Im Raum über das Christentum schließlich stehen wir vor einem Rubensgemälde, auf dem die Beschneidung Jesu dargestellt ist. Künstlerisch beeindruckend ist vor allem was sich innerhalb des Gemäldes über dem Altar mit dem Baby abspielt: "Aus dem himmlischen Licht, umgeben von anbetenden und präsentierenden Engeln, erscheint der göttliche, und eben nicht von Menschenhand gemachte Name Jeschua als Tetragramm in hebräischen Lettern." (zitiert aus dem Ausstellungskatalog). Angesichts dieser feierlichen Darstellung, kann ich es mir nicht verkneifen, verständig zu kommentieren: "Jetzt verstehe ich auch endlich, warum es für das Christentum so notwendig war, dass Gott einen Sohn und keine Tochter hatte: Was hätte Rubens denn sonst darstellen sollen? Das ginge ja überhaupt nicht!" Der Museumsführer strahlt mich begeistert an und stimmt mir zu: "Ja, genau so ist es!"
Nachdem also – bedauerlicherweise – weder die Exponate noch die religionswissenschaftliche Führung durch die Ausstellung neue Erkenntnisse hinsichtlich des Themas der Knabenbeschneidung erbracht haben, mache ich mich auf den Heimweg und suche im Nachgang nach Antworten auf meine Fragen im Ausstellungskatalog.
Der Ausstellungskatalog
Von einer Ausstellung, deren Sinn erklärtermaßen darin liegt, um Toleranz und Respekt für eine religiös begründete Körperverletzung an Kindern zu werben, ist nichts anderes zu erwarten, als dass die ausgewählten Exponate und deren Präsentation optisch wie inhaltlich darauf ausgerichtet sind, von allem, was unangenehm oder verstörend wirken könnte, abzulenken und folkloristische Elemente in den Vordergrund treten zu lassen. Dass ein Museumsmitarbeiter scheinbar angehalten ist, seine Führung emotional zu gestalten, in dem er immer wieder nach Befindlichkeiten und Gefühlen in der Gruppe fragt, und leider auch nicht weiß, was genau in einem Gesetz steht, dessen Text in unübersehbar großen Lettern eine der Tafeln der Ausstellung ziert, wirkt irritierend, könnte aber ein Zufall sein. Dass ein so umfangreicher Ausstellungskatalog mit so viel Textmaterial so viele Fragezeichen und Ungereimtheiten enthält, erstaunt mich dann aber doch.
Der Katalog beginnt mit einem Grußwort der Programmdirektorin Cilly Kugelmann, die rückblickend auf die Beschneidungsdebatte von 2012 davon spricht, dass Atheisten religiöse Positionen "verbittert bekämpften" und Kinderärzte die Beschneidungspraxis als traumatisierenden Einschnitt "attackierten" – ein rhetorisch äußerst unsachlicher Einstieg in das Thema. Der Artikel von Gerhard Langer stellt dann wichtige Aspekte der Beschneidung in der rabbinischen Tradition vor. Besonders stolpert man über folgenden Satz: "Die Vorstellung von Beschneidung als Akt der Vervollkommnung des Menschen ist nicht neu." Was genau bezweckt der Autor mit dieser Feststellung? Und wem darf er wofür zur Rechtfertigung dienen? Wie viel darf eine Religionsgemeinschaft einem Kind abschneiden und welchen Geschlechts muss es sein und welcher Religionsgemeinschaft müssen seine Eltern angehören, damit der Gesetzgeber sich verantwortlich fühlt, einzugreifen?
"Die Vorstellung von Beschneidung als Akt der Vervollkommnung des Menschen ist nicht neu." Nein, sie ist sogar sehr alt. Sie ist noch älter als das Judentum. Wirbt Gerhard Langer an dieser Stelle um Verständnis und Respekt? Und wenn ja: Wofür?
Es folgt ein Text von Alfred Bodenheimer zur Beschneidungsdebatte aus jüdischer Perspektive. Der Autor beschreibt ausführlich, warum gerade "die Juden" in Deutschland ganz besonders unter der Debatte gelitten haben. Einer Umfrage zufolge seien "die Juden" über diese schockiert und verletzt gewesen, "die Muslime" hätten darin eher eine unerfreuliche Fortsetzung der Sarazin-Debatte gesehen.
Wenn Bodenheimer von "den Juden" und "den Muslimen" in Deutschland spricht, vergisst er diejenigen Söhne jüdischer und muslimischer Eltern, die in Deutschland leben und die das Trauma ihrer Beschneidung tagtäglich belastet. Als die wahren Verlierer der Debatte müssen sie es ertragen, in einem Land zu leben, in dem ihr Schmerz nicht einmal soweit respektiert wird, dass sie einen Anspruch auf Schadensersatz hätten. Sie müssen ertragen, dass das, was man ihnen angetan hat zum "Recht" aller Eltern erklärt wurde. "Die Juden", die schockiert waren, "die Muslime", die die Debatte als unerfreulich empfunden haben, waren letzten Endes diejenigen, die in vollem Umfang bestätigt wurden und seitens der Gesetzgebung alle Forderungen zugestanden bekamen.
Die traumatisierten Söhne jüdischer und muslimischer Eltern müssen in Deutschland damit leben, dass ihre Unversehrtheit ihrem Staat weniger gilt als die Schockiertheit derer, die "Recht" bekommen haben. Noch mit seinem letzten Satz negiert Bodenheimer offenbar die Existenz dieser Männer: "Es braucht jenseits aller Bekenntnisse von Politikern und gesetzgeberischen Korrektive, nur einen Anlass, und sie [die Juden] werden als Minderheit wieder zum Objekt der Ablehnung einer selbsterklärten Konsensgemeinschaft."
In seinem Beitrag über die Knabenbeschneidung und ihre Bedeutung für die muslimische Religionspraxis und Identitätsbildung stellt Ilhan Ilkilic zunächst Unterschiede über den Zeitpunkt der Knabenbeschneidung in unterschiedlichen islamischen Rechtsschulen heraus. Bei der Nennung der schafiitischen Rechtsschule vergisst er dabei tatsächlich, darauf hinzuweisen, dass die Schafiiten nicht nur ihre Söhne an der Penis- sondern auch ihre Töchter an der Klitorisvorhaut beschneiden lassen. Ein – auf der Skala der Verletzungstiefen bei weiblicher Genitalverstümmelung vergleichsweise (!!!) kleiner – Schnitt, der in Deutschland seit gar nicht langer Zeit strikt verboten ist. Schade, dass Ilkilic diese Information hier vorenthält – es wäre interessant geworden, wie er seine Argumentation weiterhin aufrecht erhalten und zugleich das Strafgesetz nicht infrage gestellt hätte.
Dennoch führt er für die Beschneidung von Jungen teilweise dieselben Argumente ins Feld, wie es die Befürworter der Mädchenbeschneidung tun, wenn er schreibt "Ein unbeschnittener Mann könnte Schwierigkeiten haben, einen Ehevertrag abzuschließen, da er von einer muslimischen Frau und ihrer Familie nicht akzeptiert würde." Vielleicht ist ihm dies beim Schreiben sogar aufgefallen, denn wenig später weiß er: "Ebenso kann nicht von einer Organschädigung und der damit verbundenen Organdysfunktion gesprochen werden, wie sie bei der Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen vorkommt."
Leider setzt er hier auf die Unwissenheit seiner Leserschaft. Zum einen arbeitet er mit einem schwammig definierten Begriff weiblicher Genitalverstümmlung (denn hier gibt es Varianten mit vergleichsweise wenig oder gar ohne Gewebeverlust), zum anderen bezieht er sich mit der Dysfunktion augenscheinlich nur auf einen Aspekt der Geschlechtsorgane – nämlich den der Fortpflanzung.
Abschließend stellt er fest, dass "nach islamischem Glauben die Beschneidung von Knaben als eine elementare, unverzichtbare und unersetzliche Pflicht zu bewerten ist" – eine durchaus kühne und viele Fragen zurücklassende Behauptung angesichts der Tatsache, dass Beschneidung im Koran nicht erwähnt wird. Nebenbei bemerkt ist dies als implizite Diffamierung aller muslimischer Eltern zu werten, die auf den Eingriff verzichten und sich dennoch als religiöse und gläubige Menschen verstehen. Hier wäre ein bisschen von jener Einfühlsamkeit und dem Verständnis anderen gegenüber zu wünschen gewesen, das von Seiten der Beschneidungsbefürworter unermüdlich eingefordert wird.
In seinem Artikel "Gesundheit, Krankheit und Glaube. Der Streit um die Beschneidung" fasst Sander L. Gilman verschiedene medizinische Argumente für und gegen die Knabenbeschneidung zusammen und stellt dann fest: "Keine medizinische Beschneidungsdiskussion ist je unabhängig von ideologischen Sichtweisen geführt worden." Beim Lesen dieser Aussage stellt sich zunächst Verwunderung ein. Es ging der Ausstellung ja um die Darstellung eben jener ideologischer Sichtweisen. Die Medizin sollte außen vor bleiben. Mit welcher "Ideologie" stehen die Gegner der Beschneidung den religiösen "Ideologen" denn entgegen? Am Ende des Artikels finden wir die Antwort darauf. "[…] die Gegner beklagen eine Verletzung der Menschenrechte […]. Diese ideologischen Haltungen beeinflussen die Wissenschaft in alle Richtungen […]"
Wenn religiösen Ideologien nun die Verteidigung der Menschenrechte als eine konträre Ideologie gegenübersteht, müssen wir uns ernsthaft fragen, ob dies noch im Sinne einer auf Vielfalt und friedliches Miteinander ausgerichteten Gesellschaft ist.
Ich schließe meine Lektüre des Katalogs ab und frage mich, ganz nach dem Beispiel der Museumsführung, die ich heute erlebt habe, was ich nach dem Gesehenen und Erfahrenen jetzt empfinde. Ich bin zwiegespalten. Als Religionswissenschaftlerin ärgere ich mich maßlos und bin zutiefst enttäuscht. Vom Jüdischen Museum Berlin hätte ich mehr erwartet. Ich hatte auf mehr Sachlichkeit gehofft, auf mehr Ehrlichkeit, auf vorsichtigere und durchdachtere Argumentationsketten. Auf mehr Mut, zu dem zu stehen, was man verteidigt und wofür man Respekt einfordert. Mehr als eine oberflächliche, auf Folklore und Kunstobjekte beschränkte Herangehensweise. Schade. Als Menschenrechtlerin aber bin ich froh und erleichtert: Auch nach dieser Ausstellung erscheinen keine neuen oder bisher in der Debatte angeblich vernachlässigten Argumente für die Erlaubnis einer Manipulation der Geschlechtsteile von Kindern. Und das ist ein beruhigender Gedanke.
9 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Danke Frau Matthes für den deutlich geschriebenen Bericht.
Stefan Wagner am Permanenter Link
Vielen Dank, Sie sprechen mir aus der Seele. Ich war ähnlich enttäuscht.
Statt einer Darstellung unterschiedlicher Positionen wurde eine Propagandashow mit den Mitteln eines Museums geboten.
Oskar Degen am Permanenter Link
"[…] die Gegner beklagen eine Verletzung der Menschenrechte […]. Diese ideologischen Haltungen beeinflussen die Wissenschaft in alle Richtungen […]"
in der Tat eine ungeheurliche ! Aussage.
Wenn ich das richtig verstanden habe bleibt als Begründung nur die eine Aussage, die in jedem Managerseminar als "Killerphrase" gebrandmarkt wird: " Wir haben das schon immer so gemacht."
Eine wertvolle Ergänzung dieser Ausstellung wäre doch gewesen, die Komplikationen zu schildern, die bei dem Eingriff auftreten.
Viola Schäfer am Permanenter Link
Zur Info:
http://intaktiv.de/genital-autonomy-2015-in-frankfurt/
www.genitalautonomy.org
Edward von Roy am Permanenter Link
Dank sei dem humanistischen pressedienst (hpd) für das Publizieren dieses Artikels.
Zwischen jüdischen und nichtjüdischen bzw. schariakonformen und nichtmuslimischen Kinderrechten und Kinderkörpern kann der Rechtsstaat nicht unterscheiden und die Schädigung der Sexualität und Sensitivität (Sorrells et al.) sowie der Partnerschaft (Morten Frisch) kann auch Angela Merkel ("Komikernation") nicht mehr lange verschweigen.
Anders als in Berlin umgesetzt, gehört die Beschneidung tatsächlich ins Museum, denn die Beschneidungsmesser (FGM oder MGM) der Aboriginees, Xhosa, Juden oder Muslime gehören nicht ins Kinderzimmer, sondern in die Museumsvitrine, genau wie Sklavenkette oder Hexen-Folterzange.
Zum lebenslangen sensitiven Schaden jeder Jungenbeschneidung sowie zum Thema Islam und FGM möchte ich den Bericht von Dr. Eva Matthes ergänzen.
Sensitiv betrachtet ist von Natur aus nicht die Eichel (Glans penis), sondern das penile Vorhaut (Präputium) das Äquivalent zum weiblichen Zentrum der Lust, zur Klitoris.
Gary Harryman (Basic Human Genital Anatomy) nennt die anatomischen Gegebenheiten und bringt das zutreffende Gleichnis von der Braille-Schrift, die man mit dem Ellbogen eben kaum bis gar nicht lesen könnte:
Physiologically, the clitoris is richly endowed with thousands of these specialized pressure-sensitive nerves and the clitoral foreskin is virtually bereft of them. The ridged band at the tip of the the penile foreskin is richly endowed with thousands of these same specialized pressure-sensitive nerves and the glans is virtually bereft of them.
https://ms-my.facebook.com/shareyoursexknowledge/posts/652188514794501
Innervation der Penisvorhaut, Zitat aus: DokCheck Flexikon:
"Die Vorhaut ist reich an spezialisierten Nervenendigungen und spezialisiertem erogenem Gewebe. Diese spezialisierten Nervenendigungen umfassen (Meissner-Körperchen, Vater-Pacini-Körperchen, Ruffini-Körperchen und Merkel-Zellen), die bereits leichteste Berührungs- und Temperaturreize detektieren können.
Im Gegensatz zur Vorhaut besitzt die Glans penis fast ausschließlich nicht-spezialisierte, freie Nervenendigungen (sogenannte Nozizeptoren), die nur grobe Reize wie etwa starken Druck oder hohe Temperatureize detektieren können, die vom Gehirn als Schmerzen wahrgenommenen werden.
Cold und Taylor, welche die Innervation des Präputiums des Penis ausführlich untersuchten, erklärten:
'Die Glans penis ist vorwiegend durch freie Nervenendigungen innerviert und besitzt hauptsächlich nur protopathische Sensibilität. Protopathische Sensibilität bezieht sich auf gröberen, schlecht lokalisierten Empfindungen (einschließlich Schmerz, einige Temperaturempfindungen und bestimmte Wahrnehmungen von mechanischem Kontakt). In der Glans penis sind nur wenig [spezialisierte Nervenendigungen] vorhanden, und diese finden sich hauptsächlich entlang der Eichelkranzes und des Frenulums. Im Gegensatz dazu hat das gefurchte Band der männlichen Vorhaut an der mukokutanen Grenze eine hohe Konzentration an [spezialisierten Nervenendigungen].'"
http://flexikon.doccheck.com/de/Pr%C3%A4putium
Islam und FGM
Hinsichtlich der im Fiqh der Schafiiten religionsrechtlich verpflichtenden (wadschib) Jungenbeschneidung und Mädchenbeschneidung lässt sich weder theologisch noch hinsichtlich der beispielsweise in Malaysia und Indonesien sowie im nördlichen Irak üblichen religiösen (hier islamischen) FGM-Praxis sagen, dass die Klitoris nicht teilweise oder ganz zu amputieren ist oder dass sie nicht vielen Mädchen amputiert wird. Dazu der bekannte Hadith:
Eines Tages begegnete Mohammed der zum Islam konvertierten muqaṭṭiʿatu l-buẓūr (amputatrice di clitoridi, coupeuse de clitoris, cutter of clitorises), der Frauenbeschneiderin Umm ʿAṭiyya. Die Gottgehorsame befragte den Propheten nach der religiösen Rechtmäßigkeit ihrer täglichen Arbeit und Allahs Sprecher stellte fest:
أشمِّي ولا تنهَكي
ašimmī wa-lā tanhakī
[Cut] slightly and do not overdo it
[Schneide] leicht und übertreibe nicht
Oder Mohammed verkündete den Willen des Himmels so:
اختفضن ولا تنهكن
iḫtafiḍna wa-lā tanhikna
Cut [slightly] without exaggeration
Schneide [leicht] und ohne Übertreibung
https://eifelginster.wordpress.com/2014/09/14/399/
Es ist richtig, dass die Assalaam Foundation (Bandung, West-Java) die zum Mädchenbeschneiden verwendeten Scheren gerade weggelegt hat und vorläufig Nadeln verwendet, sprich eine FGM vom Typ IV (ritual nick; pinprick) praktiziert. Das allerdings kann sich jederzeit wieder ändern und die Scheren wurden nicht weggeworfen.
Der indonesische Ulama Rat MUI hat sich, bei geschickter Heranziehung einer schafiitischen islamjuristischen Minderheitsmeinung (On the issue of female circumcision, we do not consider it compulsory), zu nichts anderem verpflichtet, als gegen das Verbot des Verbots der Mädchenbeschneidung (FGM) zu kämpfen (we forbid any action to ban it) und dem Mädchen beim Beschneiden nicht zu schaden. Schriftgläubige werden freilich betonen müssen, dass weder Allah noch sein dem menschlichen Verstehen enthobenes Gesetz (Scharia) Schaden stiften.
"On the issue of female circumcision, we do not consider it compulsory, but we forbid any action to ban it," MUI Chairman Ma'ruf Amin told
http://www.npwj.org/it/content/05-Mar-2013-NPWJ-News-Digest-FGM-womens-rights.html
Am 10.12.2014 vernahm, bei der Übergabe der Unterschriften einer schlampig gemachten und unredlich beworbenen Petition (Weibliche Genitalverstümmelung in Indonesien – Schutz statt Verharmlosung), selbst Terre des Femmes aus dem Mund von Lefianna H. Ferdinandus (in Vertretung des indonesischen Botschafters Fauzi Bowo), dass der bevölkerungsreichste muslimisch geprägte Staat der Welt bestimmte Formen der FGM nicht als Verstümmelung zu definieren bereit ist.
Uns allerdings wie leider auch Eva Matthes ("dass die Schafiiten nicht nur ihre Söhne an der Penis, sondern auch ihre Töchter an der Klitorisvorhaut beschneiden lassen") zu suggerieren, dass die khitan al-inath (sunat perempuan, FGM nach Koran und Sunna) stets lediglich eine FGM Typ Ia (Amputation der Klitorisvorhaut) beinhalte ist nicht zutreffend, denn gerade auch die FGM Typ Ib wird durch die o. g. Hadithen auch heute von etlichen heutigen Scheichen begründet, schafiitisch sowieso und zusätzlich, ebenfalls als schariarechtliche Wohlverhaltenspflicht (wadschib, compulsory), durch jede zweite geistliche Autorität der Hanbaliten.
Ausführlicher zum Thema HGM (d. i. FGM und MGM) in meinem Vortrag vom 14.03.2014:
Europa 25 Jahre nach dem First International Symposium on Circumcision. Genital Intactness statt Beschneidung auf Kinderwunsch
https://eifelginster.wordpress.com/2014/02/15/373/
Punktgenau zur Eröffnung des 70. Deutschen Juristentages stritt Gutachterin Tatjana Hörnle, die sich von der Zeitung Berliner Kurier missverstanden fühlt, ihren Versuch einer deutschen Legalisierung der sogenannten milden Sunna ab ("Richtigstellung"). Ebenso wie Humanmediziner Karl-Peter Ringel und Volljuristin Kathrin Meyer arbeitet jedoch auch die Berliner Juraprofessorin an einer Straffreiheit der in Deutschland über § 226a StGB verbotenen, der schafiitischen Rechtsschule des Islam und einigen hanbalitischen Gelehrten jedoch als religiös verpflichtend (farḍ, wāǧib) geltenden FGM Typ Ia und Typ IV. Die Mädchenbeschneidung wird von den übrigen Hanbaliten und allen Malikiten als ehrenwert (makruma) eingestuft und von den Hanafiten immerhin als Sunna, und zwar als sogenannte betonte (emphasized) Sunna, sunna muʾakkada.
Zum Vorstoß der strafrechtlichen Gutachterin auf dem 70. Deutschen Juristentag (Hannover 2014) Tatjana Hörnle für eine Straffreistellung bestimmter Formen der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) schrieben meine Kollegin und ich am 16.09.2014 einen offenen Brief, Juristin Hörnle reagierte wie zu erwarten nicht:
Entgegnung auf die Richtigstellung der Tatjana Hörnle
"erst wenn die beiden Verstümmelungsformen Typ Ia und Typ IV nicht mehr als Verstümmelung gelten (dürfen), kann der Gutachterin niemand vorwerfen, die FGM in Teilen erlauben zu wollen ...
Die Zirkumzision (MGM) ist übrigens auch eine Mutilation, eine Verstümmelung und die Berliner Professorin will die Jungenbeschneidung ja gerade nicht verbieten. Jedem Jungen aber werden bei einer Beschneidung, was Hörnles Gutachten gezielt verschweigt, 10.000 bis 20.000 Nervenendigungen und Tastkörperchen amputiert die ihr Äquivalent beim Mädchen nicht in der Klitorisvorhaut haben, sondern in der Klitoris, weshalb die MGM nicht mit FGM Typ Ia gleichzusetzen ist, sondern mit Typ Ib. ...
Sehr geehrte Frau Dr. Hörnle, bitte geben Sie offen zu, die schafiitische “milde Sunna”, WHO-Klassifikation FGM Typ IV (ritual nick, pinpricking) oder jedoch den Gewebe amputierenden mithin eindeutig verstümmelnden Typ von “milde Sunna” FGM Typ Ia (die Klitorisvorhaut rituell abschneiden) aus ihrem Verstümmelungsbegriff entfernt zu haben, ins Kindeswohl integrieren zu wollen und Typ Ia und IV in Deutschland straffrei stellen zu wollen.
Wir sagen Nein zu Ihrem Ansinnen und fordern die Beibehaltung des Verbots ALLER vier Typen der FGM (I, II, III, IV), wie es seit 2013 mit § 226a StGB eindeutig gewährleistet ist."
Edward von Roy, Diplom-Sozialpädagoge (FH)
Gabi Schmidt, Sozialpädagogin
https://schariagegner.wordpress.com/2014/09/17/kommentar-zu-tatjana-hoernles-richtigstellung-zum-artikel-im-berliner-kurier/
Heute stellt Dr. Eva Matthes ("Haut ab!" enttäuscht) wichtige Fragen und schreibt zur Ausstellung des jüdischen Museums durchaus lesenswert.
Dass sich Matthes nicht lediglich gegen den § 1631d BGB stellt ("im juristischen Sinne für verfassungswidrig"), was erfreulich ist, sondern gegen jede Kinderbeschneidung (an Jungen oder Mädchen), Kind ist Mensch unter achtzehn Jahren, stellen wird, insbesondere auch den Lehrinhalt des bekennenden und versetzungsrelevanten Islamischen Religionsuntericht (IRU) betreffend, können wir Aufklärungshumanisten und Menschenrechtsuniversalisten erwarten.
Jungenbeschneidung ist Scharia, mindestans schafiitisch ist dabei das männliche oder weibliche unbeschnittene Genital religiös illegal (ḥarām). Nach Scharia wie Halacha ist das Präputium ist kein Teil des religiös vollständigen Körpers eines Erwachsenen. Der auf der Wörtlichkeit von Koran und Sunna bestehende IRU wird lehren müssen, dass es ein im islamischen Sinne gelingendes Leben als erwachsener muslimischer Unbeschnittener nicht gibt und hätte allein aus diesem Grunde in Bildungspolitik und Schulalltag nicht integriert werden dürfen. Wer als Muslim seinen Sohn und mindestens als Schafiit seine Tochter nicht beschneidet, hat im Jenseits mit Strafe statt mit Lohn zu rechnen:
"(5) Koran und Sunna des Propheten Mohammed bilden die Grundlagen des Koordinationsrats. Dieser Grundsatz darf auch durch Änderungen dieser Geschäftsordnung nicht aufgegeben oder verändert werden."
http://islam.de/files/misc/krm_go.pdf
http://religion-recht.de/2010/08/geschaftsordnung-des-koordinationsrates-der-muslime-in-deutschland/
Immerhin scheint auch die irgendwie religionskundige Matthes (hpd: "unsere Autorin, die Religionswissenschaftlerin Eva Matthes") zu spüren, dass, solange der grundgesetzwidrige § 1631d BGB nicht abgeschafft ist, auch Deutschland und ganz Europa die Legalisierung der weiblichen Sunnabeschneidung droht.
Die Gefahr besteht. Die von Multikulturfreunden bejubelte, elterlicherseits aus Sierra Leone stammende US-Amerikanerin Fuambai Sia Ahmadu beispielsweise kämpft seit 20 Jahren für die Erlaubnis der FGM Typ II, das sind Labienamputationen und Klitorisamputationen sowieso, für die sich in berüchtigter Genitalautonomie (genital autonomy) das acht oder neun Jahre alte Mädchen entscheiden können soll. Menschen unter 18 brauchen keine genitale Autonomie, sondern genitale Intaktheit.
Der FGM und MGM (anatomisch eher unkorrekt) vergleichende und den gegebenen Begründungszusammenhang Islam FGM leugnende ("FGM has no basis in any religion") ranghöchste Familienrichter für England und Wales Sir James Munby (2015) macht offenbar ebenfalls den Weg frei für eine genital verstümmelnde Gleichberechtigung.
Wir werden unseren Bundestagsabgeordneten genau auf die Finger sehen müssen, damit Deutschland weder den § 1631d BGB, so schlagen es wie gehört Ringel/Meyer (2013) vor, noch den § 226a StGB, das fordert Tatjana Hörnle (2014), geschlechtsneutral formuliert.
Edward von Roy
Defragmentierung am Permanenter Link
Vielen Dank von meiner Seite für Ihre Mühe und die informativen Ergänzungen und erhellenden Anmerkungen zu dem bereits guten Artikel.
Guy Sinden am Permanenter Link
"Keine medizinische Beschneidungsdiskussion ist je unabhängig von ideologischen Sichtweisen geführt worden."
Na klar, Menschensrechtsanliegen entspringen einer "Ideologie".
Das ist ein ganz unlauterer Relativismus und zieht implizit Menschensrechtsanliegen auf die religiöse Ebene herunter.
Ulf Dunkel am Permanenter Link
Die "Ideologie" der Intaktivisten ist: Gleiche Rechte für alle, keine Sonderrechte, Genitale Selbstbestimmung natürlich auch für Kinder.
Beschneidungsbefürworter wollen die Beschneidung schützen.
Intaktheitsbefürworter wollen die Kinder schützen.
Wessen "Ideologie" nun mit den Menschenrechten kollidiert, ist m.E. offensichtlich.
Andrzej Kujawiak am Permanenter Link
Spannender Bericht, aber wer schreibt so pointiert und pfiffig?