67. Berlinale

Filme zu Menschenrechten, Flucht und LGBTI

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Die Berlinale gilt als das politischste aller internationalen Filmfestivals. Auch das diesjährige Programm erfüllt die Erwartungen. So präsentiert die Berlinale etwa Spielfilme, in denen es um männliche Beschneidung, die gesellschaftspolitische Situation im Kongo oder die Revolution einer weiblich-radikalen "Army of Lovers" geht. Dokumentarische Beiträge befassen sich mit dem russischen Justizsystem, dem Alltag im vom Krieg zerrütteten Syrien oder eine schwule Kreuzfahrt geht. 

Unsere Top-5-Filme zum Themenkomplex MENSCHENRECHTE

The Wound von John Trengove

Eastern Cape, Südafrika: Der einsame Fabrikarbeiter Xolani nimmt sich eine Auszeit von seinem Job, um als Helfer das jährliche Beschneidungsritual der Xhosa zu begleiten, das den Übergang zum Mannesalter markiert. In einem abgelegenen Berglager, zu dem Frauen keinen Zutritt haben, kommen die jungen Männer wieder zu Kräften. Bemalt mit weißer Farbe, erlernen sie die Männlichkeitscodes ihrer Kultur. In dieser von Machismo und Aggressionen geprägten Umgebung kümmert sich Xolani um den aufsässigen Kwanda aus Johannesburg, der schnell hinter dessen bestgehütetes Geheimnis kommt: Xolani liebt einen anderen Mann. Bereits in seinem Kurzfilm "Ibhokhwe" widmete sich der südafrikanische Regisseur John Trengove dem Thema männliche Beschneidung. Dieses und andere Mannbarkeitsrituale greift er in seinem ersten Spielfilm wieder auf. Die Spannung, die sich während des Films unaufhaltsam aufbaut, rührt einerseits von dem jungen Kwanda her, der die patriarchalen Normen der Initiation zunehmend infrage stellt, und andererseits von der inneren Krise, die Xolani durchlebt. Er muss sich entscheiden zwischen der traditionellen Welt, die er kennt, und seiner eigenen Selbstverwirklichung.

The Trial: The State of Russia vs Oleg Sentsov von Askold Kurov

the trail

August 2015, ein Gerichtssaal in Rostov am Don: Ein Mann blickt durch die Gitterstäbe eines Käfigs. Seine Augen signalisieren, dass seine Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Heute wird er das Urteil erfahren, dem er sich beugen soll – 20 Jahre Haft wegen Terrorismus, abzusitzen in Sibirien. Der Mann ist Oleg Sentsov, Filmregisseur, geboren im ukrainischen Simferopol, Maidan-Aktivist. Die Anklage: Als Kopf einer rechten antirussischen Terrorbewegung soll er Anschläge auf Brücken, Stromleitungen und ein Lenin-Denkmal geplant haben. Sentsov verteidigt sich, mutig und unerschrocken. Dem harten Verdikt begegnet er mit einem klaren Dementi, mit einer Anklage gegen die Kläger selbst ... Askold Kurov fragt nach der Wahrheit hinter dem politischen Schauprozess. Wurden die Belastungszeugen unter Druck gesetzt? Welche Auswirkungen hatten Untersuchungshaft und Prozess auf den Beschuldigten und dessen Familie? Zugleich dokumentiert der Film die Solidarität, die Sentsov von Filmemachern wie Agnieszka Holland, Ken Loach, Pedro Almodóvar erfuhr. Und von der European Film Academy, die sich hier zum Auftakt ihres 30. Jubiläums erneut für die Freilassung von Oleg Sentsov engagiert.

La libertad del diablo / Devil's Freedom von Everardo González

In den letzten fünf Jahren hat der Kampf gegen die Drogenkriminalität in Mexiko schätzungsweise 100.000 Tote gefordert. Zählt man Kinder, Ehefrauen und Ehemänner, Eltern und Freunde der Verstorbenen dazu, erhöht sich die Zahl der Opfer um weitere 300.000. Aber Statistiken bleiben abstrakt und die schrecklichen Nachrichten, mit denen in Mexiko jeder neue Tag beginnt, gehören dort längst zum Alltag. Der Film spürt den Geschichten hinter den Zahlen und Schlagzeilen nach. Dabei müssen zur Wahrung der Anonymität die Gesichter der Interviewpartner verdeckt bleiben. Alle tragen Masken, sodass man ihre Emotionen nicht sehen, aber umso mehr erahnen kann. Vor der geduldigen Kamera von Everardo González können sich Opfer und Täter in aller Ruhe aussprechen. Immer wieder kommt es zu dem Moment, in dem sie sich ihrer Gefühle bewusst werden, den Schmerz zulassen, oder sich der Grausamkeit stellen, die sie begangen haben. Die detaillierten und erschütternden Schilderungen werden von kleinen Alltagsepisoden eingerahmt. Es entsteht das Porträt einer Gesellschaft, in der Angst und tiefe Verunsicherung regieren.

Istiyad Ashbah / Ghost Hunting von Raed Andoni

In Ramallah sucht Regisseur Raed Andoni per Zeitungsanzeige ehemalige palästinensische Insassen des Moskobiya-Verhörzentrums in Jerusalem, die zudem Erfahrung als Handwerker, Architekten oder Schauspieler haben. Nach dem Casting, das fast wie ein Rollenspiel wirkt, lässt er in einer leeren Halle Verhörräume und Zellen der Gefangenen maßstabsgetreu nachbauen – immer in enger Abstimmung mit den Männern und basierend auf ihren Erinnerungen an den Ort. In dem realistisch anmutenden Setting spielen sie zusammen Verhörsituationen nach, diskutieren Details der Einrichtung und sprechen über die Erniedrigungen, die sie während der Haft erlebt haben. Mit Techniken, die an das sogenannte Theater der Unterdrückten erinnern, wird eine Re-Inszenierung von real Erlebtem erarbeitet. Die Rekonstruktion bringt lange unterdrückte Gefühle und unverarbeitete Traumata zum Vorschein, die Arbeit an dem Film laugt die Männer körperlich wie seelisch aus. Auch der Regisseur agiert vor der Kamera. Er schafft nicht nur eine Bühne für seine Protagonisten, er verarbeitet auch die eigenen bruchstückhaften Erinnerungen an seine Haft in Moskobiya vor über 30 Jahren.

Maman Colonelle von Dieudo Hamadi

Colonel Honorine Munyole ist eine stattliche Dame, 44 Jahre alt, verwitwet und Mutter von sieben kleinen Kindern – vier eigene, drei adoptierte. Sie trägt ihre Uniform, ihr Barett und ihre schwarze Handtasche wie einen Schutz, den sie für ihre alltägliche Arbeit dringend benötigt. Mehr oder minder allein leitet sie eine kleine Polizei-Einheit, die sich dem Schutz vergewaltigter Frauen und misshandelter Kinder in den von Kriegen geplagten Regionen des Kongos widmet. Zu Beginn des Films wird sie von Bukavu nach Kisangani versetzt, bei ihrer Ankunft findet sie ihr zukünftiges Zuhause, ihr Büro in einem desolaten Zustand vor. Während sie solche pragmatischen Widrigkeiten beherzt aus dem Weg zu schaffen weiß, haben die Traumata und sozialen Deformationen der Menschen um sie herum alptraumartige Dimensionen: Neid um den staatlich anerkannten Opferstatus, Hoffnung auf Hilfe von "den Weißen", Depressionen, Hilflosigkeit. Zwar begreift man als westlicher Zuschauer kaum, woher diese Frau ihre Kraft nimmt – aber man folgt ihrer Mission mit wachsender Faszination. Der Film ist die Hommage auf eine Heldin unserer Zeit und zugleich ein Dokument zivilisatorischer Höchstleistung.