Neuwahlen in Israel:

Bibi, der Alternativlose

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Benjamin "Bibi" Netanjahu, 2016
Benjamin "Bibi" Netanjahu, 2016

Benjamin "Bibi" Netanjahu ist mit ziemlicher Sicherheit der neue, alte Ministerpräsident Israels. Am 15. November wird sich das fünfte Parlament (Hebräisch: Knesset) in dreieinhalb Jahren formen, wo Netanjahus rechtskonservative Koalition voraussichtlich 64 der 120 Sitze besetzen wird – davon mehr als die Hälfte mit orthodoxen oder streng orthodoxen Abgeordneten. Ein Rück- und Ausblick aus humanistischer Perspektive.

Sechzehn Monate ohne Netanjahu: Eine Bilanz

Die 2021 hauchdünn zusammengekommene "Bloß nicht Bibi"-Koalition (der hpd berichtete) zerfiel – nicht allzu überraschend – nach nicht einmal einem Jahr im Amt aufgrund verschiedener Faktoren. Zum einen wäre da die an Unvereinbarkeit grenzende ideologische Diversität der Koalition. Zum anderen ist der Konflikt zwischen Israel und Palästina seitdem rapide eskaliert.

Das vergangene Jahr ist von einem starken Anstieg politischer Gewalt in der Westbank gekennzeichnet, wie ein Bericht des Armed Conflict Location & Event Data Project zeigt. In den ersten zehn Monaten des laufenden Jahres sind über 120 Menschen in der Westbank gestorben – verglichen mit knapp 100 Toten über das gesamte Jahr 2021 ein Anstieg von, extrapoliert, mehr als 40 Prozent.

Gleichzeitig sah sich die Koalition unter den rotierenden Premierministern Naftali Bennett und Yair Lapid mit einem Sprung nach oben bei der Zahl der Terrorangriffe konfrontiert. Inmitten der tödlichsten Terrorwelle seit sieben Jahren befürchten manche – nicht zu Unrecht – eine dritte Intifada herannahen.

Yair Lapid (links) und Naftali Bennett (rechts) mit Präsident Reuven Rivlin (mitte), Juni 2021
Yair Lapid (links) und Naftali Bennett (rechts) mit Präsident Reuven Rivlin (mitte), Juni 2021, Foto: © Haim Zach/Government Press Office, Wikipedia, CC BY-SA 3.0

Linke Kritiker*innen werfen vor allem Bennett vor, seine Herangehensweise gehe an der Lebensrealität und den Bedürfnissen der Menschen in der Westbank und in Gaza vorbei. Andere dagegen insistieren, dass die Strategie der nun abgewählten Regierung – beispielsweise Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigungen ausstellen und die Kommunikation mit der politischen Führung Palästinas intensivieren – den Terrororganisationen sogar Vorschub leiste.

Religiöse Überrepräsentation

Netanjahus designierte Regierungskoalition macht derweil nicht den Eindruck, diskursive Ansätze verfolgen zu wollen. Zwei der vier Parteien, Shas und United Torah Judaism, sind streng orthodoxe Parteien, deren Abgeordnete durchweg männlich sind, sogar sein müssen. Religious Zionism, eine neue konservativ-orthodoxe Partei, die streng orthodoxen Themen nahesteht, komplettiert Netanjahus Regierungsquartett.

Die Abgeordneten dieser drei Parteien sowie sieben Abgeordnete von Netanjahus Partei Likud – insgesamt 39 der 64 Abgeordneten der Regierungskoalition – sind als orthodox zu verorten. Etwa zwei Drittel dieser 39 Abgeordneten wiederum sind streng orthodox. Nicht ganz ohne Anlass fragt also Judy Maltz von der israelischen Tageszeitung Haaretz: "Wird Israel zur Theokratie?"

Demonstration gegen Netanyahu unter dem Motto "Komm nicht zurück" in Haifa, Oktober 2022
Demonstration gegen Netanjahu unter dem Motto "Komm nicht zurück" in Haifa, Oktober 2022, Foto: © Hanay, Wikipedia, CC BY-SA 3.0

"Ich denke nicht, dass Israel ein vollständiger Torah-Staat wird. Aber wir werden uns dem weiter annähern, als jemals zuvor", so Rabbi Uri Regev, Präsident und Geschäftsführer von Hiddush (deutsch: "Erneuerung"), einer NGO, die sich für Religionsfreiheit in Israel einsetzt, zu Haaretz.

In der aktuellen Ausgabe einer jährlich durchgeführten Meinungsumfrage – dem "2022 Israel Religion & State Index" – detailliert Hiddush, dass die überproportionale Repräsentation orthodoxer Themen und Parteien in der künftigen Regierung nicht unbedingt die gesellschaftliche Realität abbildet. Exemplarisch ist hierfür die Behandlung streng orthodoxer Schulen. Netanjahu spielt mit dem Gedanken, staatliche Fördergelder unabhängig davon zu stellen, ob besagte Schulen die Fächer Mathematik, Naturwissenschaften und Englisch (in Israel als "Kernkurrikulum" bezeichnet) unterrichten.

Laut Hiddush allerdings sind 77 Prozent der Israelis der Meinung, streng orthodoxe Schulen sollten grundsätzlich gezwungen sein, das Kernkurrikulum zu unterrichten. 63 Prozent wiederum meinen, streng orthodoxen Schulen, die diese Fächer aus dem Lehrplan entfernen, sollten alle staatlichen Zuschüsse gestrichen werden. Diese Position vertreten unter Wähler*innen von Netanjahus Partei Likud ebenfalls ganze 73 Prozent. Insofern, als dass öffentliche Schulen, die staatliche Fördermittel beziehen, das Kernkurrikulum unterrichten müssen, ist Netanjahus Vorhaben klar als politischer Gefallen erkennbar.

Hiddush zufolge unterstützen 81 Prozent der israelischen Bevölkerung die Idee der Religions- und Gewissensfreiheit. 59 Prozent – weitaus weniger, doch immer noch eine Mehrheit – sind für eine Trennung von Staat und Religion.

Die Knesset und das Verfassungsgericht

Ein Fanal der Vernunft und des gesellschaftlichen Fortschritts ist besonders in den vergangenen Jahren das israelische Verfassungsgericht. Hiddush zufolge vertrauen dem Verfassungsgericht bis zu viermal mehr Menschen als der Knesset oder der Regierung.

"Die streng orthodoxen Parteien betrachten das Verfassungsgericht als einziges Hindernis zwischen ihnen und ihren Aspirationen, die Religionsfreiheit einzuschränken und die Privilegien der streng orthodoxen Gemeinschaften zu festigen und auszuweiten", schrieb Hiddush kürzlich. Netanjahus Koalition liebäugelt mit einem Gesetz, das der Knesset ein Veto-Recht bei den Entscheidungen der meisten Gerichte, inklusive des Verfassungsgerichts, einräumen würde.

"Bisher waren die Gerichte diejenigen Instanzen, die die Rechte von Frauen oder Homosexuellen verteidigt haben. Doch wenn diese Koalition ihren Plan, ein Veto-Recht zu etablieren, umsetzt, hat sie quasi Narrenfreiheit", warnt Shuki Friedman, Vizepräsident des Jewish People Policy Institute, vor diesem Unterfangen.

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