Interview mit der Zeitung "Das Parlament"

Linken-Fraktionsvize Ernst warnt vor Demokratieverlust durch Freihandel

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Klaus Ernst (2013)
Klaus Ernst (2013)

BERLIN. (hpd) Der wirtschaftspolitische Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag, Klaus Ernst, befürchtet, dass durch Freihandelsabkommen der EU Kontrollrechte der nationalen Parlamente ausgeschaltet werden.

Bei den laufenden Verhandlungen zum transatlantischen Handelsabkommen TTIP sei sein Eindruck, "dass Bevölkerung und Parlamente bewusst herausgehalten werden", sagte Ernst im Interview der Wochenzeitung Das Parlament. Nicht einmal Abgeordnete erhielten Einsicht in die Verhandlungsdokumente. Zudem prüfe der Europäische Gerichtshof auf Betreiben der EU-Kommission, ob das Handelsabkommen mit Singapur ein gemischtes Abkommen ist oder nicht, "ob also die nationalen Parlamente mitreden dürfen oder nicht". "Die Entscheidung wird Auswirkungen auf alle Abkommen haben", warnte Ernst. Von dem längst ausgehandelten CETA-Abkommen zwischen der EU und Kanada habe der Bundestag "immer noch keinen autorisierten Text und keine amtliche Übersetzung", kritisierte Ernst. Im CETA-Abkommen seien private Schiedsgerichte für Streitigkeiten zwischen Unternehmen und Staaten vorgesehen.
 

Das Interview im Wortlaut:

Herr Ernst, Ihre Fraktion begnügt sich nicht mit Forderungen zum transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP, sondern Sie verlangen gleich einen Stopp der Verhandlungen. Warum so drastisch?

Stopp heißt nicht keine Verhandlungen, sondern Neustart auf anderer Ebene. Nämlich fairen Handel zu organisieren, nicht Freihandel. Wir sind aus vier Gründen prinzipiell gegen diese Form der Verhandlungen. Der erste: Alles vollzieht sich hinter dem Rücken der Menschen, die Verhandlungen sind nach wie vor nicht transparent, auch nicht für die Abgeordneten. Der zweite Punkt: TTIP und auch das CETA-Abkommen mit Kanada beinhalten eine besondere Gerichtsbarkeit für Unternehmen. Selbst wenn jetzt der Vorschlag der SPD durchkäme, statt privater Schiedsgerichte einen internationalen Handelsgerichtshof einzurichten, wäre das ein Sondergericht für international tätige Unternehmen, nicht für den normalen Bürger. Drittens die Frage: Wer setzt die Regeln? Aus meiner Sicht müssen sie demokratisch gesetzt werden. Wenn man das über den regulatorischen Rat macht, sind die Parlamente und damit die Bürger draußen. Viertens haben wir große Befürchtungen, dass es zu einem Absenken der Standards kommt und nicht der jeweils beste Standard vereinbart wird.
 

Bei erwähnten Schiedsgerichten wurde vor allem kritisiert, dass sie aus privaten Rechtsanwälten bestehen und es keine Berufungsinstanz gibt. Der Vorschlag, den die EU-Kommission jetzt durchsetzen will, sieht Berufsrichter vor und eine Berufungsinstanz. Warum sind Sie trotzdem noch dagegen?

Weil sich ja weiter die Frage stellt: Warum muss zum Beispiel ein deutsches Unternehmen, wenn es Probleme mit dem Atomausstieg hat, vor ein deutsches Gericht gehen, aber Vattenfall kann vor ein Schiedsgericht gehen oder einen internationalen Handelsgerichtshof? Wir brauchen solche Sondergerichte nicht, das ist übrigens ein Argument des Bundeswirtschaftsministers von vor einem Jahr. Wir haben einen Rechtsstaat in den USA, wir haben Rechtsstaaten in der Europäischen Union, sonst wären sie gar nicht drin, wir haben einen Rechtsstaat in Kanada. Zwischen diesen Ländern ist daher weder ein Schiedsgericht noch ein internationaler Handelsgerichtshof notwendig.
 

Nun hat ja allein Deutschland schon über hundert Freihandelsabkommen abgeschlossen, in denen Schiedsgerichtsverfahren vorgesehen sind, ohne dass sich bisher jemand groß aufgeregt hat. Was ist dann jetzt so alarmierend?

Damals ging es darum, dass ein Industrieland Investitionen in einem politisch relativ unstabilen Land ermöglichen wollte. Da galt es, einem Investor die Sicherheit zu geben, dass er zum Beispiel nicht enteignet wird. Jetzt ist der Charakter ein ganz anderer, es geht um Rechtsstaaten.
 

Ein anderer Punkt, den Sie angesprochen haben, ist die Sorge, dass Verbraucherschutz- und Umweltstandards abgesenkt werden. Nun ist unbestritten, dass die USA in manchen Gebieten sogar strengere Standards haben als wir. Woher also diese Befürchtung?

Weil wir wissen, dass bei den Verhandlungen, die die Europäische Union führt, schon Standards, die in Europa gelten, zur Debatte gestellt werden. Die Verhandler haben ja das Ziel, letztlich für die Hersteller in Europa und in Amerika die Kosten zu senken. Das würden sie aber nicht, wenn man überall den besseren Standard nimmt.
 

Das Hauptargument der TTIP-Befürworter ist, dass wenn nicht Europa und die USA die Normen für den weltweiten Handel setzen, es andere tun, und dass dabei etwas Schlechteres herauskommt.

Ich wundere mich über dieses Argument. Wenn die USA jetzt ein Handelsabkommen mit China machen, dann betrifft das die Chinesen und die Amerikaner. Ich habe noch niemanden gehört, der ernsthaft behauptet, dass deshalb der Handel zwischen Europa und Asien oder Europa und den USA weniger würde. Im Gegenteil: Wenn diese schlechtere Standards als unsere zum Beispiel im Verbraucherschutz vereinbaren, wird es für uns billiger, dorthin zu exportieren. Und wenn wir unsere Standards halten, dann müssen diese, wenn sie uns etwas liefern wollen, diese Standards beachten. Das ist also ein vorgeschobenes Argument.
 

Ein Punkt, bei dem sich deutsche und europäische Unternehmen Vorteile erhoffen, ist die öffentliche Auftragsvergabe, bei der sie jetzt in den USA kaum zum Zuge kommen. Ist das nichts, womit Sie sich anfreunden könnten?

Nein, gerade das halte ich für groben Unfug. In Kanada und den USA ist das "Buy American" teilweise sogar in den Verfassungen der Bundesstaaten geregelt. Und warum sollte zum Beispiel eine Gemeinde, die einen Auftrag zum Bau einer Schule vergibt, nicht erst einmal sehen, dass diejenigen das bauen, die in der Region leben und die Steuern aufbringen? Was wäre der Vorteil, wenn die ihren Job verlieren, weil irgendjemand, sagen wir im Schwarzwald, das billiger könnte? Wir erleben das Prinzip ja schon jetzt. Öffentliche Aufträge müssen europaweit ausgeschrieben werden. Mir haben Bauunternehmer gesagt, dass dann Leute aus Osteuropa kommen, teilweise über Werkverträge organisiert, die hier grottenschlecht bauen. Aber es geht nur noch nach dem Preis, und im Ergebnis verlieren die Leute hier ihren vernünftigen Job mit höheren Standards, und die schlechte Bauleistung bleibt übrig.
 

Am Ende haben doch die Parlamente das letzte Wort, das Europaparlament wie auch die nationalen Parlamente in Europa und Amerika. Warum warten Sie nicht einfach ab? Vielleicht kommt ja etwas Besseres heraus, als Sie jetzt befürchten.

Weil ich durch das ganze Vorgehen den Eindruck habe, dass die Bevölkerung bewusst herausgehalten werden soll, und dass auch die Parlamente bewusst herausgehalten werden. Vor dem Europäischen Gerichtshof wird auf Betreiben der EU-Kommission geklärt, ob das Handelsabkommen mit Singapur ein gemischtes Abkommen ist oder nicht, ob also die nationalen Parlamente mitreden dürfen oder nicht. Die Entscheidung wird Auswirkungen auf alle Abkommen haben. Vor diesem Hintergrund traue ich der EU-Kommission einfach nicht. Und wenn wir nicht einmal als Parlamente Einsicht in die TTIP-Dokument erhalten, wenn wir immer noch keinen autorisierten Text und keine amtliche Übersetzung des längst ausgehandelten CETA-Abkommens haben, habe ich den Eindruck, dass wir hier sehr, sehr vorsichtig sein müssen.
 

Aber obwohl Sie den Text noch nicht haben, fordern sie jetzt schon, das CETA-Abkommen abzulehnen.

Ja, weil wir den Text auf englisch haben, auch wenn es noch nicht amtlich ist. In CETA sind die Schiedsgerichte vorgesehen. Würden wir das Ankommen jetzt akzeptieren, bräuchten wir eigentlich über TTIP gar nicht mehr zu reden. Denn 80 Prozent der amerikanischen Unternehmen, die in Europa agieren, sind auch in Kanada und könnten von dort auf die Schiedsgerichte zugreifen.
 

Was sollte denn Ihres Erachtens an Stelle dieser Freihandelsabkommen stehen?

Ich gebe ein Beispiel. Ich war im Sommer mit den Ausschuss für Arbeit und Soziales in Bangladesch. Ich könnte Ihnen Fotos zeigen von Jungs und Mädchen, die mit neun, zehn Jahren in der Textilfabrik arbeiten. Wir brauchen Handelsabkommen, nach denen Waren, die mit Kinderarbeit, Lohn- oder Umweltdumping produziert wurden, nicht in Europa verkauft werden können, und umgekehrt. Das würde nicht dazu führen, dass dort nichts mehr produziert wird, sondern dass sich dort etwas ändert.

Das Interview erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" (Erscheinungstag: 5. Oktober 2015)