Auch deutsche Christ:innen unterstützen den Kulturmord in Übersee

Evangelikale Mission – Ethnozid im Namen Gottes

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Sichtung einer isolierten Gruppe beim Über­fliegen des brasilia­nischen Bundesstaates Acre (2012)
Sichtung einer isolierten Gruppe beim Über­fliegen des brasilia­nischen Bundesstaates Acre (2012)

Christliche Missionar:innen, die in Indigenen-Gebiete eindringen, gefährden das Leben und die Kultur der dort lebenden Menschen. Die Missionsarbeit wird auch von Deutschland aus organisiert und von christlichen Gemeinden finanziert. Ein im April ratifiziertes Gesetz kann helfen, den Kulturmord zu beenden; denn ob in Papua-Neuguinea, auf Borneo oder im brasilianischen Regenwald: Indigene Kulturen sind durch das Wort Gottes in ihren traditionellen Lebensweisen bedroht.

Dezember 2019, Papua-Neuguinea. Die Frau vom indigenen Kaje-Volk weint vor Erleichterung, als ihr zugesagt wird, dass sie nun Teil der Familie Jesu sein dürfe. So liest es sich in Berichten des evangelikalen Missionswerks Ethnos360 (vormals New Tribes Mission), deren deutscher Ableger im nordrhein-westfälischen Hückeswagen beheimatet ist. Zuvor war der Frau aus dem Volk der Kaje von der zuständigen Missionarin beigebracht worden, dass sie aus der Familie Satans stamme. Genau wie die Angehörige der Kaje teilen seit dem Jahr 2020 nun Menschen aus vier weiteren papua-neuguineischen Völkern einen derartigen Glauben. In wochenlangen Bibelschulungen hatten sie gelernt, die Geschichten ihrer eigenen Kultur abzulegen, um sie mit Mythen einer fundamentalistischen Bibelauslegung zu ersetzen. Dabei hatten die Kaje sich die biblischen Erzählungen zunächst noch als Bilder und Gleichnisse vorgestellt. Doch nach erfolgreicher Evangelisierung nehmen auch sie die Bibeltexte als Tatsachen an. Während der eigentlichen Bibelstunden wird dann ein abstraktes Schuldgefühl erzeugt, das die Annahme einer ebenso abstrakten Erlöserfigur unausweichlich macht. Hier entsteht jener psychische Druck, der durch den Gebrauch einer Sprache verstärkt wird, welche die Welt in radikal Böses und radikal Gottgewolltes teilt. Dabei ist "gottgewollt" nicht mit Gutem gleichzusetzen; denn das Gute orientiert sich nach allgemeinem Erkenntnisstand an der Minderung von Leid und nicht an dessen Erzeugung. Diese Minderung von Leid findet idealerweise vor dem kulturellen Hintergrund statt, in dem sich ein Mensch bereits zu Hause und wohlfühlt.

In Brasilien gefährden fundamentalistische Missionar:innen das Leben und die Kultur der indigenen Bevölkerung

"Evangelikale Missionare dringen seit dem letzten Jahrhundert ohne jegliche Kontrolle in indigene Gruppen ein", sagt die Anthropologieprofessorin Aparecida Villaça von der Universität Rio de Janeiro gegenüber der brasilianischen Nichtregierungsorganisation Repórter Brasil im November 2020. Dabei nehmen die Missionar:innen bereitwillig auch den massenhaften Tod der isoliert lebenden Volksgruppen in Kauf. Deren Immunsysteme haben nie gelernt, mit für uns gängigen Krankheiten wie beispielsweise einer Grippe oder Malaria umzugehen.

In Coronazeiten ist die Gefahr besonders groß. Doch Gesetze zum Schutz indigener Völker, die in Isolation leben, werden nur selten von den Evangelikalen respektiert. Laut der brasilianischen Nachrichtenseite O Globo ist es Mitte April 2020 deshalb explizit der New Tribes Mission (Ethnos360), aber auch allen anderen fundamentalistischen Missionar:innen von einem brasilianischen Gericht untersagt worden, indigene Völker zu kontaktieren. Aufhalten tut das die Evangelikalen nicht.

Haben die Missionar:innen erst einmal einzelne Indigene für ihr Christentum gewonnen, fungieren sie als Multiplikatoren. Mit deren Hilfe erreichen sie andere Völker dort, wo ihnen als ausländische Missionar:innen das Betreten geschützter Gebiete allein versagt bleibt.

Staatspräsident Bolsonaro, der den indigenen Völkern Brasiliens das Existenzrecht zugunsten von Land- und Rohstoffgewinnung abspricht, setzt bei seinem Vorgehen bewusst auf die Hilfe fundamentalistischer Missionar:innen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat regelmäßig darüber informiert. So hatte Bolsonaro bereits im Februar 2020 einen ehemaligen Ethnos360-Missionar zum Leiter jener Abteilung in der Indigenen-Schutzbehörde (FUNAI) ernannt, die isoliert lebende Völker eigentlich vor missionarischen Übergriffen schützen soll. Sein Name ist Ricardo Lopes Dias. Laut der Menschenrechtsorganisation Survial International sah es die brasilianische Staatsanwaltschaft im Mai 2020 als erwiesen an, dass Dias mit Ethnos360 einen Plan zur Zwangskontaktierung und Evangelisierung der isolierten Völker verfolgt habe. Im November 2020 konnte Dias dann vom örtlichen Indigenenverband UNIVAJA erfolgreich aus dem Amt geklagt werden.

Ethnos360-Deutschland wurde um Positionierung zum Fall Dias gebeten

"Da wir an dem Vorgang von Deutschland aus keinerlei Anteil haben, kommentieren wir weder die Entscheidung Brasiliens noch die Haltung/Stellung anderer weltweiter Ethnos-Einrichtungen", erklärt die Missionsorganisation im nordrhein-westfälischen Hückeswagen. Tatsächlich arbeitet Ethnos360-Deutschland aber auch eng mit seinen Partnern in Südamerika zusammen, wie der Verein gegenüber der Rheinischen Post bereits im Januar 2018 erklärt hat.

Fundamentalistische Missionar:innen operieren jenseits der öffentlichen Wahrnehmung

Die Menschenrechtsorganisation Survival International erklärt auf ihrer Webseite, dass "evangelikale Sekten Quasi-Machtbereiche in entlegenen Regionen der Welt errichtet [haben], in denen es nur wenig oder keine Aufsicht durch die Behörden gibt, so dass sie niemandem gegenüber rechenschaftspflichtig sind."

Konfrontiert mit den Vorwürfen, lässt die Ethnos360-Deutschland verlauten, dass man zum Beispiel in Papua-Neuguinea, wo man aktiv sei, sehr wohl gegenüber den Behörden Rechenschaft ablege. Wie und nach welchen Kriterien das geschieht, erklärt Ethnos360 auf Nachfrage allerdings nicht.

Weiter heißt es von Ethnos360: "Auch durch die Alphabetisierung oder konkrete medizinische Hilfe und Hygieneaufklärung leisten die Ethnos-Mitarbeiter seit Jahrzehnten wertvolle Dienste zu mehr Gesundheit, Eigenständigkeit und Schutz vor Ausbeutung."

Auf die Nachfrage, wen Ethnos360 denn wo vor Ausbeutung schütze, möchte die deutsche Missionsleitstelle in Hückeswagen nicht antworten. Ebenfalls keine Antwort gibt es auf die Frage, welche Inhalte von Ethnos360 bei der Hygieneaufklärung vermittelt werden. In Bezug auf medizinische Hilfe verweist Ethnos360 darauf, dass man zur Minderung der Säuglingssterblichkeit in Papua-Neuguinea beigetragen habe. Angaben wo und mit welchen Methoden dies geschehen sei, verschweigt die Organisation auf Nachfrage allerdings ebenfalls.

Ethnos360 begründet die Auskunftsverweigerung damit, dass man "kein Interesse an der medialen Darstellung von diesen Dingen" habe, weil die Missionsarbeit ganz im Vordergrund stünde und man nicht mit anderweitigen Aktivitäten für sich und um Spendengelder werben wolle.

Einzig die Aktivitäten zur Alphabetisierung in den isolierten papua-neuguineischen Dörfern lassen sich nachvollziehen. Die Missionar:innen entwickeln eine Schrift und entschlüsseln die Grammatik jener Sprache, die sie dort umgibt. Ihr Ziel ist es, zunächst Bibelteile in der Sprache der jeweiligen Volksgruppe lesbar zu machen. Gleichzeitig erfolgt die Vermittlung der fundamentalistischen Auslegung, die dann allerdings tatsächlich abgeschirmt vom Rest der Welt nur noch den isoliert lebenden Indigenen und den Missionar:innen zugänglich ist.

Das Vorgehen der Missionar:innen beim Aufspüren unerreichter Völker gleicht dem eines militärischen Aufklärungsdienstes

Die New Tribes Mission, die sich heute Ethnos360 nennt, verfügt über Karten, in denen Gebiete und Bewegungen indigener Völker verzeichnet sind. Auf der Suche nach unkontaktierten und isoliert lebenden Gruppen grenzen sie Zielgebiete ein und durchforsten diese systematisch. Dabei stellen sie ausschließlich Zwangsbegegnungen her; denn niemand hat die Missionar:innen gebeten, den Kontakt zu suchen.

Der Verein Rettet die Naturvölker e. V. schildert auf Nachfrage einen Fall, bei dem die Missionar:innen einen strategisch wichtigen Punkt (eine Wasserquelle) besetzt hielten, um Begegnungen unausweichlich zu machen. Werden die Evangelikalen dann nach dem Erstkontakt von den Indigenen abgewiesen, was in der Regel der Fall ist, bleiben die Missionar:innen dennoch in der Nähe. Das deckt sich auch mit den Schilderungen eines deutschen Ethnos360-Missionars, der auf Papua-Neuguinea aktiv ist, wo es allerdings kaum noch unkontaktierte Völker geben soll. Er sagt in einem Videovortrag, dass man immer wieder den Kontakt auch zu bekannten Völkern suche, bis man schließlich eingeladen werde. Dabei verfügen die organisierten Missionar:innen letztlich über finanziellen Rückhalt auch aus Deutschland, kommen mit Hubschraubern oder bauen aufwendige Logistik- und Basistationen wie derzeit im Dschungel von Borneo.

Auf diese Weise bringen die Missionar:innen überall auf der Welt ihre fundamentalistischen "Werte" ein, deren Durchsetzung und Inhalte in vielen Punkten weit hinter den Prinzipien zurückstehen, wie sie in den Menschenrechten abgefasst sind. Das beginnt schon damit, dass sich Indigene, die isoliert leben, nicht frei und unabhängig über die Eindringlinge informieren können.

Das fundamentalistische Christentum ist nicht auf friedliche Koexistenz angelegt. Es strebt danach, bestehende Kulturen zu ersetzen

Immer wieder kommt es zu Konflikten, wenn das Evangelium verkündet wird. Davon berichten Ethnos360-Missionar:innen auf Vorträgen. Die Indigenen begreifen plötzlich, dass ihre Kultur in Konkurrenz zu dem neuen Glauben steht.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker, Survival International, Rettet die Naturvölker e. V., aber auch Ethnos360-Deutschland selbst haben Kulturvernichtung durch die Missionar:innen beispielsweise auf den eigenen Webseiten dokumentiert. Bei Ethnos360 wird sie allerdings als Erfolg verbucht. So lesen wir die Geschichte eines Medizinmanns in Paraguay, der zum Christentum missioniert wurde. Aus den Schilderungen von Ethnos360 wird ersichtlich, dass der Mann unter dem Einfluss der Missionar:innen und dann unter enormen inneren Konflikten seiner kranken Ehefrau eine Gebetszeremonie verweigert, die ihrer ursprünglichen Kultur entspringt. (Man stelle sich vor, man würde hierzulande einer kranken Christin, die um ein Gebet bittet, dieses verweigern, und stattdessen ihre Hand auf den Koran legen.) Der Medizinmann will jedenfalls der Bitte seiner kranken Frau nachkommen und kann es nicht, weil die neue Religion ihm dies verbietet. Diese Ablehnung geschieht rein aus Glaubensgründen und nicht, weil etwa schadhafte Handlungen vorlägen, welche die körperliche oder geistige Unversehrtheit der Frau gefährdeten. Ganz im Gegenteil lassen sich die schadhaften Handlungen hier einzig für das Christentum nachweisen, das gegen das Wohlbefinden der Indigenen durchgesetzt werden will.

Gleichzeitig geht mit der Missionierung des Medizinmannes auch für alle anderen Angehörigen der Volksgruppe ein Stück Identität verloren. Für sie hat die Missionsarbeit den gewaltsamen Verlust ihrer Kultur zur Folge.

Ethnos360 fordert Missionsbereitschaft bis in den Tod und fördert den Ethnozid

"Um Menschen aus der Finsternis zu retten, muss man bereit sein, das eigene Leben dafür einzusetzen", fordert Ethnos360 auf der deutschen Webseite. Dabei treten auch die deutschen Missionar:innen nach außen hin bescheiden auf. Sie werden finanziert von Christ:innen und christlichen Gemeinden in ganz Deutschland. Bei den Missionar:innen handelt es sind überwiegend um Mütter und Familienväter, die oftmals mit ihren Kleinkindern zu den monatelangen Missionsaufenthalten aufbrechen. In der Vergangenheit sind dabei auch immer wieder Missionar:innen zu Schaden oder gar umgekommen. Gleichzeitig sind die Missionar:innen überzeugt, aus Liebe zu handeln. Dabei sehen sie nicht mehr die Menschen mit ihren tatsächlichen Bedürfnissen, sondern nur noch Bibeltexte.

Ihr blinder vom wirklichen Leben entrückter christlicher Glaube, den die Missionar:innen den Indigenen angedeihen lassen, zwingt die Indigenen in die Selbstaufgabe gegenüber den Angriffen auf ihre tatsächliche Kultur und Lebensweise. Dabei lernen die Indigenen, ihr Schicksal nicht mehr als selbstbestimmt, sondern als von Gott gewollt zu begreifen. Sie werden entpolitisiert in Bezug auf die echten Anliegen ihrer Volksgruppe und ihrer Kultur. Das ist mitunter der Grund, warum Bolsonaro in Brasilien so vehement auf die Unterstützung der Evangelikalen setzt. Deren Mission ist Ethnozid, Identitäts- und Kulturvernichtung. Sie untergräbt die Persönlichkeitsbildung und qualifiziert Menschen für autokratische Herrschaftsmodelle.

Am 15. April 2021 beschloss der Deutsche Bundestag ein Gesetz zum Schutz indigener Völker

Der Gesetzesentwurf wurde mit der Mehrheit von CDU/CSU, SPD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der AfD angenommen. Damit steht die Bundesrepublik in der Pflicht, verstärkt dazu beizutragen, dass deutsche Organisationen, Einzelpersonen und Gemeinden keine Menschenrechtsverletzungen an Indigenen im Ausland verüben oder unterstützend bei diesen Vorhaben tätig sind.

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