Bundesverfassungsgericht und Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen

Ein bestürzender gesellschaftspolitischer Rückschritt

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Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe
Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe

(hpd) Mit Beschluss vom 22.10.2014, bekanntgegeben am 20.11.2014, hat der 2. Senat des BVerfG einen Rückwärtssalto geschlagen und die kirchlichen Hardliner bestärkt. Das ist völlig konträr zur langjährigen Diskussion in der Gesellschaft.

Schon die 1985 vorangegangene Grundentscheidung des BVerfG zum Kündigungsschutzrecht (insbesondere: Buchhalterfall) wurde damals von kritischen Juristen mit detaillierter Begründung als auch juristisch unvertretbar angesehen. Statt diese heute noch viel antiquierter wirkende stark kirchengeneigte Position mit guten Rechtsgründen zu verlassen und sie wenigstens zu entschärfen, hat das höchste deutsche Gericht nach fast 30 Jahren die arbeitsrechtliche Monstrosität weiter verfestigt.

Der aktuelle Fall

Im jetzigen Streitfall hatte sich der katholische Chefarzt einer Abteilung eines katholischen Krankenhauses scheiden lassen und lebte danach jahrelang mit einer neuen Partnerin zusammen, was dem Geschäftsführer des Krankenhauses bekannt war. Erst nachdem er seine neue Partnerin geheiratet hatte, kündigte der Krankenhausträger dem Chefarzt. Drei arbeitsgerichtliche Instanzen hielten diese Kündigung für nach dem Kündigungsschutzgesetz sozial nicht gerechtfertigt und hoben sie auf. Das entsprach zwar dem allgemeinen Rechtsempfinden, auch dem der meisten Katholiken, nicht aber dem Willen der Kirchenführer. Das BVerfG hob jetzt das Urteil auf Verfassungsbeschwerde des Krankenhausträgers auf und verwies die Sache an das Bundesarbeitsgericht (BAG) zur erneuten Entscheidung zurück. Offenbar hält es das BVerfG für möglich, dass eine erneute Entscheidung des BAG mit geänderter Begründung und ggf. ergänzender Tatsachenfeststellung wieder zu Gunsten des Chefarztes ausfallen könnte.

Möglicherweise ist diese verbliebene Offenheit des Falles ein Grund dafür, warum die Reaktionen der zahlreichen Kritiker der - erstaunlicherweise ohne mündliche Verhandlung und daher ohne öffentlich-kontroverse Fachdiskussion ergangenen - Entscheidung bisher meist allzu verhalten ausgefallen sind. Ein weiterer Grund mag sein, dass die Arbeitsgerichte, eingeschüchtert durch die seit 1985 rigide Rechtsprechung des BVerfG, die auch bisher noch gegebenen Spielräume meist aus Resignation nicht pressewirksam ausgeschöpft haben. Im Volksmund hieß es oft: Wer “freiwillig” in katholischen Einrichtungen arbeitet, ist selber schuld.

Zur Entstehung der Fehlentwicklung

Wie es zu der einzigartigen arbeits- und verfassungsrechtlichen Fehlentwicklung kommen konnte, ist fast unbekannt. Ausgerechnet das BVerfG, eigentlich “Hüter der Verfassung”, hat das kirchliche “Selbstbestimmungsrecht” (richtiger: Selbstverwaltungsrecht) des Art. 137 III 1 WRV/140 GG in sein Gegenteil verkehrt: Denn während die Verfassung das Recht, die eigenen Angelegenheiten selbständig zu ordnen und zu verwalten, nur “innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes” gibt, hat das BVerfG den religionsneutralen Kündigungsvorschriften ihrerseits Schranken durch übersteigerte und oft nicht einmal nach der Arbeitnehmerposition differenzierte amtskirchliche Loyalitätspflichten gesetzt. Sie gehen weit über den ohnehin gesicherten normalen arbeitsrechtlichen Tendenzschutz hinaus. Sogar den Grundrechten der Arbeitnehmer hat das BVerfG 1985 selbst angesichts der extremen Fallgestaltung des Buchhalterfalls (Kündigung nach 29 Jahren wegen heimlichen Kirchenaustritts) praktisch keine Rolle beigemessen. So wurde das staatliche Kündigungsschutzrecht auf eine Weise paralysiert, die zuvor keinem Arbeitsrechtler denkbar erschien. Zur Weimarer Zeit hatte man den Verfassungswortlaut noch beachtet.

Die Fehlentwicklung wurde durch weitere rechtliche Umstände verstärkt. 1968 hat das BVerfG die Religionsausübungsfreiheit nicht nur - unhistorisch und ohne neuen verfassungsrechtlichen Anhaltspunkt - exzessiv auf die Gesamtheit lediglich religiös motivierter Betätigungen erstreckt, also weit über die traditionelle Kultfreiheit hinaus. Vielmehr hat es nicht nur den Religionsgemeinschaften die Eigenschaft von Grundrechtsträgern zuerkannt, sondern weit darüber hinaus auch den rechtlich selbständigen karitativen Vereinigungen und Einrichtungen, soweit sie kirchlich gebunden sind. Dabei machen sich diese ja nur teilweise die Pflege des religiösen (weltanschaulichen) Lebens zur Aufgabe. Für diese Sicht gibt es keinerlei verfassungsrechtlich plausiblen Grund. Die zugrunde liegende These von der “Christlichen Dienstgemeinschaft” hatte Oswald von Nell-Breuning SJ, Nestor der katholischen Soziallehre, schon damals als weltfremde Ideologie betrachtet. Nach BVerfG begrenzten im Konfliktfall nicht die allgemeinen Gesetze das Selbstverwaltungsrecht des Art. 137 III 1 WRV, sondern umgekehrt und gegen den klaren Wortlaut der Verfassung das Selbstverwaltungsrecht die allgemeinen Gesetze. Hinzu kommt die ständige Missachtung des Sozialhilfeurteils des BVerfG von 1967 durch die Behördenpraxis. Das BVerfG hat in diesem Urteil zwar das 1961 neu eingeführte strikte Subsidiaritätsprinzip, das die freien Sozialträger zu Lasten der öffentlichen Träger bevorzugt, bestehen lassen. Das war aber klar gekoppelt mit der strikten Beachtung der Religionsfreiheit der Einrichtungsbenutzer. Aber trotzdem ist es seltsamerweise nicht zu einer religionsneutralen Grundversorgung der Bevölkerung gekommen, wie sie zuvor gegeben war.

Gesamtergebnis war und ist eine zuvor nicht gekannte enorme Ausweitung vor allem kirchlicher Sozialeinrichtungen, die je nach Bundesland und Region monopolartige Positionen errungen haben. Das wurde kombiniert mit einer arbeitsrechtlich deutlich schlechteren Stellung der heute 1,3 Millionen (!) kirchlichen Arbeitnehmer gegenüber den weltlichen. Insbesondere war bei Verletzung kirchlicher arbeitsrechtlicher Vorgaben (“Obliegenheiten”) zur Einhaltung kirchlicher Gebote, selbst im Privatleben, der Kündigungsschutz stark ausgehöhlt. Die Folgen waren bei schlechter Arbeitsmarktlage verheerend. Diese Entwicklung war auch deswegen befremdlich, weil es den Kirchen ja laut Grundgesetz möglich ist, ein kircheninternes Rechtssystem einschließlich eines Dienstrechts zu schaffen, wie es mit dem kirchlichen Gesetzbuch der katholischen Kirche und dem Ordensrecht bzw. dem evangelischen Pfarrerdienstrecht ja geschehen ist. Dabei können die Kirchenführungen ihrem Sittlichkeitsempfinden und ihren Machtinteressen ziemlich freien Lauf lassen. Wenn sie sich aber freiwillig des staatlichen Arbeitsrechts bedienen, um überhaupt am normalen Arbeitsmarkt erfolgreich teilnehmen zu können, so sollte es doch selbstverständlich sein, dass sie dann auch denselben Regeln unterworfen sind. Auf ihre besonderen religiösen Interessen würde dabei durch den Tendenzschutz ohnehin Rechnung getragen.

Zur heutigen Lage

Heute sind Arbeitswelt und Gesellschaft zunehmend nicht mehr bereit, die erhebliche Beeinträchtigung von Arbeitnehmergrundrechten hinzunehmen. Insbesondere die katholische Kirche hat wegen jahrzehntelanger und massenhafter grober Verstöße auch hoher Amtsträger gegen Kirchenrecht (verbreitete Homosexualität; nichteheliche Beziehungen) und staatliches Strafrecht (Sexualmissbrauch, Kindermisshandlungen) bei gleichzeitig rigidem Vorgehen gegen interne Kritiker erheblich an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Trotz eines weltweit hohen Prozentsatzes an homosexuellen Priestern (insgesamt schätzt man sie nach zahlreichen internen Untersuchungen auf mindestens 20 Prozent) ging die Kirche bisher offiziell hart gegen entsprechend Veranlagte vor. Priester, die auch nach kirchlichen Maßstäben schwerste Verfehlungen begangen hatten, konnten ihre Ämter gleichwohl unter kirchlichem Schutzmantel weiter ausüben, Sakramente spenden und sich den Schöpfer der Welt einverleiben. Trotzdem bestrafen Kirchenobere weltliche Kirchenbedienstete, die nur von ihren Grundrechten Gebrauch machen und die gesellschaftlich allgemein anerkannten ethischen Regeln einhalten, schwer durch den Verlust des Arbeitsplatzes.

Arbeitsrechtliche Situation

Trotz einer nach wie vor meist sehr strengen obergerichtlichen Rechtsprechung hat das kirchliche Arbeitsrecht seit langem zu bröckeln begonnen, verstärkt durch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im Jahr 2010. Das Bewusstsein der Notwendigkeit von Änderungen hat selbst die großen Kirchen erreicht, wie etwa Neuregelungen der EKD aus dem Jahr 2013 zeigen. Ausgerechnet in dieser Situation hat das BVerfG jetzt die völlig weltfremde, unverständliche und ungerechte Sonderentwicklung des kirchlichen Arbeitsrechts verfestigt und an den verfehlten Grundpositionen der Entscheidung von 1985 festgehalten. So steht es den kirchlichen Einrichtungen nach wie vor mehr oder weniger frei, nach Belieben kirchliche glaubensbegründete Loyalitätspflichten nach Art und Intensität in den Arbeitsverträgen festzuschreiben (kirchliches Proprium), was die staatlichen Gerichte in einer ersten Prüfungsstufe voll zugrunde zu legen haben. Sogar die Feststellung der Bedeutung eines Loyalitätsverstoßes für die Glaubwürdigkeit der Kirche sei Sache der Tausenden von kirchlichen Arbeitgebern. In einer zweiten Prüfungsstufe haben die Arbeitsgerichte dann bei der Anwendung der staatlichen Kündigungsvorschriften eine umfassende Güterabwägung zwischen den Interessen und Rechten der Arbeitgeber und Arbeitnehmer vorzunehmen. Dem Selbstverständnis der Kirche soll dabei seltsamerweise ein besonderes Gewicht beizumessen sein, wenn auch die Interessen der Kirche die Belange der Arbeitnehmer nicht prinzipiell überwiegen dürfen. In Zweifelsfällen sei bei den zuständigen Kirchenbehörden nachzufragen. Das BVerfG stellt im Streitfall zur Bedeutung der Ehe auf die übereinstimmende Gesamtheit der deutschen Bischöfe ab.

Im konkreten Fall habe das BAG fehlerhaft eine eigene Einschätzung der Bedeutung der Loyalitätsobliegenheit (Wiederheirat) und des Gewichtes des Verstoßes vorgenommen. Nach den strengen Grundannahmen des BVerfG sind die Beanstandungen allerdings logisch, ohne dass hier darauf näher eingegangen werden soll. Für die vom BAG erneut vorzunehmende Prüfung stellt das BVerfG für die zweite Prüfungsstufe (Gesamtabwägung) immerhin die große grundrechtliche Bedeutung des Art. 6 GG (Ehe und Familie), auch für die zweite Ehe, heraus, ferner die Wichtigkeit des Vertrauensschutzes.

Kritische Gesamtwürdigung

Das BVerfG hat die Chance, eine erhebliche juristische und gesellschaftspolitische Fehlentwicklung wenigstens teilweise zu bereinigen, nicht genutzt, obwohl das leicht möglich gewesen wäre und auch in anderen Fällen praktiziert wurde. Die Bedeutung der Arbeitnehmergrundrechte scheint es freilich ernster zu nehmen als 1985. Man kann dem Beschluss indirekt entnehmen, das BAG könne bei der Neubeurteilung des Falles ggf. zum selben Ergebnis gelangen wie zuvor, wenn die Entscheidung nur anders begründet werde. Das ändert nichts an der weithin als skandalös empfundenen Aufrechterhaltung der extrem kirchennahen Rechtsprechung. Unverständlich ist, dass bei der kündigungsrechtlichen Schlussabwägung der Einschätzung der kirchlichen Stellen nach wie vor ein besonderes Gewicht zukommen soll. Denn den Arbeitsgerichten stehen dafür gar keine eigenständigen Maßstäbe des letztlich anzuwendenden staatlichen Rechts zur Verfügung. Ebenso wenig ist nachzuvollziehen, dass die kircheninterne Beurteilung einer etwaigen Glaubwürdigkeitsminderung ungeprüft zugrunde zu legen sein soll. Denn auch bei Zugrundelegung kirchlicher Kriterien ist eine Glaubwürdigkeitsprüfung nach objektiv-sozialwissenschaftlichen Maßstäben durchaus möglich. Glaubwürdigkeit kann, dies nebenbei, von verschiedenen Diözesanbischöfen unterschiedlich beurteilt werden. Die Frage des Sakramentenempfangs nach Wiederheirat wird in der seelsorgerlichen Praxis liberaler gehandhabt als von den Bischöfen nach außen hin vorgeschrieben. Selbst in der obersten Kirchenleitung ist die Problematik recht umstritten. Auch mit der Unauflöslichkeit der Ehe ist es so eine Sache. Historisch war es gang und gäbe, dass Päpste Fürstenehen aus machtpolitischen und sonst opportunistischen Gründen geschieden und das durch die juristische Konstruktion der Nichtigkeitserklärung kaschiert haben. Das geschah noch 1992 in Form der aufsehenerregenden Nichtigerklärung der Ehe der Caroline von Monaco durch eine Sonderkommission des Päpstlichen Gerichtshofs in Rom.

Viel spricht sogar dafür, dass das BVerfG verfassungswidrig in die innerkirchliche Diskussion eingegriffen hat, indem es auf die Ansicht der jeweils zuständigen amtskirchlichen Stelle abstellt. Abgesehen von ggf. widersprüchlichen Ansichten gleichwertiger Amtsträger derselben katholischen Kirche ist nicht ersichtlich, wieso in der Glaubwürdigkeitsfrage ausschließlich auf die Amtskirche abgestellt wird. Viele Theologen haben ein unterschiedliches Kirchenverständnis, legen z.B. großen Wert auf das Kirchenvolk als Teil der Gesamtkirche, ohne deswegen unkatholisch zu sein. Und wie glaubwürdig ist es, wenn Priester trotz schwerer Sexualverbrechen im Amt geduldet wurden, während gleichzeitig Katholiken mit staatlicher Mitwirkung ihren Arbeitsplatz verlieren können, nur weil sie in einer Einzelfrage ihrem Gewissen und dem allgemeinen Rechtsempfinden entsprechend eine andere Position vertreten? Natürlich müssen die Arbeitsgerichte bei der Anwendung des staatlichen Kündigungsschutzrechts in Anerkennung eines Tendenzschutzes die berechtigten Belange der Kirchen im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Interessen und Rechte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern angemessen berücksichtigen. Hätte sich das BVerfG zu diesen einfachen Grundsätzen durchgerungen, wäre dem GG Genüge getan, ein großes gesellschaftliches Ärgernis beseitigt und die Arbeitswelt gerechter gemacht. Zugleich wäre das Ansehen des BVerfG deutlich gestiegen. So aber wird es darauf ankommen, dass die Gerichte besser als bisher alle Möglichkeiten der “2. Prüfungsstufe” ausschöpfen, um den Arbeitnehmergrundrechten zum Durchbruch zu verhelfen.

Ausblick

Die durch GerDiA, die 2012 ins Leben gerufene groß angelegte und in der Öffentlichkeit erfolgreiche Kampagne “Gegen religiöse Diskriminierung am Arbeitsplatz” hat noch viel zu tun. Ein erster Erfolg ist der im Juli 2014 gefasste Beschluss der 20.000-Einwohner-Gemeinde Gröbenzell bei München, Zuschüsse nur solchen Trägern von Sozialeinrichtungen zu geben, die ihre Mitarbeiter nicht wegen ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung oder ihres Familienstandes diskriminieren. In diese Richtung gehen auch vorläufige Beschlüsse von Osnabrück, Oldenburg und Stuttgart. Beim Geld reagieren die Kirchen bekanntlich sehr empfindlich.

 


Hinweis: Nähere Erläuterungen zum kirchlichen Arbeitsrecht enthalten drei Artikel im thematisch breit angelegten Lexikon des Autors: “Religion und Weltanschauung in Gesellschaft und Recht”, Alibri 2009.