BERLIN. (hpd) Am Samstag wurde Horst Groschopp in den Ruhestand verabschiedet. Das geschah - ihm angemessen - im Rahmen einer Tagung zu den Perspektiven des organisierten Humanismus. Bei der Tagung wurde deutlich, dass es innerhalb des Humanistischen Verbandes (HVD) fruchtbare Diskussionen über die zukünftige Ausrichtung des organisierten Humanismus gibt.
Der hpd dokumentiert hier die Rede, die Horst Groschopp bei der Tagung gehalten hat:
Im Vorfeld dieser Tagung habe ich in der Online Zeitschrift “humanismus aktuell” einen Text veröffentlicht, meinen letzten im Amt des Akademiedirektors. Es ist die Langfassung dieses Vortrages. Jetzt werde ich nur einige mir historisch wichtige Ausschnitte bringen.
Wir gehen deshalb zurück in die Jahre 1990 bis 1992, in denen die konzeptionellen Vorbereitungen auf die HVD-Gründung im Januar 1993 stattfanden. Dabei zeigt sich, dass damals ein Aufsatz eine wichtige Rolle spielte, der im Sommer 1990 in der 10. Ausgabe der Verbandszeitung diesseits stand, neben vielen anderen Grundsatztexten.
Der Artikel, dessen Humanismus-Teil übrigens erst ein Vierteljahr später in der 11. Ausgabe erschien, der 1. Teil behandelte die Freidenkergeschichte, ging auf einen Vortrag zurück, den der Autor im November 1989 auf dem Kongress der Weltunion der Freidenker in Charleroi / Belgien gehalten hatte. Gegenstand war der Zusammenhang von Freidenkertum und säkularem Humanismus. Das entsprach einem Denken, das den traditionellen Freidenkern einsichtig war.
Der Text stammte vom norwegischen Philosophen Finngeir Hiorth (1928–2012), zu diesem Zeitpunkt noch Dozent für Linguistik an der Universität Oslo. Ich selbst hatte schon vor einigen Jahren dessen Bücher gelesen, aber wohl nicht gründlich genug und nicht als Studie, die eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des “säkularen Humanismus” ermöglicht, der derzeit im HVD und in der “säkularen Szene” eine Renaissance erlebt, wegen seiner Affinität zu einem evolutionären Naturalismus. Es ist hier zu verweisen auf “Humanistische Grundsätze. Humanistischer Verband Bayern”, Nürnberg [2013], S. 18: “Säkulare Humanisten sind Atheisten oder Agnostiker”.
Als ich Hiorth las, das war etwa zu der Zeit, als die Humanistische Akademie Berlin schon gegründet war, also Ende der 1990er Jahre, wusste ich schlicht nicht, dass es dieser einseitige Humanismus war, den die Freidenker sich als Humanismus schlechthin aneigneten.
1990/92 forderten die Gründer des HVD die Abkehr von der traditionellen Freidenkerei, allerdings, werden die veröffentlichten Wortmeldungen betrachtet, zunächst nur halbherzig. Die erwartete “Wende” verband sich mit der Hoffnung, dass die aufzubauende humanitäre Dienstleistungspraxis einen modernen Humanismus und entsprechenden Verband befördern werde. Für einen Frei-Denker-Verband, der in seiner Geschichte auf den klaren Gedanken, artikulierte Vernunft und wissenschaftliche Programmatik setzte, war diese Vertröstung auf spätere Erkenntnisse schon eine arge Zumutung.
Genau diese Reihenfolge, ich vereinfache, erst Dienstleistungen, dann Definition von Humanismus, hatte Manfred Isemeyer verkündet und einige radikale Änderungen vorgeschlagen. Sie blieben denen unverständlich, die sich nur die traditionelle Freidenkerarbeit vorstellen konnten, die atheistische Aufklärung, und alles andere dem Staat (etwa Ethikunterricht), den Kommunen (etwa Kindergärten) oder dem Paritäter (alle Sozialarbeit) überlassen wollten. Isemeyers Kernbotschaft lautete: Die in einer sich weiter säkularisierenden Gesellschaft nötigen Wertvorstellungen seien nicht mit den Begriffen Freidenkertum, Atheismus und Agnostizismus zu fassen.
Ich möchte mit einer Anekdote illustrieren, wie fern noch Jahre später vielen im Verband die Idee war, ein eigenes Schulfach anzubieten, nämlich Lebenskunde, Schuldner- oder Konfliktberatung zu machen, etwa gar ein Hospiz zu betreiben. Im Jahr 2000 waren die Freien Humanisten Niedersachsen dem HVD beigetreten. Von ihnen ging 1988 die Hinwendung zum Humanismus aus, aber sie blieben im Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften, der sich 1991 aus dem Volksbund für Geistesfreiheit gebildet hatte.
Der Vorstand des HVD überlegte jedenfalls gerade, wie er es schaffen könnte, Lebenskunde, Kindergärten, Sozialarbeit, Patientenverfügungen usw. zu Bundesprojekten des HVD zu erklären. Wir sahen das als neuen Weg und hielten uns für mächtig innovativ. Da zog das Vorstandsmitglied aus Niedersachsen, nun Vollmitglied im HVD, einen Bundesbeschluss von Ende 1993 aus der Tasche, der liege bei ihnen im Büro herum, und fragte, ob das alles noch gelte.
Es waren genau die Beschlüsse schon einmal gefasst worden, die wir uns nun überlegten. Neulich las ich in einem Protokoll, der HVD NRW wolle mit Sozialarbeit beginnen. Das habe ich in früheren Zeiten schon oft gelesen und hatte selbst dort agitiert.
Zurück zu 1990: Rolf Stöckel, seit 1988 Präsident der Freigeistigen Landesgemeinschaft Nordrhein-Westfalen, dem späteren HVD NRW, 2000–2004 Bundesvorsitzender des HVD, brachte in dieser wichtigen 10. “diesseits”-Ausgabe die damalige Ungewissheit der Lage plastisch zum Ausdruck – und implizierte zugleich eine schicksalhafte Prognose. Er gab seiner Stellungnahme die Überschrift “Das Alte stirbt, das Neue ist noch nicht geboren.” Was jedoch passiert, wenn das Alte stirbt, aber das Neue nicht entsteht? Was für ein Humanismus ist dann überhaupt denkbar?
Jedenfalls dominierte 1990 die Konzeption des “säkularen Humanismus”. Es war die damalige Mehrheitsauffassung. Was darunter verstanden wurde brachte Jürgen Gerdes, damals Landessprecher der Freien Humanisten Niedersachsen, zum Ausdruck.
Die Überschrift seines Grundsatzartikels schrieb das freidenkerische Missverständnis, bezogen auf Humanismus, fort, und damit den bis in die Gegenwart andauernden Konzeptionskonflikt im HVD: “Humanismus – die Alternative zur Kirche! Lebensorientierung ohne Gott gefragt”.
Die säkularistische Engführung von Humanismus zu einem Gegenbild zur Kirche und als gottlose Kulturauffassung illustriert das fortwirkende Verständnis treffend. Die Botschaft lautet: Humanismus ist der weltanschauliche Ersatz für Religion.
Hiorth bestimmte Humanismus als ein an wissenschaftlichen Ergebnissen und einer nichtreligiösen Ethik orientiertes Säkularisierungsprogramm. Für die historische Einschätzung dieser Position ist erstens wichtig, dass der Autor damals noch gar nicht die Geschichte des Humanismus studiert hatte.
Dieses Studium begann er erst Anfang der 1990er Jahre. Er konzentrierte sich dabei auf den französisch- und englischsprachigen Humanismus und publizierte die Ergebnisse 1996 unter dem Titel “Humanismus – genau betrachtet”. An diesen Studien ist zweitens wichtig, dass Hiorth denjenigen Humanismus, der sich in Anknüpfung besonders an Herder als Humanität begreift, außen vor lässt.
Logischerweise kommt auch der Begriff der Barmherzigkeit, eine von den drei wichtigsten Bedeutungen von humanitas (neben der Menschenwürde und Menschenbildung) gar nicht vor. Damit war auch der Zugang verschlossen, die humanitären Dienstleistungen, die der HVD etwa in Berlin und später in Nürnberg aufbaute, als Arbeit am Humanismus zu interpretieren. Nächstenliebe, gar Humanismus als “Religion der Liebe” zu nehmen, ließ Freidenkern die Haare zu Berge stehen.
Hiorth vertrat stattdessen einen strikten “säkularen Humanismus”. Das war wohl auch biographisch bedingt. Seine Eltern waren in Indonesien als Missionare für die Heilsarmee aktiv. Er aber distanzierte sich während seines Studiums 1947 radikal von jeder Religion und wurde bekennender Atheist.
Sein Humanismus-Buch erschien im freireligiösen Angelika Lenz Verlag. Der Dachverband freier Weltanschauungsgemeinschaften war eine HVD-Konkurrenz-Organisation. Das war nun auch keine Einladung an den HVD, das Werk zu reflektieren. Wohl deshalb wurde eine wichtige Information in diesem Buch, die Hiorth den Lesern gibt, nicht in ihrer Bedeutung erkannt. Zudem: Hiorth sah in dem Vorgang, den er beschrieb, einen Fortschritt.
Worum geht es? Hiorth stellt zunächst dar, dass der neue amerikanische “säkulare Humanismus” nach 1945 denjenigen ethischen Humanismus, der als “Humanismus der Juden” galt, verdrängt habe. Der “säkulare Humanismus” habe auch in der IHEU die Oberhand gewonnen.
Nun ist hier anzumerken, dass der deutsche ethische Kulturhumanismus nach 1892 den konzeptionellen Boden errichtete, auf dem der HVD heute praktisch im Wesentlichen fußt. Besonders betrifft dies den praktischen Humanismus, etwa (in den damaligen Begriffen) “weltliche Schulen”, “Lebenskunde”, “weltliche Seelsorge”, “Mutterschutz”… Selbst der später konservativ vereinnahmte “Muttertag” wird hier vorgeschlagen.
Diesen ethischen Humanismus hatte der Deutsch-Amerikaner Felix Adler in Berlin am 7. Mai 1892 öffentlich vorgetragen. Zu diesem Zeitpunkt gab es hier schon seit fünf Jahren organisierte Humanisten. Am 16. September 1887 hatte der ehemalige freireligiöse Prediger Georg Siegfried Schäfer (1833–1904) die Berliner Humanistengemeinde als eine Abspaltung bürgerlicher Mitglieder aus der dortigen Freireligiösen Gemeinde gegründet, die zur Keimzelle der Deutschen Gesellschaft für Ethische Kultur wurde, mit Pendants in Österreich und England.
Der wichtigste Grund, diesen Humanismus im HVD nicht zu rezipieren, war, dass er in der Freidenkerbewegung und im “säkularen Humanismus” als “religiös” galt, was er aber gar nicht war. Es handelte sich bei dieser Gruppe vorwiegend um säkularisierte Juden. Diese Humanisten habe ich in den “Dissidenten” umfänglich vorgestellt. Sie erfuhren erst jüngst endlich einige größere Aufmerksamkeit, wesentlich befördert durch das Buch von Hilde Schramm “Meine Lehrerin Dr. Dora Lux”.
Schon allein diese Geschichte legt es nahe, auf den positiven Gebrauch des Begriffs “säkularer Humanismus” im HVD zu verzichten. Er wird ohnehin im Wesentlichen gebraucht für eine Weltanschauung, die ihre nicht-religiöse Basis betont. Das Adjektiv “säkular” hat einen laisierenden Beiklang: etwas verweltlichen, aus dem Besitz der Religion, der Kirche nehmen. So entsteht der Eindruck, als sei der Humanismus eine Säkularisierung des Christentums.
Das will ich nun nicht weiter vertiefen und verweise auch hier auf den schriftlichen Text, nur so viel: Der “säkulare Humanismus” erzeugt den Eindruck – wie Gita Neumann Ende 1991 treffend in der 17. Ausgabe der Verbandszeitung diesseits kritisierte – Humanismus sei ein wissenschaftlich-rationales Weltmodell. Diese Vorstellung habe alle anderen traditionsgebundenen Formen des Erkennens geopfert mit dem Ergebnis des Misstrauens, der Abwertung, ja der Diffamierung gegenüber (wie Neumann sie nennt) “qualitativ-innerlichen und körperlich-sinnlichen Erkenntnisquellen”.
Wie dieser Einwurf von Gita Neumann ist auch die Darstellung von Peter Groth wenig beachtet worden, auch durch mich selbst nicht. Er schreibt in der gleichen 17. Ausgabe der diesseits über Renaissance-Humanismus. Er gibt eine kurze, ebenso belesene wie historische Begriffsbestimmung von Humanismus, inklusive Gründe für dessen Niederlage in der Reformation und unter Rückgriff auf die lateinischen Ursprünge (humanitas) bei Cicero.
Wahrscheinlich liegt die Ursache der mangelnden Aufnahme dieses Textes im HVD darin, dass man meinte, “Bild vom Menschen” meine Ästhetik, dabei gibt der Autor ein weltanschauliches “Menschenbild”. Dieser vergessene Text von Groth hat auch eine ganz andere Sprache als im “säkularen Humanismus” üblich. Die von Cicero hergeleiteten “Eigenschaften” des Humanismus – eine sehr schöne Umgehung der Worte “Funktionen” bzw. “Prinzipien” – entsprechen der heutigen Forschung (lediglich die “Barmherzigkeit” fehlt):
Er bestimmte Humanismus als
- sittliche und geistige Bildung,
- menschlichen Edelmut, Würde und Adel menschlichen Geistes, Ehrbarkeit,
- Witz, Geschmack, Humor, Anmut, Eleganz, Feinsinnigkeit[,]
- Geist, Bildung, Erziehung, Urbanität,
- innere Ausgeglichenheit,
- Freundlichkeit, Güte, Milde,
- Menschenfreundlichkeit, Gastfreundlichkeit, Freigebigkeit.
Abschließend möchte ich das Gesagte in eine Empfehlung münden lassen:
Der HVD zieht Gewinn und Einfluss nicht aus sich selbst heraus, sondern durch seine Beiträge zur Humanisierung und deren praktischen und geistigen Bezug auf einen Humanismus, der die alte Freidenkerei und den “säkularen Humanismus” hinter sich lässt. Das sollte ihn selbstbewusster und zugleich bescheidener machen, aber unbedingt auffordern, sich auf das, was nun an Dienstleistungen stattfindet, einen humanistischen Reim zu machen; Stichwort: Humanistik.
Im Gefüge des organisierten Humanismus, der viel mehr ist als der HVD und sein Umfeld, muss er allerdings seinen Platz besser bestimmen und Abschied nehmen von der Vorstellung, Humanismus sei etwas vorrangig für Konfessionsfreie und auf das beschränkt, was alternativ zu Religionen ist. Humanismus und der HVD finden der Menschen wegen statt, gar nicht oder mehrere Stufen darunter, als Konkurrenz zu Kirchen bzw. Religionen.
Die Rede gibt es auch als hpd-Video: