HVD hat Stellungnahme beim Bundesverfassungsgericht eingereicht

Gefängnisstrafen für Suizidhelfer können keinen Bestand haben

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Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe
Das Sitzungssaalgebäude des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe

Die Kirchenlobby hat es geschafft, mit dem Verbot sog. organisierter Suizidhilfe der Mehrheit Andersdenkender eine schwere Niederlage zuzufügen. Aber im Verfassungsbeschwerde-Verfahren dagegen werden jetzt auch Schriftsätze aus weltlicher und humanistischer Sicht berücksichtigt.

Wenn man die Plädoyers für das Gesetz (§ 217 StGB) noch einmal liest, bleibt völlig unverständlich, wie es zu so einer großen Bundestagsmehrheit dafür hatte kommen können. Die Rhetorik des CDU-Abgeordneten Michael Brand als Hauptinitiator macht anschaulich, dass es sich dabei um Glaubenssätze mit der apokalyptischen Vision einer bereits geöffneten Tür, die dringend dicht verschlossen werden muss, weil wir sie "sonst nicht mehr zubekommen und durch die am Ende Menschen geschoben werden können, die nicht durch diese Tür wollen. … (Franz Müntefering) hat recht …, weil nämlich Leben am Ende unterteilt würde: in solches, für das sich der Einsatz lohnt, und solches, das nach Ansicht vieler besser beendet würde." (Zitat M. Brand gemäß Bundestags-Plenarprotokoll 18/66).

Unterstützung der Beschwerdeführer durch Humanisten

Leider haben Lebensschützer und Sterbehilfegegner zunächst ihr Ziel voll und ganz erreicht: "Geschäftsmäßig" tätige Organisationen wie Sterbehilfe Deutschland e. V. oder DIGNITAS Deutschland stellten sofort mit Inkrafttreten des Gesetzes ihre Tätigkeit ein – schließlich drohen den Vorstandsmitgliedern bis zu drei Jahren Gefängnis. Doch haben beide Organisationen durch namhafte Juristen exzellent formulierte Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingereicht. Vorangegangen war ein Antrag noch Ende 2015 von vier Einzelpersonen, alle Mitglieder von Sterbehilfe Deutschland (StHD). Sie hatten dort aufgrund schwerer Krankheiten bereits das sogenannte "grüne Licht" für eine Suizidhilfe erhalten und beantragten eine einstweilige Anordnung, um den eben im Bundestag verabschiedeten § 217 StGB sofort außer Vollzug zu setzen. Das BVerfG wies ihren Eilantrag zurück, nahm ihn aber als Verfassungsbeschwerde an.

10 Jahre hpd

Die drei Verfassungsbeschwerden – insgesamt 200 Seiten – wurden im Juli an den Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) gesandt, unterzeichnet von Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des BVerfG. In seinem Anschreiben heißt es, "es wird gebeten, Ihre Stellungnahme zu den drei Verfahren in einem einheitlichen Schriftsatz einzureichen". Der Schriftsatz des HVD, dem Interessenverband konfessionsfreier Menschen, ist inzwischen offiziell Teil des Prüfverfahrens beim BVerfG zur Verfassungswidrigkeit des § 217 StGB.

Der HVD stimmt mit allen drei ihm zur Stellungnahme vorgelegten Verfassungsbeschwerden im wesentlichen Punkt überein: Das Gesetz verletzt in nicht zu begründender Weise die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (Allgemeines Persönlichkeitsrecht in Ausprägung als Selbstbestimmungsrecht auch über das eigene Sterben). Dies wird insbesondere in der ersten Verfassungsbeschwerde der vier betroffenen Patienten deutlich. Die verfassungsrechtliche Schwierigkeit liegt in einem Trick des Gesetzgebers: Er baut gegen das konkrete Selbstbestimmungsrecht der Beschwerdeführer ein anderes, angeblich ebenfalls verfassungsrechtlich zu schützendes Recht als Popanz auf: Die abstrakte Gefährdung der (Lebens-)Rechte einer diffusen vulnerablen Menschengruppe.

Schreckgespenst und perfide konstruiertes Gefährdungsdelikt

Zu diesem Zweck behaupten die entsprechenden "Feststellungen" des Gesetzgebers eine tendenziell eingetretene Akzeptanz bzw. bevorstehende Normalität der Suizidhilfe als einem Dienstleistungsangebot. Diese Entwicklung sei unbedingt aufzuhalten, da sie das Lebensrecht hilfs- und pflegebedürftiger Menschen in Frage stellen oder gar bedrohen würde. Auch deren Autonomie sei gefährdet - allein durch eine verfügbare oder gar als geboten erscheinende Wahlmöglichkeit zum Suizid, die sie jedenfalls unter Druck setzen würde. Am liebsten möchte man sich mit solchem Unsinn – der aber immerhin auch einige atheistisch-kapitalismuskritische Abgeordnete überzeugen konnte – nicht auseinandersetzen. Doch musste der HVD nun argumentieren gegen dieses Schreckgespenst und das Kapitel "Fiktion der Verleitung und Druckausübung zum Suizid" sogar ins Zentrum gerückt. Warum ist das so wichtig gewesen?

Das BVerfG hatte schon vorher öffentlich gemacht, worin ein Hauptargument gegen die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes liegt. Es führt eben die Behauptungen ("Feststellungen") des Gesetzgebers an, dass sich ohne das strafrechtliche Verbot eine massenhafte Verleitung zum Suizid entwickeln würde. In seiner Presseerklärung vom Januar 2015 hieß es vom BVerfG zu seiner Ablehnung des o.g. Eilantrags:

Weder der Vortrag der Beschwerdeführer noch sonstige Anhaltspunkte lassen darauf schließen, dass die tatsächlichen Feststellungen, von denen der Gesetzgeber ausgegangen ist, offensichtlich fehlerhaft sein könnten und die von diesem prognostizierte weitere Entwicklung einer rationalen Grundlage entbehren könnte.

In der HVD-Stellungnahme wird nun unabweisbar nachgewiesen: Die in der Gesetzesbegründung aufgestellten Behauptungen entbehren nicht nur jeglicher Rationalität, sondern es werden die einfachsten kognitiven Standards missachtet. Zudem haben die sog. Feststellungen des Gesetzgebers mit der Lebenswirklichkeit in unserem Land nichts zu tun und sind empirisch fehlerhaft. Die Rate der Suizidfälle durch ausgewiesene, fachgerechte Hilfe beträgt in Deutschland 0,001 Prozent aller Todesfälle. Und selbst wenn sie 100 mal höher wäre, sagten quantitative Angaben nichts aus über einen Druck auf gefährdete Menschen. Suizidhilfe, die nicht auf freier Willensbildung des Sterbewilligen beruht, ist seit eh und je in Deutschland als "Tötung in mittelbarer Täterschaft" strafbar.

Bezug auf christliche Sittenlehre selbst für Kirchen passé

Die Kirchen und mit ihnen die Hospizbewegung haben das Gesetz massiv unterstützt und seine Verabschiedung bejubelt. Dahinter verbirgt sich der Versuch, mittels Strafrechtsregelung ihre faktisch bei der großen Bevölkerungsmehrheit längst verlorene Deutungshoheit über das Lebensende und ein würdiges Sterben zurück zu erobern. Denn dies bedeutet gesellschaftlichen Einfluss, politische Bedeutung und finanzielle Vorteile.

Völlig berechtigt ist ein weltanschaulich, ethisch, pluralistisch und grundgesetzlich begründeter, kirchenkritischer Kampf für das Selbstbestimmungsrecht auch auf die Gestaltung des eigenen Todes. Im Kontext der vorliegenden Verfassungswidrigkeit läuft eine solche Darstellung aber ins Leere. Dies gilt ebenso für die Forderung nach einem "Recht auf letzte Hilfe" oder den historischen Vergleich mit dem allein sittlich begründeten Homosexuellen-Strafrecht. Zwar ist die Gesetzesbegründung alles andere als rational und empirisch im Sinne einer aufgeklärten Ethik. Man könnte beim § 217 StGB deshalb einen Verstoß gegen die weltanschauliche Neutralitätspflicht des Staates beklagen. Allerdings muss dieser Vorwurf beim BVerfG abprallen und als bloße Unterstellung erscheinen. Denn die Kirchen- und Hospizlobby hat es hervorragend verstanden, sozusagen säkular zu argumentieren: Mit dem "zur Lastfallen" von hilflosen, behinderten und sterbenden Menschen, auf die Druck zur "Selbstentsorgung" ausgeübt würde. Selbstverständlich wird mit keinem einzigen Wort mehr auf eine christliche Sittenlehre oder gar den lieben Gott verwiesen.

Wie die Chancen stehen – verfassungsrechtlich argumentieren

Der geringste Anschein eines religiösen Zusammenhangs wird in der Gesetzesbegründung vermieden und nach außen hin die Selbsttötung verfassungskonform als zulässiges Persönlichkeitsrecht erachtet. Und es soll ja sogar "nur" jede auf Wiederholung angelegte ("geschäftsmäßige") Hilfe dazu strafbar sein, nicht die Suizidhilfe an sich.

Wer das BVerfG überzeugen will, muss also statt der weltanschaulichen Neutralitätsdebatte andere Saiten aufziehen. Ein tragfähiges Argument gegen den § 217 StGB besteht darin, dass er das verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot für Strafnormen missachtet, d. h. gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstößt. Denn niemand kann sagen, was im Gesetz mit geschäftsmäßiger Verschaffung von Gelegenheiten zur Selbsttötung eigentlich gemeint ist – zumal es ja gar nicht darauf ankommt, ob ein Suizid letztlich vollzogen wurde. In den neun Monaten seit Bestehen der neuen Strafvorschrift sind gravierende Rechtsunsicherheiten aufgetreten. Sog. Kollateralschäden, welche die Gesetzesbefürworter strikt leugnen, werden in der Stellungnahme des HVD durch seine eigene Erfahrungspraxis belegt. Betroffen ist das sog. Sterbefasten als eine passive Form des Suizids, die indirekte Sterbehilfe durch Überlassung von hochdosierten Medikamenten v.a. gegen Schmerzdurchbrüche oder die ergebnisoffene Suizidkonfliktberatung des HVD mit möglicher Förderung auch eines Freitods.

Inzwischen liegen außer den drei genannten Verfassungsbeschwerden zumindest zwei weitere von Palliativärzten vor, wahrscheinlich noch einige mehr - zuzüglich unaufgefordert dem BVerfG zugesandten Eingaben einzelner Bürger/innen oder verbandliche Stellungnahmen o.ä. Die Bitte des BVerfG, Schriftsätze einzureichen, die im Verfahren auch Berücksichtigung finden, ist mit identischem Anschreiben insgesamt an sechs Adressaten gegangen: An drei Religionsgemeinschaften/Kirchen (katholische, evangelische und jüdische), an den HVD als humanistische Weltanschauungsgemeinschaft, an die Bundesärztekammer sowie an die Humanistische Union als Bürgerrechtsorganisation. Zwischen letzterer und dem HVD gab es einen sehr fruchtbaren und freundschaftlichen Austausch auch hinsichtlich einander ergänzender Akzentsetzung bei der verfassungsrechtlichen Argumentation. Die HU hat in ihrer Stellungnahme betont, sie sei – anders als etwa der HVD – eine religiös und weltanschaulich neutrale Vereinigung, die ausschließlich politisch tätig sei.

HU und HVD sind mit der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, der Giordano-Bruno-Stiftung und weiteren humanistisch-säkularen Organisationen im "Bündnis für Selbstbestimmung bis zum Lebensende" zusammengeschlossen. Es besteht Anlass für vorsichtigen Optimismus, dass das BVerfG den § 217 StGB zumindest nicht ohne Vorgaben als verfassungskonform einschätzen kann. Denn es ist allzu offensichtlich geworden: Das Verbotsgesetz "Nutzt niemandem, schadet aber vielen", wie Erwin Kress, Vizepräsident des HVD (Bund), in einer Begleitpublikation aufgrund von überwältigendem Zahlenmaterial herausgearbeitet hat.