BONN. (hpd) Der Journalist Mike Smith berichtet in seinem Buch "Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats" über die Entstehung und Entwicklung der islamistischen Gruppe in Nigeria. Damit liegt eine erste deutschsprachige Monographie zum Thema vor, welche die Entwicklungen in den Kontext der Geschichte und Gegenwart eines afrikanischen Landes einordnet, hier und da aber auch eine stärkere analytische Ausrichtung nötig gehabt hätte.
Spätestens durch die 2014 erfolgte Entführung von über 200 Schülerinnen geriet "Boko Haram" auch in den Blick der westlichen Öffentlichkeit. In Nigeria hatte die Gruppe bereits zuvor durch Gewalttaten brutalster Art auf sich aufmerksam gemacht. "Boko Haram" steht für "Westliche Bildung ist verboten". Dabei handelt es sich aber um eine Fremd-, keine Selbstbezeichnung. Diese lautet: "Jama’atu Ahlus-Sunnah Lidda’Awati Wal Jihad", in deutscher Übersetzung: "Menschen, die sich der Verbreitung der Lehren des Propheten und dem Dschihad verpflichtet fühlen".
Während deren Gräueltaten durch Medienberichte weit bekannt sind, liegen nur wenige Informationen zur Entstehung und Entwicklung vor. Eine bilanzierende Darstellung zum gegenwärtigen Wissensstand liefert der Journalist Mike Smith, der seit 2010 den Aufstieg von "Boko Haram" in Nigeria für die Nachrichtenagentur beobachtet hatte. Sein Buch "Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats" geht dabei auch in die Geschichte des durch Kolonialismus geprägten Landes zurück.
Bereits einleitend macht der Autor darauf aufmerksam, dass man bei der Gruppe nicht von einem geschlossen oder homogenen Phänomen sprechen könne: "So lässt sich Boko Haram vielleicht am besten als Oberbegriff für den Aufstand und die mit ihm einhergehende Gewalt betrachten, wobei die einzelnen Anschläge von einer unbestimmten Zahl von Zellen oder Fraktionen verübt werden." Und weiter heißt es: "Etwas, das man als Organisation bezeichnen könnte, existiert vielleicht nur an der Spitze, mit begrenzter Kooperation zwischen den verschiedenen Zellen. Deren Ziele scheinen stark voneinander abzuweichen und reichen von dem aufrichtigen Willen, einen islamischen Staat zu gründen, bis hin zu dem Wunsch, Lösegeld zu kassieren" (S. 27). Durch derartige Ausführungen wird schon deutlich, dass die Aufstandsbewegung mit einer zellenähnlichen Struktur nur begrenzt allgemeine Beschreibungen und Einschätzungen zulässt. Gleichwohl bildet die islamistische Ausrichtung ein einigendes Band für die Gruppe bzw. das Netzwerk.
Smiths Beschreibung bettet die Darstellung von "Boko Haram" in die historisch-politische Entwicklung Nigerias ein, wobei sich für ihn hierbei auch die Folgen einer vom Kreislauf von Armut und Gesetzlosigkeit geprägten post-kolonialen Entwicklung zeigen. Die meisten Bürger des Landes hätten Demokratie als korruptes Regime zur Bereicherung der Herrschenden und Niederhaltung der Armen wahrgenommen. Insofern fand der Kampf des "Boko Haram"-Begründers Mohammed Yusuf gegen westliche Einflüsse breite gesellschaftliche Akzeptanz.
Der Autor beschreibt nach den Rückblicken auf die Geschichte Nigerias dann das Aufkommen der Bewegung, ihre Gewaltakte, aber auch die Reaktionen des Staates. Hierbei betont er die neuen Entwicklungstendenzen, etwa für das Jahr 2013: "Da Boko Haram zuvor nicht dafür bekannt gewesen war, Gebiete zu erobern, sondern sich auf Überfälle konzentriert hatte, bedeutete diese Entwicklung eine dramatische Änderung ihrer Taktik" (S. 188) – und damit einen qualitativen Anstieg des Gefahrenpotentials.
Dies alles macht Smith mit anschaulichen Beschreibungen und großer Sachkunde deutlich. Damit kommt der ersten deutschsprachigen Buchveröffentlichungen zum Thema ein großer Erkenntniswert allein durch den hohen Informationsgehalt zu. Hinsichtlich von Bewertungen und Einschätzungen hält sich der Autor eher zurück. Meist referiert er Aussagen über Gründe und Motive für Tendenzen mit Verweis auf andere Statements, was um der analytischen Dimension willen mehr als nur bedauerlich ist.
Durch die Einbettung der Darstellung von "Boko Haram" in die historisch-politische Entwicklung Nigerias macht er indessen auf diesen gesellschaftlichen Kontext aufmerksam. Sein Buch endet denn auch mit den Worten: "Das Problem ist kein Geringeres als der derzeitige Zustand Nigerias und die Art, wie das Land beraubt wird – seines Reichtums und, wichtiger noch, seiner Würde" (S. 253). Auch wenn hier die Kritik an westlicher Politik gegenüber Afrika eher zurückhaltend formuliert wird, machen Smiths Ausführungen wie eine Fallstudie auf die immer noch nicht überwundenen Folgen einer Kolonialisierung und deren Relevanz für den Islamismus aufmerksam.
Mike Smith, Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats, München 2015 (C. H. Beck-Verlag), 288 S., 14,95 Euro
2 Kommentare
Kommentare
Heinz am Permanenter Link
"Spätestens durch die 2014 erfolgte Entführung von über 200 Schülerinnen geriet"
während die zuvor weit zahlreicher getöteten Jungen und Männer auch hier ignoriert wurden
David am Permanenter Link
ja, ich muss da auch immer aufhorchen.