In den Medien wird der gestrige Referentenentwurf zur Reform des umstrittenen § 219a StGB als Erfolg gepriesen. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um ein durchsichtiges taktisches Manöver, um die Proteste auf der Straße zu entschärfen und die überkommene deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch zu retten, die diametral gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität verstößt. Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.
Nachdem die Gießener Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen § 219a StGB verurteilt wurde, gingen bundesweit Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch zu demonstrieren. Dabei geht es inzwischen um weit mehr als nur um den § 219a, der Ärztinnen und Ärzten verbietet, auf der eigenen Homepage auf ihre Leistungen zum Schwangerschaftsabbruch hinzuweisen. Das Gesamtkonzept der deutschen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 – 219b StGB) steht auf dem Spiel! Um der Protestbewegung den Schwung zu nehmen, hat die Bundesregierung nun erneut einen faulen Kompromiss vorgelegt.
Der am gestrigen Montag vorgestellte Referentenentwurf sieht vor, § 219a StGB in einem neuen Absatz 4 um einen weiteren Ausnahmetatbestand zu ergänzen. Danach "dürfen Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen zukünftig auch öffentlich ohne Risiko der Strafverfolgung darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Sie sollen darüber hinaus weitere Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch durch Hinweis – insbesondere durch Verlinkung in ihrem Internetauftritt – auf entsprechende Informationsangebote neutraler Stellen, die im Gesetz ausdrücklich benannt werden, zugänglich machen dürfen."
Für Kristina Hänel wäre diese "Reform" ein Pyrrhussieg, denn ihre Homepage, auf der sie in seriöser Weise über den Schwangerschaftsabbruch und die Methoden ihrer Praxis informierte, wäre wohl weiterhin verboten. (Möglich wäre ihr nur, auf "entsprechende Informationsangebote neutraler Stellen" – was auch immer dies sein mag! – zu verweisen.) Ansonsten bliebe alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch würde weiterhin als "rechtswidrig" gelten, was nicht wenige Ärztinnen und Ärzte abschrecken wird, auf diesem Feld tätig zu werden. Und die betroffenen Frauen müssten sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der "Schutz des ungeborenen Lebens" steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert würde dieser Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der "herrschenden Rechtsmeinung" (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren), dass schon der Embryo "Menschenwürde" besäße, dessen vermeintliche "Grundrechte" gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frauen abgewogen werden müssten.
Ein Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität
Bemerkenswert ist, dass die politisch Verantwortlichen die entscheidende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, peinlich vermeiden, nämlich die Frage, worauf sich die vermeintliche "Menschenwürde" des Embryos denn überhaupt begründen lässt. Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die "unantastbare Würde" des Menschen wird hier mit den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden!
Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee, nämlich Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der "Simultanbeseelung" (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren "Glaubens-Wahrheit" gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der "Sukzessivbeseelung" ausgegangen, welches besagt, dass sich die "Seele" in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.
Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das "Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens", wonach nicht nur der "Heiland", sondern schon dessen Mutter "erbsündenrein" empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die "sündenfrei" empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der "Sukzessivbeseelung" in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten "vernunft- und seelenlose Materie" gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der "Heiligen Jungfrau" die "Simultanbeseelung" zur verbindlichen "Glaubens-Wahrheit" – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich "säkularen Staates" bestimmen!
Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der "Simultanbeseelung" (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218-219a StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft "beseelt" ist).
Die Proteste sollten weitergehen!
Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den basalen Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei u.a. die folgenden beiden Punkte:
- Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine "zumutbare Opfergrenze" (§ 219 StGB) abverlangt! (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der "Simultanbeseelung" in Bedrängnis: Denn warum sollte "Gott" jedem Embryo eine "ewige Seele" einhauchen – und sie kurz darauf bei der Hälfte von ihnen wieder aushauchen? Ist der "Allmächtige" etwa verwirrt oder hat er gar "Spaß" am Abort?)
- Embryonen verfügen nachweislich nicht über personale Eigenschaften (etwa Ich-Bewusstsein), sie sind nicht einmal leidensfähig, haben daher auch keinerlei Interessen, die in einem Konflikt ethisch oder gar juristisch berücksichtigt werden könnten. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, so dass wir es ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Fötus (nicht des Embryos!) mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun haben, dessen "Interessen" in einer Güterabwägung beachtet werden können.
Daraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derartige Gründe liegen aber nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen "ein eigenes Recht auf Leben" einräumt und dieses vermeintliche "Recht" gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt! Deshalb sind die aktuell geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eindeutig verfassungswidrig – auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw. wollte! Wenn also ungewollt schwangere Frauen weiterhin Zwangsberatungen über sich ergehen lassen müssen, wenn es dabei bleibt, dass der Schwangerschaftsabbruch als "prinzipiell rechtswidrig" eingestuft wird, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!
Fazit: Die Proteste gegen die deutschen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sollten unbedingt weitergehen – nach diesem Referentenentwurf, der in Wahrheit nur ein durchsichtiges, taktisches Manöver zur Aufrechterhaltung einer überkommenen, verfassungswidrigen Gesetzgebung darstellt, erst recht!
Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunkt (WDR).
13 Kommentare
Kommentare
Thomas Reutner am Permanenter Link
Ich bin gegen Abtreibung.
Ich bin für das Selbstbestimmungsrecht der Frau.
Abtreibung mag eine schreckliche Sache sein, aber es kann gute Gründe dafür geben, sei es auch "nur", dass die Frau sich momentan oder generell nicht dazu in der Lage sieht ein (weiteres) Kind aufzuziehen. Zur Erinnerung: Die katholische Kirche lehnt Abtreibung IN JEDEM FALL ab. Egal, ob es sich bei der Schwangeren um ein minderjähriges Vergewaltigungsopfer handelt, oder ob das Kind oder die Mutter oder Beide die Schwangerschaft vorraussichtlich nicht überleben werden - die katholische Kirche lehnt Abtreibung kategorisch ab und empfiehlt in solchen Fällen das Gebet.
Und selbst wenn man das Argument der Simultanbeseelung mal für fünf Minuten ernst nimmt, was genau sind die Konsequenzen einer Abtreibung für die Seele eines Embryos? Trägt sie einen bleibenden Schaden davon? Gerät sie unverschuldet ins ewige Höllenfeuer? Oder kann sie wiederverwertet und einem anderen Embryo eingepflanzt werden? Was genau ist das Argument der katholischen Kirche? "Der liebe Heiland im Himmel findet Abtreibung schrecklich"?
EMMANZE I: am Permanenter Link
Da äußert sich schon wieder ein Mann zu diesem Thema! Der männliche Klerus brabbelt auch zu diesem Thema - Männer entscheiden über Abtreibung !!
Thomas Reutner am Permanenter Link
Hallo EMMANZE I,
haben sie bei meinem Kommentar auf "Aufklappen" geklickt? Wenn ja, verstehe ich nicht was sie mir vorwerfen, außer dass ich ein Mann bin.
Isabella am Permanenter Link
"Und es ist sicher nicht so, dass eine Frau, nachdem sie sich diesem Vorgang unterzogen hat, fröhlich die Klinik verlässt, so als hätte man sie von einen lästigen Geschwür befreit."
Rene Goeckel am Permanenter Link
Man fühlt sich versucht den Gesetzgeber darauf hinweisen zu müssen, dass diese "Seele" ein reines Glaubenskonstrukt und keinesfalls physisch existent ist. Wenn es nur nicht so peinlich wäre.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Zumal man immer wieder daran erinnern muss, dass die r.k.K. erst mal Klarheit in ihrer Pokemon-Welt hesrstellen müsste, was in dieser mit den ungetauften Kindern/Föten/Zellhaufen/befruchteten Eiern geschieht.
Katechismus der r.k.K.
1261 Was die ohne Taufe verstorbenen Kinder betrifft, kann die Kirche sie nur der Barmherzigkeit Gottes anvertrauen, ... Das große Erbarmen Gottes ... und die zärtliche Liebe Jesu zu den Kindern, ... berechtigen uns zu der Hoffnung, daß es für die ohne Taufe gestorbenen Kinder einen Heilsweg gibt. …
Und die INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION formuliert in ihrem Dokument
23. Die Hoffnung auf Rettung für ungetauft gestorbene Kinder (2007)
- versteckt unter viel schwurbeligem Papperlapapp - mit seltener Klarheit:
79. Es muss klar zugegeben werden, dass die Kirche kein sicheres Wissen über das Heil ungetauft sterbender Kinder hat.
Anders ausgedrückt: Katholische Eltern wissen bis heute nicht, ob sie beim GV (selbstverständlich ungeschützt und in der Absicht, Kinder zu zeugen) für den Himmel produzieren oder für die Hölle. Schließlich wird die Hoffnung auf die Barmherzigkeit, das große Erbarmen und die zärtliche Liebe Gottes von „etwa“ 20000 geborenen Kindern widerlegt, die Tag für Tag elendiglich zugrunde gehen.
Anders ausgedrückt: Es überkommt einen das große Kotzen, wenn man dieses salbungsvolle schwülstige Gewäsch vom Leben als „Geschenk Gottes“ oder von der „zärtlichen Liebe Jesu zu den Kindern“ liest und hört, von Barmherzigkeit und Erbarmen, die sich, wenn überhaupt, einzig und allein in einer jenseitigen virtuellen Welt zum Tragen kommen.
Kay Krause am Permanenter Link
excellent begründet, Michael Schmidt-Salomon, wie immer! Hoffentlich kommt's dort an, wo's hingehört!
Gruß von Kay, dem krausen
Frank Frei am Permanenter Link
Das Problem der Abtreibung ist "nur" nachgelagert. Das Problem ist vielmehr, das Menschen Kinder in die Welt setzen ohne die Verantwortung dafür übernehmen zu wollen.
Dieter Bauer am Permanenter Link
Eine Papstaussage/-Anordnung bedarf zuallererst eines nicht wilder Fantasien entsprungenen Realitätsbeweises, den k e i n Religiot je erbracht hat/zu erbringen je in der Lage war.
Dem gezogenen Fazit kann nur Zustimmung erteilt werden.
Thomas R. am Permanenter Link
Jeder, der die Welt anschaut, hat eine Welt-Anschauung. Daher gibt es keine "weltanschauliche Neutralität".
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"Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der "Simultanbeseelung" (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren "Glaubens-Wahrheit" gemacht."
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Was ist denn an dieser "Glaubenswahrheit" absurder als die Behauptung, ein Mensch besitze mit der Geburt (statt mit der Zeugung oder nach irgendeinem anderen Vorgang) urplötzlich "Würde" - was immer das sein soll und wie immer man es erkennen will? Außerdem sind die Eigenschaften "Mensch sein", "geboren sein", ""Würde" besitzen" und "leidensfähig sein" nicht identisch mit "lebensbewußt sein" und "Lebensinteresse besitzen". Daher läßt sich aus ihnen auch weder ein ethischer Tötungsverzicht, noch ein gesetzliches Tötungsverbot ableiten. Die ganze Abtreibungsdiskussion ist dermaßen von Irrationalismus vergiftet, daß man vorläufig wohl nur eine blödsinnig begründete Regelung durch eine andere blödsinnig begründete ersetzen kann.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw.
"... nichts anderes als ... religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!" - Letzterer ist aber inkl. entspr. Verfassung erst noch aus unserer Kirchenrepublik zu entwickeln. Das dauert noch ein, zwei Generationen.
Zuallererst: Kirchenaustritt.
Resnikschek Karin am Permanenter Link
Super MSS! Der staatliche Kirchensteuereinzug (Gewissensoffenbarung) sollte weg. Dann hätte niemand Grund, aus Job- oder politischen und Karrieregründen in der Kirche zu bleiben.
IPS am Permanenter Link
Vielen Dank für diese aufklärenden Gedanken, die sehr vielen Menschen aus dem Herzen spricht und gute Argumente liefert.