Kommentar zur vorgeschlagenen Reform des § 219a StGB

Ein durchsichtiges taktisches Manöver

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1000 Kreuze Marsch Münster 2017

In den Medien wird der gestrige Referentenentwurf zur Reform des umstrittenen § 219a StGB als Erfolg gepriesen. Tatsächlich aber handelt es sich dabei um ein durchsichtiges taktisches Manöver, um die Proteste auf der Straße zu entschärfen und die überkommene deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch zu retten, die diametral gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität verstößt. Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.

Nachdem die Gießener Ärztin Kristina Hänel wegen Verstoßes gegen § 219a StGB verurteilt wurde, gingen bundesweit Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen die gesetzlichen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch zu demonstrieren. Dabei geht es inzwischen um weit mehr als nur um den § 219a, der Ärztinnen und Ärzten verbietet, auf der eigenen Homepage auf ihre Leistungen zum Schwangerschaftsabbruch hinzuweisen. Das Gesamtkonzept der deutschen Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch (§§ 218 – 219b StGB) steht auf dem Spiel! Um der Protestbewegung den Schwung zu nehmen, hat die Bundesregierung nun erneut einen faulen Kompromiss vorgelegt.

Der am gestrigen Montag vorgestellte Referentenentwurf sieht vor, § 219a StGB in einem neuen Absatz 4 um einen weiteren Ausnahmetatbestand zu ergänzen. Danach "dürfen Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Einrichtungen zukünftig auch öffentlich ohne Risiko der Strafverfolgung darüber informieren, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Sie sollen darüber hinaus weitere Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch durch Hinweis – insbesondere durch Verlinkung in ihrem Internetauftritt – auf entsprechende Informationsangebote neutraler Stellen, die im Gesetz ausdrücklich benannt werden, zugänglich machen dürfen."

Für Kristina Hänel wäre diese "Reform" ein Pyrrhussieg, denn ihre Homepage, auf der sie in seriöser Weise über den Schwangerschaftsabbruch und die Methoden ihrer Praxis informierte, wäre wohl weiterhin verboten. (Möglich wäre ihr nur, auf "entsprechende Informationsangebote neutraler Stellen" – was auch immer dies sein mag! – zu verweisen.) Ansonsten bliebe alles beim Alten: Der Schwangerschaftsabbruch würde weiterhin als "rechtswidrig" gelten, was nicht wenige Ärztinnen und Ärzte abschrecken wird, auf diesem Feld tätig zu werden. Und die betroffenen Frauen müssten sich weiterhin einer Zwangsberatung unterziehen, in dessen Zentrum der "Schutz des ungeborenen Lebens" steht, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Legitimiert würde dieser Eingriff in die Selbstbestimmungsrechte der Frauen weiterhin mit der "herrschenden Rechtsmeinung" (Urteile des Bundesverfassungsgerichts in den 1970er und 1990er Jahren), dass schon der Embryo "Menschenwürde" besäße, dessen vermeintliche "Grundrechte" gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frauen abgewogen werden müssten.

Ein Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität

Bemerkenswert ist, dass die politisch Verantwortlichen die entscheidende Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, peinlich vermeiden, nämlich die Frage, worauf sich die vermeintliche "Menschenwürde" des Embryos denn überhaupt begründen lässt. Der Verweis auf Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes "Die Würde des Menschen ist unantastbar" gibt dies nicht her. Im Gegenteil! Denn die "unantastbare Würde" des Menschen wird hier mit den "unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten" in Verbindung gebracht. In Artikel 1 der Menschenrechtserklärung steht aber klar und deutlich, dass alle Menschen mit gleicher Würde und gleichen Rechten geboren sind – mit gutem Grund heißt es dort nicht, dass sie mit gleicher Würde und gleichen Rechten gezeugt wurden!

Sucht man nach der eigentlichen Quelle für die merkwürdige deutsche Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und Embryonenschutz, so landet man nicht bei der UN-Menschenrechtserklärung, sondern bei einem der größten Verächter der Menschenrechtsidee, nämlich Papst Pius IX. Dieser als besonders rückständig bekannte Pontifex hatte 1869 das Konzept der "Simultanbeseelung" (Beseelung im Moment der Befruchtung der Eizelle) zur unhinterfragbaren "Glaubens-Wahrheit" gemacht. Zuvor waren Katholiken oft von dem alternativen Konzept der "Sukzessivbeseelung" ausgegangen, welches besagt, dass sich die "Seele" in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten erst entwickelt, was Abbrüche bis zu diesem Zeitpunkt erlaubte.

Theologisch begründet war die Entscheidung des Papstes durch ein besonders obskures Dogma, das er bereits 15 Jahre zuvor erlassen hatte, nämlich das "Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens", wonach nicht nur der "Heiland", sondern schon dessen Mutter "erbsündenrein" empfangen wurde. Offenkundig litt Pius IX. nach der Verkündigung dieses Dogmas im Jahre 1854 sehr unter dem Gedanken, dass die "sündenfrei" empfangene Gottesmutter nach dem Konzept der "Sukzessivbeseelung" in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten "vernunft- und seelenlose Materie" gewesen sein könnte. Also erhob er 1869 zu Ehren der "Heiligen Jungfrau" die "Simultanbeseelung" zur verbindlichen "Glaubens-Wahrheit" – eine Posse, über die man schmunzeln könnte, würde sie nicht noch heute die Gesetze des angeblich "säkularen Staates" bestimmen!

Indem der deutsche Gesetzgeber das katholische Glaubensdogma der "Simultanbeseelung" (wenn auch in leicht abgeschwächter Form) zur allgemein gültigen Norm erhebt (nämlich in den Paragraphen 218-219a StGB, die den Schwangerschaftsabbruch regeln), verstößt er in empfindlicher Weise gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität. Er privilegiert Menschen, die mit den Vorgaben der katholischen Amtskirche übereinstimmen (zweifellos nur eine kleine Teilmenge der Kirchenmitglieder) und diskriminiert all jene, die diese Überzeugungen nicht teilen – nicht nur die vielen Menschen, die religiöse Konzepte per se ablehnen, sondern beispielsweise auch gläubige Juden (für die das menschliche Leben erst mit der Geburt beginnt) oder Muslime (für die der Fötus erst ab dem 120. Tag der Schwangerschaft "beseelt" ist).

Die Proteste sollten weitergehen!

Wie müsste demgegenüber eine Gesetzgebung aussehen, die den basalen Anforderungen einer rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Begründung genügt? Nun, zunächst einmal müsste sie die empirischen Fakten zur Kenntnis nehmen, die für die ethische und juristische Bewertung des Schwangerschaftsabbruchs relevant sind. Interessant sind dabei u.a. die folgenden beiden Punkte:

  1. Erwiesenermaßen geht etwa die Hälfte der befruchteten Eizellen spontan wieder ab, was nur in knapp 20 Prozent der Fälle überhaupt bemerkt wird. Angesichts dieser Häufigkeit des natürlichen Aborts ist es geradezu absurd, dass der Gesetzgeber die Folgen des künstlichen Aborts, also des Schwangerschaftsabbruchs, derart dramatisiert, dass er den betroffenen Frauen eine "zumutbare Opfergrenze" (§ 219 StGB) abverlangt! (Nebenbei bringt diese empirische Tatsache auch die Anhänger der "Simultanbeseelung" in Bedrängnis: Denn warum sollte "Gott" jedem Embryo eine "ewige Seele" einhauchen – und sie kurz darauf bei der Hälfte von ihnen wieder aushauchen? Ist der "Allmächtige" etwa verwirrt oder hat er gar "Spaß" am Abort?)
  2. Embryonen verfügen nachweislich nicht über personale Eigenschaften (etwa Ich-Bewusstsein), sie sind nicht einmal leidensfähig, haben daher auch keinerlei Interessen, die in einem Konflikt ethisch oder gar juristisch berücksichtigt werden könnten. Erst mit der 20. Schwangerschaftswoche beginnt die Entwicklung der Großhirnrinde, so dass wir es ab einer bestimmten Entwicklungsstufe des Fötus (nicht des Embryos!) mit einem empfindungsfähigen Lebewesen zu tun haben, dessen "Interessen" in einer Güterabwägung beachtet werden können.

Daraus ist zu folgern: Der Gesetzgeber kann zwar mit rationalen, evidenzbasierten, weltanschaulich neutralen Gründen verfügen, dass Spätabtreibungen nur in Ausnahmefällen zulässig sind, um entwickelten Föten Leid zu ersparen. Derartige Gründe liegen aber nicht vor, wenn der Staat bewusstseins- und empfindungsunfähigen Embryonen "ein eigenes Recht auf Leben" einräumt und dieses vermeintliche "Recht" gegen die Selbstbestimmungsrechte der Frauen ausspielt! Deshalb sind die aktuell geltenden Bestimmungen zum Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eindeutig verfassungswidrig – auch wenn das Bundesverfassungsgericht in den 1970er und 1990er Jahren von katholischen Lobbyisten so stark bedrängt wurde, dass es diesen klaren Verfassungsbruch nicht als solchen erkennen konnte bzw. wollte! Wenn also ungewollt schwangere Frauen weiterhin Zwangsberatungen über sich ergehen lassen müssen, wenn es dabei bleibt, dass der Schwangerschaftsabbruch als "prinzipiell rechtswidrig" eingestuft wird, so handelt es sich dabei um nichts anderes als um religiöse Schikane, die dem demokratischen Verfassungsstaat zwingend untersagt ist!

Fazit: Die Proteste gegen die deutschen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch sollten unbedingt weitergehen – nach diesem Referentenentwurf, der in Wahrheit nur ein durchsichtiges, taktisches Manöver zur Aufrechterhaltung einer überkommenen, verfassungswidrigen Gesetzgebung darstellt, erst recht!


Der Autor im Interview mit dem Westdeutschen Rundfunkt (WDR).