Mit Hamed Abdel-Samad und Prof. Dr. Mouhanad Khorchide im Gespräch

Humanismus als letzte Chance des Islams? (2)

hpd: Herr Prof. Khorchide, Sie und Herr Abdel-Samad werden also von der Ditib nicht geliebt. Sie selbst wurden in Beirut, dem Paris des Nahen Ostens, geboren. Später lebten Sie in Saudi-Arabien mit seinem wahabitischen Islamverständnis. Hat dieser scharfe Kontrast zu Ihrer heutigen Sicht auf den Islam geführt; eine Sichtweise, die konservativen Islamverbänden in Deutschland viel zu moderat erscheint?

MK: Die Biographie eines jeden Menschen spielt natürlich eine Rolle, wie er sich entwickelt. Ich habe das erlebt, als wir in den Ferien im Libanon waren: eine sehr heterogene Gesellschaft, in der unsere Nachbarn auf der einen Seite Christen, auf der anderen Seite Schiiten - wir sind Sunniten – waren. Das war alles friedlich und das Zusammenleben konstruktiv. In Saudi-Arabien habe ich etwas ganz anderes gelernt, dass Schiiten Abtrünnige, keine Muslime seien. Mit Christen darf man sich nicht einlassen. Man darf ihnen nicht zu Weihnachten gratulieren usw.

Natürlich, das prägt einen Menschen und spätestens, als ich zum Studieren nach Wien kam und dort viele Rechte hatte, die ich in Saudi-Arabien von den eigenen Glaubensbrüdern und -schwestern nicht bekam. Allein, dass ich dort in Saudi-Arabien als Ausländer nicht studieren und keine Sozialversicherung haben durfte. Diese Rechte habe ich bei den "Nichtmuslimen" bekommen. Natürlich stellen sich dann die großen Fragen im Kopf eines jungen Menschen: Warum soll Gott diese Menschen bis in alle Ewigkeit verdammen? Nur, weil sie die falsche Überschrift haben? Kommt es Gott wirklich nur darauf an, was wir in den Geburtsurkunden stehen haben? Großes Fragezeichen. Das führte schon zum kritischen Nachdenken.
 

hpd: Herr Abdel-Samad. Sie stammen aus Ägypten und wurden - vermutlich im Gegensatz zu Prof. Khorchide - religiös sehr stark durch ihren Vater indoktriniert. Was hat Ihnen geholfen, diese Prägung zu überwinden, so dass Sie heute – aus islamischer Sicht – vom Paulus zum Saulus wurden und sogar mit dem Propheten abrechnen?

HAS: Das ist eine lange Reise. Ich kann nur bestätigen, was Mouhanad Khorchide gesagt hat. Natürlich spielt die Biographie eines jeden Einzelnen eine Rolle. Aber wer soll kritisieren, wenn nicht Menschen, die unterschiedliche Welten gesehen haben? Die Ditib wird den Islam nicht kritisieren, weil sie vom Islam Geld kassiert. Das ist ihre Existenzgrundlage. Das heißt die, die vielleicht darunter gelitten und andere Erfahrungen gemacht haben, die andere Welten gesehen haben, sind viel berechtigter das zu tun. Das sollte man ihnen nicht vorwerfen, dass sie unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, und sie deshalb kritisieren.

Wie kam ich zu meiner kritischen Haltung? Ich begann Fremdsprachen zu lernen und andere Literatur zu lesen, ein Fenster auf die Welt zu sehen. Als ich zum Beispiel zum ersten Mal Faust gelesen habe, war ich fasziniert von dem Gedanken, dass man mit Gott hadern kann. Dass man seinen eigenen Weg gehen kann, auch wenn es Gott nicht gefällt. Geholfen hat auch, als ich die Doppelmoral der Muslimbruderschaft gesehen habe, dass sie Wasser predigen und Wein trinken. Auch als ich diese Doppelmoral bei mir selbst festgestellt habe und mitbekam, dass viele arabische Studenten in meiner Umgebung – mit der gleichen Biographie wie ich - das eine erzählen und privat etwas ganz anderes leben. Weil diese idealisierte Haltung zur Religion und dieser moralische Purismus nicht menschlich sind. All das hat dazu geführt, dass ich überlegt habe: Moment mal, irgendetwas stimmt nicht. Als ich das alles deutschen Studenten als Islamwissenschaft beibringen sollte, habe ich mich wissenschaftlich mit der Biographie von Mohamed und dem Koran auseinandergesetzt. Doch was sollte ich ihnen beibringen? Dass der Prophet Mohamed in einer Höhle war und eine Botschaft von Gott empfangen hat? Das ist unwissenschaftlich. Das hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Ich musste eine menschliche Erklärung für das alles finden. Ich musste sowohl die positive als auch die negative Seite von Mohamed beleuchten. Das gleiche mit dem Koran. Erst dann, als ich das vermenschlicht hatte, wurden die Widersprüche und die damit verbundenen Probleme deutlich - auch die Konsequenzen für unsere Zeit. Das hat zu meiner kritischen Haltung geführt.
 

hpd: Herr Prof. Khorchide, ein muslimisch sozialisierter Bürger mag Allah sehen wie er will. Mir als Ungläubigem wurde beim Lesen des Korans angst und bange. Hunderte von Male werde ich mit Höllenfeuer bedroht, falls ich nicht aufrichtigen Herzens konvertiere oder eine Kopfsteuer bezahle. Es gibt etliche Kenner, die diese Angstpädagogik als erwünschte Wirkung von Bibel und Koran sehen. Was hat Sie dazu gebracht, Allah als barmherzig anzusehen – außer der Tatsache, dass sie selbst Moslem sind?

Gott glaubt an den Menschen

MK: Na ja, das ist der Selbstanspruch des Korans. Wenn 113 der 114 Suren immer mit der Formel "Im Namen Gottes, des Allbarmherzigen" beginnen oder wenn jemand einen Brief an Sie schreibt und immer mit dieser Barmherzigkeits-Formel beginnt, dann denken Sie sicher, dass es selbstverständlich ein Anliegen dieser Person ist, sich barmherzig zu zeigen. Natürlich gibt es diese Stellen im Koran, die Gewalt ansprechen oder mit Höllenfeuer drohen. Die Frage ist wie gesagt: Wie liest man das alles heute? Auch Hölle und Paradies lese ich metaphorisch. Das ist meine Lesart, die übrigens auch von großen muslimischen Gelehrten wie al-Ghazali, der 1111 gestorben ist, vertreten wird.

Angst zu machen bedeutet, dass man Menschen zum Beispiel zwingen will zu beten oder an Gott zu glauben, sonst würden sie in die Hölle gehen. Das heißt, man macht den Menschen kein Angebot, zu Gott zu kommen, sondern droht ihnen: Wenn ihr das nicht macht, geschieht dieses oder jenes. Das heißt, die Menschen müssen gehorchen und aus Angst vor einer Strafe oder einer Sanktion so tun, als würden sie an Gott glauben. Aber im Grunde ihres Herzens tun sie das nicht.

HAS: Aber wenn Gott an den Menschen glaubt – was die These Ihres Buches ist –, dann würde er sie einladen, seine Botschaft anzuerkennen, ohne, dass er sie gleich mit dem ewigen Höllenfeuer bedroht. Die Tatsache, dass er sie bedroht, zeigt, dass er nicht an sie glaubt. Das zeigt auch, warum der Begriff "Mensch" im Koran immer negativ besetzt ist. Der Mensch ist ein Versager, der Mensch ist ein Lügner, der Mensch ist ein Ungläubiger, der Mensch ist anmaßend, der Mensch ist arrogant. Wann immer der Begriff "Mensch" im Koran auftaucht, gibt es immer ein negatives Attribut dazu. Wenn Gott wirklich an den Menschen glaubte, dann wäre der Begriff "Mensch" im Koran positiv besetzt. Auch der Begriff "das Leben" wird im Koran immer negativ beschrieben, denn dieses Leben gilt nichts. Nur das ewige Leben im Jenseits ist das Ziel. Ich kann daraus nicht lesen, dass Gott tatsächlich an den Menschen glaubt. Er arbeitet mit Angstpädagogik.

MK: Der Ton und die verwendeten Bilder im Koran verraten mehr über die Adressaten im 7. Jh., als über Gott. Adressaten, die es notwendig hatten, dass man mit ihnen in diesem Ton redet. Deshalb kann ich das historisch verorten. Offensichtlich hatten es die Mekkaner nötig gehabt, dass man so mit ihnen redet, aber dennoch bleibt für mich heute die Barmherzigkeit als Selbstanspruch des Korans oberste Maxime. Entsprechend dieser Maxime stelle ich die Frage: Wie würde der Koran heute zu uns sprechen, mit welchem Ton und mit welchen Bildern? Wie wird sich die Barmherzigkeit entfalten? Die Adressaten sind immer beteiligt an der Ausrichtung der jeweiligen Botschaft.