die Europäische Kommission hat sich noch nicht für eine Ratifizierung der EU ausgesprochen.

 

Warum ist es wichtig, am 25. Mai zur Europawahl zu gehen?

Weil wir so mitentscheiden können, wer uns bei Entscheidungen in der EU vertritt. Die deutschen Europaabgeordneten haben einen starken Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im EP, da Deutschland das Land mit den meisten EinwohnerInnen ist und dadurch mit den meisten Abgeordneten. Bei der Abstimmung zum Estrela-Bericht zum Beispiel spielten die deutschen CDU-Abgeordneten eine wichtige Rolle. Hätten sie anders abgestimmt, wäre der Bericht nicht gekippt. Viele von ihnen sind sicher keine radikalen GegnerInnen von sexuellen und reproduktiven Rechten und hätten womöglich anders abgestimmt, wenn sie nicht so einseitig nur von den radikalen AbtreibungsgegnerInnen ge-lobbied worden wären.

Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es hier nicht nur um sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung geht. Die ultrakonservativen Gruppen vertreten eine Weltsicht, die mit demokratischen Werten schwer vereinbar ist, z.B. in Bezug auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in Bezug auf Religion.

Nach der Wahl wird es wichtig sein, das Europa-Parlament im Blick zu behalten, mit den deutschen Abgeordneten in Kontakt zu bleiben und sie daran zu erinnern, was wir als WählerInnen von ihnen erwarten - und dass es nicht akzeptabel ist, dass sie bei Abstimmungen die Position einer kleinen, aber gut organisierten Randgruppe der Gesellschaft vertreten.

 

Das Interview führte Corinna Gekeler

 

Am 28.04.2014 beschrieb der Guardian die verheerenden Folgen, die die Kampagne „One of Us“ weltweit für die ärmsten Frauen haben könnte.
 

 

Bislang in der Interview-Serie zur Europawahl erschienen:

Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)

Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik

Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst

Elfriede Harth: Katholische Feministin, die sich für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung engagiert

Conny Reuter: Generalsekretär von SOLIDAR, Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss  und bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform.

Rob Buitenweg:  Vorstandsvorsitzender des Nederlands Humanistisch Verbond und im Vorstand der European Humanist Federation (EHF).