BERLIN. (hpd) Zum Jahresende hat sich Carlo Strenger in der NZZ mit einem Resümee des vergangenen Jahres zu Wort gemeldet und die Frage aufgeworfen, was von den Pariser Massakern zu lernen sei. Seine Antwort: “Wir müssen zur Freiheit erziehen”.
Richtig sei – wie in Paris geschehen - weiterhin ins Cafe und in Konzerte zu gehen, denn die freiheitliche Lebensform dürfe nicht wegen des islamistischen Terrors aufgegeben werden. Doch allein das reicht nach Strengers Auffassung nicht aus.
Carlo Strenger treibt das Thema der Verteidigung einer freiheitlichen Gesellschaft um. Dies zeigt sich in einer Vielzahl von Kolumnen in der NZZ aber auch in seiner in 2015 veröffentlichten Schrift “Zivilisierte Verachtung – Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit”. Er wirft darin den “Multikulturalisten” eine relativistische Tendenz der politischen Korrektheit vor; die Vorstellung, alle Meinungen, Glaubenssätze und Lebensformen hätten den gleichen Respekt verdient, sieht er als verantwortlich dafür an, dass oftmals der Mut fehle, die fundamentalen Werte der offenen Gesellschaft (er nennt: Freiheit, Kritik und offene Diskussion) zu vertreten und zu verteidigen. Das Feld werde den Rechten überlassen und damit die Demokratie beschädigt, ist seine (höchstaktuelle) Warnung.
Strenger plädiert für eine Rückkehr zu einem fundamentalen Prinzip der Aufklärung: der Kritik, über die niemand erhaben sein dürfe.
Im “Jahresrückblick 2015” hebt Strenger hervor, dass eine freiheitliche Ordnung mehr brauche als “Unterhaltung um jeden Preis” und eine “Wahlfreiheit zwischen Konsumprodukten”. Man wird ihm nur zustimmen können, wenn er diese Ordnung als eine “große zivilisatorische Errungenschaft” bezeichnet, die auf einem über Jahrhunderte entwickelten (ja, man muss sagen: erkämpften – mit Vernichtung der bürgerlichen Existenz, Verfolgung, Inhaftierung, Vertreibung, mit Vernichtung auch der physischen Existenz erkämpften) “komplexen Gewebe von Rechtsstaat, Zivilgesellschaft und Kultur beruht”.
Strengers Forderung geht dahin, auch die intellektuellen Voraussetzungen zu schärfen, um im Konflikt zwischen freiheitlicher Ordnung und Totalitarismus bestehen zu können; freiheitliche Erziehung bezeichnet er als “Existenznotwendigkeit für unsere Lebensform als Ganze.”
Das erfordere besondere Anstrengungen im Schul- und im Hochschulbereich – weniger die Aneignung von Multiple-Choice-Wissen, weniger der nahezu ausschließlichen Orientierung auf Zugang zu Berufen und Status – mehr (auch) Allgemeinbildung, die Verfolgung eines “Humanistischen Bildungsideals”, wie Carlo Strenger dies nennt.
Wieder einmal kritische, warnende, orientierende Äußerungen des Philosophen aus Tel Aviv, die Anlass zu vielerlei Reflexionen geben, auch wenn man nicht notwendigerweise jedem Begründungselement der Strenger’schen Position zustimmen muss. Sie schärfen auf jeden Fall den Blick für das Wesentliche und rücken manches Übersehene in`s Bild.
Carlo Strenger ist Publizist sowie Professor für Philosophie und Psychologie in Tel Aviv, 1958 in Basel geboren und in einer jüdisch-orthodoxen Familie aufgewachsen. Er publiziert regelmäßig in der NZZ zu aktuellen Themen.
5 Kommentare
Kommentare
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
In der Tat ist Freiheit ein höchst fragwürdiges Gut. Unfreiheit hat auch ihren Reiz, weil sie von Verantwortung entlastet. Wer absolut frei ist, trägt schließlich absolute Verantwortung.
Fundamentalistisch gelebte Religion entbindet letztlich von jeder Verantwortung, außer der einen, nämlich gottgefällig zu leben. Speziell der Islam in seiner reformunfähigen Erscheinung schreibt seinen Anhängern praktisch den gesamten Tages- und Lebensablauf vor. Es gibt nichts, was nicht in haram oder halal unterteilt wäre. Imame werden gefragt, ob Gummibärchen oder Coca Cola haram oder halal wären. In diesen Kabinettstückchen religiotischen Verhaltens zeigt sich die ganze Absurdität und Gefährlichkeit, aber auch der Reiz gerade dieser "reinen" Religion.
Ein freiheitlich erzogener Mensch, Strengers Ideal, würde erschauern, wenn er bei jeder Zutat seines Essens einen Geistlichen um Erlaubnis zum Genuss fragen müsste. Er hat gelernt, selbst zu entscheiden, was gut für ihn ist oder was er besser vermeidet. Das macht ihn in praktisch allen Lebensumständen überlebensfähig, ohne auf fremden Rat angewiesen zu sein. Ein eindeutiger evolutionärer Vorteil.
In einem funktionierenden Umfeld ist jedoch der Weg des Islams (Scharia) die bequemere Variante. Und falls sich der Imam irrt, dann ist das Opfer seines Irrtums nicht Schuld an seiner Misere. Und so funktioniert diese Gesellschaftsform nur in völlig autarken Verbänden, die idealerweise keinerlei Kontakt zu anderen (demokratischen) Gesellschaftsformen haben.
Ist der Kontakt (wie in einer globalisierten Welt) unvermeidbar, dann werden nach dem gleichen Grundmuster externe Kräfte für das eigene Versagen verantwortlich gemacht: vornehmlich die USA oder Israel. Wem immer ein Schuldiger für eigene Fehler angeboten wird (weil Eigenverantwortung nie gelehrt wurde), der wird auch stets nach Schuldigen außerhalb der eigenen Verantwortung suchen.
Dies erklärt die andauernde Unfähigkeit islamischer Länder, sich aus ihren zivilisatorischen Windeln zu erheben. Und wo dies mal gelingt, wie in Tunesien, sind sofort die fundamentalistischen Eiferer zur Stelle, die das niedermachen wollen. Auch die in bequemer Unverantwortlichkeit Erzogenen wehren sich gegen diese anstrengende Demokratie.
Aber werfen wir den Stein nicht zu weit: Auch in den Demokratien Europas weigern sich Bürger beharrlich, sich um politische Bildung zu bemühen. Deshalb haben Populisten leichtes Spiel, mit dumpfbackigen Parolen auf Stimmenfang zu gehen. Politische Großwetterlagen werden nur von einer kleinen Minderheit wirklich verstanden. Die Folgen sind gewählte Politiker, die in ihren Parteien mit Ellenbogen und schlagkräftigen Parolen Karriere gemacht haben und dann entsprechend (mit)regieren.
Wir sollten also darauf einwirken, dass politische Bildung, bzw. die Fähigkeit zur politischen Meinungsbildung, zentrales Unterrichtsfach in den Schulen wird - selbstverständlich auch bindend für alle Migranten. Stattdessen leben wir in einem Land, in dem als einziges Schulfach Religion vom Grundgesetz bindend vorgeschrieben ist.
Ausgerechnet Religion, die uns das genaue Gegenteil von dem vermittelt, was ein Menschen bezüglich der Freiheit lernen sollte: Unser Schicksal liegt in "Gottes" Händen und mit "Gott"vertrauen kommen wir durchs Leben.
Christian am Permanenter Link
Ich kann dem Text nur zustimmen. Religion muss kritisiert werden dürfen wie jede andere Position auch.
Ich habe mir angewöhnt, hier Klarzext zu sprechen:
Wenn mir gegenüber jemand erzählt, dass er einer Religion ungehört, sage ich, dass ich deren Lehre für sachlich falsch halte. Meistens kommt dann die Nachfrage, warum ich so "agressiv" sei. Die meisten Menschen verstehen aber die Erklärung "du hast doch grade auch gesagt, dass du mein naturalistisches Weltbild für sachlich falsch hältst."
Oft stellt sich dann heraus, dass die Leute einem bestimmten Brauchtum anhängen aber in der Sache garnicht von ihrer Religion überzeugt sind. Manchmal entwickelt sich eine Diskussion über Belege und Evidenzstandards. Oder Leute haben keine Lust auf Diskussion (was auch ok ist!). Wer immernoch beleidigt ist, dem kann ich nicht helfen...
Walter Otte am Permanenter Link
Um keine Unklarheiten aufkommen zu lassen: Carlo Strenger geht es bei seinen Warnungen keineswegs nur um den Islamismus oder gar um "den Islam".
Eine seiner zentralen Aussagen:
"Wir müssen zuerst verstehen, dass die ganz große Gefahr dadurch entsteht, dass die Linke und die politische Mitte die Verteidigung der Freiheit während Jahren der Rechten sozusagen outgesourct hat. Und die große Gefahr besteht darin, dass wenn Angriffe auf den Westen, sei es nun durch Islamisten oder durch Putin oder andere Gefahren entstehen, wenn die politische Mitte und die politische Linke nicht bereit ist, die Verteidigung unserer Grundwerte auf sich zu nehmen, dann kommt die Rechte und stellt sich als die einzige Verteidigerin dieser Werte dar und macht dann natürlich auch mit dieser sogenannten Verteidigung gerade die Grundwerte der Freiheit letztlich kaputt." hat er in einem Interview mit dem Deutschlandfunk ausgeführt. Islamisten, Putin und andere! http://www.deutschlandfunk.de/gefaehrdung-der-freiheit-es-geht-um-den-aufstand-der.694.de.html?dram:article_id=313996 In dem im Artikel erwähnten Buch positioniert er sich klar gegen Thilo Sarrazin und gegen Ignoranten (so seine Bezeichnung), die behaupteten, der Islam sei strukturell nicht demokratiefähig und tendiere stärker zur Gewalt als andere Religionen. Strenger kritisiert auch Positionen der katholischen Kirche als verachtenswert, fundamentalistische Protestanten, fanatische Abtreibungsgegner und ultraorthodoxe Rabbiner. Carlo Strenger ist kein Einäugiger.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Herr Otte,
ich habe weder Ihren Bericht, noch Christians oder meinen Kommentar so verstanden, dass Strenger ausschließlich den Islam kritisiere. Er zeigt aber Mechanismen auf, wie Religionen (auch der Islam) zur Unfähigkeit, in Freiheit leben zu können, beitragen.
"In dem im Artikel erwähnten Buch positioniert er sich klar gegen Thilo Sarrazin und gegen Ignoranten (so seine Bezeichnung), die behaupteten, der Islam sei strukturell nicht demokratiefähig und tendiere stärker zur Gewalt als andere Religionen."
Die Anlage zur Gewalt oder zur Aufhetzung zu Gewalt ist allen monotheistischen Religionen zu eigen. Dazu muss man nur deren "heiligen" Schriften lesen. Wobei der Islam seine Demokratiefähigkeit noch unter Beweis stellen muss. Auch würde ich derzeit ein wenig mehr islamisch motivierte Gewalttaten weltweit sehen, als solche von anderen Religionsgemeinschaften. Und dass diese Gewalttaten etwas mit dem Islam als solches zu tun haben, hat sogar der von uns beiden sehr geschätzte Prof. Khorchide bestätigt.
Aber das ist alles nicht der springende Punkt: Religionen sind in ihrem Markenkern Lügen, die möglicherweise eines Tages ungefährlich gemacht werden können. Aber eins sind sie heute gewiss schon: überflüssig!
C.Scherg am Permanenter Link
Danke, Herr Otte, für die Klärung bezüglich dieses neuerdings mehr oder weniger subtil verbereiteten all zu klaren Feindbildes ("speziell der Islam").