Urteil des Bundesgerichtshofs

Kein Schadenersatz für Verlängerung unzumutbaren Leidens

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Medizinrechtsexperte Rechtsanwalt Wolfgang Putz
Rechtsanwalt Wolfgang Putz

Ein Weiterleben als Schaden anzusehen, verbietet sich generell – das hat der Bundesgerichtshof (BGH) jetzt als Grundsatz entschieden. Das heißt: Ärzte müssen zivilrechtlich nicht mit Geld dafür haften, wenn sie einen Patienten etwa durch künstliche Ernährung am Leben erhalten und damit ein unerträgliches Leiden zumuten.

Der Bundesgerichtshof hat in seinem Urteil vom 2. April die Klage eines Mannes abgelehnt, der im Namen seines verstorbenen Vaters Schadensersatz für die künstliche Verlängerung von dessen Leben verlangt hatte (Urt. v. 02.04.2019, Az. VI ZR 13/18).

Der Sohn hatte gegen einen Allgemeinmediziner geklagt, der seinen Vater, schwer demenzkrank und bewegungsunfähig, geplagt von chronischem Gallenblasenleiden sowie Lungenentzündungen, mit einer Sonde noch jahrelang künstlich ernährt hatte. Damit habe er das Leiden seines Patienten, der selbst nicht mehr in der Lage war, sich mitzuteilen – entgegen ärztlicher Leitlinien für einen solch extremen Fall terminaler Aussichtslosigkeit – verlängert. Für dieses "erlittene Leben" forderte sein Sohn nun Schadensersatz aus übergegangenem Recht.

Unstreitig war in der Vorinstanz die Tatsache, dass der Mediziner durch die künstliche Ernährung ab einem bestimmten Punkt, in dem keine Aussicht auf Besserung mehr bestand, seine Pflichten verletzt hatte. Da keine Patientenverfügung vorlag, hätte er die Angehörigen beziehungsweise den rechtlichen Vertreter des Mannes fragen müssen, ob eine Weiterbehandlung noch in seinem Sinne wäre. Auch die Streitfrage, ob ein Weiterleben unter Qualen einen Schaden darstellen könnte, hatte das Oberlandesgericht München bejaht.

Auch Auswirkungen auf Patientenverfügungen

Doch zu diesem ethisch-rechtlichen Problem kam es im Revisionsverfahren beim BGH gar nicht mehr. Die Karlsruher RichterInnen verneinten, dass in einem Zivilprozess ein Leben überhaupt als ersatzfähiger Schaden (auch sogenanntes "wrongful life") anerkannt werden könnte. Sie lehnten dies kategorisch ab, wie sich bereits in der Verhandlung im März angekündigt hatte.

"Das menschliche Leben ist ein höchstrangiges Rechtsgut und absolut erhaltungswürdig" heißt es in der Urteilsmitteilung. Der Patient selbst möge sein Leben (zum Beispiel in einer Patientenverfügung) als unwert erachten, der staatlichen Gewalt aber sei ein solches Urteil verwehrt. Deshalb dürften Gerichte auch kein Leben als Schaden anerkennen.

Dabei gilt auch bei vorliegender Patientenverfügung, dass aufgrund ärztlichen Zuwiderhandelns Behandlungskosten nicht ersetzt werden können, ganz zu schweigen von Regressansprüchen der Pflege- und Krankenkassen, die bei Intensivbehandlungen ja bis zu sechsstelligen Summen reichen könnten. Die ärztlichen Pflichten dienten nicht der Verhinderung von wirtschaftlichen Belastungen, so das Gericht.

RA Putz: 25 Jahre Rechtsprechung über den Haufen geworfen

"Unerträglich" findet das Patientenanwalt Wolfgang Putz, der den Kläger vor dem BGH mit beraten hatte. "Wir sind fassungslos", erklärte Putz, der mit dieser Entscheidung "25 Jahre BGH-Rechtsprechung über den Haufen geworfen" sieht, nach der Urteilsverkündung gegenüber LTOde/recht.

"Eine Lebenserhaltung kostet Geld, ganz neutral", meinte Putz. Ärzte könnten nun "sanktionslos weiterbehandeln" und müssten nicht einmal die entstandenen Kosten ersetzen. Aus Sicht von Putz bleibt Patientenrechtlern damit künftig nur noch das "schärfste Schwert": eine Strafanzeige wegen Körperverletzung. "Man muss sich vergegenwärtigen: Die Folge wird die strafrechtliche Verfolgung von Ärzten sein", so Putz, der sonst kein Druckmittel mehr sieht, um Mediziner zu pflichtgemäßem Verhalten anzuhalten.

Der Rechtsweg sei für den Sohn des Verstorbenen mit dem BGH-Urteil erschöpft, es bliebe einzig die Möglichkeit einer Verfassungsbeschwerde. Ob er zu diesem Mittel greifen wird, wird Putz erst nach der Veröffentlichung der Urteilsgründe entscheiden. Da der BGH sich auf die verfassungsrechtliche Grundlage des Lebensschutzes gestützt haben, könne der Gang zum Bundesverfassungsgericht in Erwägung gezogen werden.