Carlo Strenger: Erziehung zur Freiheit notwendig

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Carlo Strenger, 2010
Carlo Strenger, 2010

BERLIN. (hpd) Zum Jahresende hat sich Carlo Strenger in der NZZ mit einem Resümee des vergangenen Jahres zu Wort gemeldet und die Frage aufgeworfen, was von den Pariser Massakern zu lernen sei. Seine Antwort: “Wir müssen zur Freiheit erziehen”.

Richtig sei – wie in Paris geschehen - weiterhin ins Cafe und in Konzerte zu gehen, denn die freiheitliche Lebensform dürfe nicht wegen des islamistischen Terrors aufgegeben werden. Doch allein das reicht nach Strengers Auffassung nicht aus.

Carlo Strenger treibt das Thema der Verteidigung einer freiheitlichen Gesellschaft um. Dies zeigt sich in einer Vielzahl von Kolumnen in der NZZ aber auch in seiner in 2015 veröffentlichten Schrift “Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit”. Er wirft darin den “Multikulturalisten” eine relativistische Tendenz der politischen Korrektheit vor; die Vorstellung, alle Meinungen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, sieht er als verantwortlich dafür an, dass oftmals der Mut fehle, die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft (er nennt: Freiheit, Kritik und offene Diskussion) zu vertreten und zu verteidigen. Das Feld werde den Rechten überlassen und damit die Demokratie beschädigt, ist seine (höchstaktuelle) Warnung.

Strenger plädiert für eine Rückkehr zu einem fundamentalen Prinzip der Aufklärung: der Kritik, über die niemand erhaben sein dürfe.

Im “Jahresrückblick 2015” hebt Strenger hervor, dass eine freiheitliche Ordnung mehr brauche als “Unterhaltung um jeden Preis” und eine “Wahlfreiheit zwischen Konsumprodukten”. Man wird ihm nur zustimmen können, wenn er diese Ordnung als eine “große zivilisatorische Errungenschaft” bezeichnet, die auf einem über Jahrhunderte entwickelten (ja, man muss sagen: erkämpften – mit Vernichtung der bürgerlichen Existenz, Verfolgung, Inhaftierung, Vertreibung, mit Vernichtung auch der physischen Existenz erkämpften) “komplexen Gewebe von Rechtsstaat, Zivilgesellschaft und Kultur beruht”.

Strengers Forderung geht dahin, auch die intellektuellen Voraussetzungen zu schärfen, um im Konflikt zwischen freiheitlicher Ordnung und Totalitarismus bestehen zu können; freiheitliche Erziehung bezeichnet er als “Existenznotwendigkeit für unsere Lebensform als Ganze.”

Das erfordere besondere Anstrengungen im Schul- und im Hochschulbereich – weniger die Aneignung von Multiple-Choice-Wissen, weniger der nahezu ausschließlichen Orientierung auf Zugang zu Berufen und Status – mehr (auch) Allgemeinbildung, die Verfolgung eines “Humanistischen Bildungsideals”, wie Carlo Strenger dies nennt.

Wieder einmal kritische, warnende, orientierende Äußerungen des Philosophen aus Tel Aviv, die Anlass zu vielerlei Reflexionen geben, auch wenn man nicht notwendigerweise jedem Begründungselement der Strenger’schen Position zustimmen muss. Sie schärfen auf jeden Fall den Blick für das Wesentliche und rücken manches Übersehene in`s Bild.

Carlo Strenger ist Publizist sowie Professor für Philosophie und Psychologie in Tel Aviv, 1958 in Basel geboren und in einer jüdisch-orthodoxen Familie aufgewachsen. Er publiziert regelmäßig in der NZZ zu aktuellen Themen.