Liebe und Leidenschaft in Zeiten von Corona

"Die Lust zum Ausbruch aus der gewohnten Beziehungsroutine wächst"

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Im Frühjahr, ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, als Abstandhalten das Gebot der Stunde war, erschien ein Buch über ein intimes Thema. In "Keine Liebe ohne Lüge" stellt der Philosoph Franz Josef Wetz die Frage, wie viel Ehrlichkeit eine Beziehung denn verträgt. Der hpd sprach mit dem Autor über Lüge und Wahrheit des heutigen Liebeslebens.

hpd: "Ein Buch über den Seitensprung, das in Zeiten des Coronavirus erscheint – blödes Timing, oder?

Franz-Josef Wetz: Ja und nein. Paradoxerweise führen die coronabedingten Abstandsregeln rein äußerlich zu mehr partnerschaftlicher Nähe, weil man mehr zu Hause bleiben muss, sich durch Homeoffice, Kurzarbeit und Ähnliches dauernd begegnet. Gerade hierdurch kann die Sehnsucht nach Abwechslung, einem Abenteuer, einem Seitensprung leicht angefacht werden. Denn wie viele Beziehungsprobleme gehen auf beengte Raumverhältnisse zurück? Dazu bedeutet pausenloses Zusammensein über kurz oder lang den sicheren Tod jeder Leidenschaft. Nach Arthur Schopenhauer gleichen wir Menschen "frierenden Stachelschweinen", die, um nicht zu frieren, eng zusammenrücken müssen, sich aber nicht zu nahe kommen dürfen, um sich nicht an ihren Stacheln zu verletzen. Eine Beziehung braucht Nähe und Distanz gleichermaßen. Das coronabedingte Gebot, Distanz zu halten, schafft möglicherweise zu viel Nähe, der man am liebsten durch einen Sprung zur Seite entweichen möchte.

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Denn jetzt, da man so viel Zeit gemeinsam verbringt, kann man sich schnell auf die Nerven gehen. Ein ums andere Mal genügen schon Kleinigkeiten, um die Ruhe aus dem Gleichgewicht zu bringen. Geringste Anlässe können zu verbalen Bosheiten führen. Plötzlich kann man es nicht mehr ertragen, wie die Partnerin oder der Partner den Löffel in der Tasse hält. Nie zuvor war sie oder er einem so gewöhnlich und platt vorgekommen. In der Hektik des früheren Alltags, in der man sich aus dem Wege gehen konnte, lag ein Schleier darüber. Die Lust zum Ausbruch aus der gewohnten Beziehungsroutine wächst.

Allerdings ist genau das Gegenteil auch möglich. Jetzt, da Paare mehr Zeit füreinander haben, finden so manche wieder stärker zueinander, gerade weil sich ihnen das Leben von seiner düsteren Seite zeigt. Als Lebensgefährten können sie sich wie Strebepfeiler gegenseitig stützen. Sie empfinden wieder mehr Herzenswärme füreinander, vielleicht auch sexuelle Lust aufeinander.

Doch wenn die Beziehung schon seit längerem besteht, geht die brennende erotische Leidenschaft füreinander zumeist allmählich verloren. Bestenfalls tritt ein Gefühl zärtlicher Liebe und Verbundenheit an die Stelle rauschhafter Gelüste – eine Intimität, die übers Erotische hinausgeht. Dieses scheinbar Wenige ist so wenig nicht. Nur ist es auch genug? Solange die libidinöse Vitalität stark ausgeprägt bleibt, wird man schmerzlich spüren, was einem trotz alledem fehlt.

Was ist denn "Liebe"? Also nicht generell, sondern im Sinne des Buches.

"Liebe, was für ein geplagtes Wort", schreibt Heinrich Böll. Einmal ganz abstrakt: Liebe ist immer wieder und noch mal Lust auf das, was man bereits kennt! – Die Idee der Liebe im Sinne des Buches verbindet Sex, Verliebtheit und Partnerschaft zu einer stimmigen Einheit. Zur gelebten Liebe gehören also erstens leidenschaftliches Begehren, zweitens – zumindest in der Anfangszeit – Schmetterlinge im Bauch und drittens das Bedürfnis nach Zweisamkeit oder Gemeinschaft, weil man sich in der Nähe des Partners wohlfühlt, was Geborgenheit stiftet und Einsamkeit vertreibt. Man möchte füreinander da sein in schönen wie in schweren Lebenslagen.

Zur selbstbestimmten Lebensgestaltung von heute zählt nach wie vor der Wunsch nach romantischer Liebe, an die üblicherweise zudem hohe ideelle Ansprüche gestellt werden: Verbindlichkeit, Exklusivität, Treue.

Und "Lüge"?

Unter Lüge sei einmal das aktive Lügen durch erfundene Geschichten verstanden, dann das Leugnen zutreffender Verdächtigungen und schließlich das Verschweigen von Wahrheiten, die den Partner etwas angehen könnten. Das Lügen hat seit jeher einen schlechten Ruf, zerstört es doch das Vertrauen zwischen den Menschen. Dazu missachtet es das Recht des Belogenen auf Selbstbestimmung. Die genaue Kenntnis des Verheimlichten hätte ihn womöglich ganz anders entscheiden lassen.

So moralisch verwerflich das Lügen auf den ersten Blick erscheint, wie wäre es aber, wenn die Menschen ständig offen und ehrlich zueinander wären. Sicherlich würde ein Chaos ausbrechen, was schon Wilhelm Busch erkannte: "Wer möchte diesen Erdenball noch fernerhin betreten, wenn wir Bewohner überall die Wahrheit sagen täten."

Schon die Höflichkeit gebietet zu unterscheiden zwischen dem, was man über andere denkt, und dem, was man ihnen sagt. "Höflichkeit ist gesellschaftlich anerkannte Heuchelei", schreibt Arthur Schopenhauer, der sie mit einem Luftkissen vergleicht, in dem zwar nichts drin sei, das aber die Stöße dämpfe.

Soll man einen Seitensprung beichten, wenn man weiß, dass der Partner damit schlecht zurechtkommt? Freilich verheimlicht man ihm in diesem Augenblick etwas. Aber vielleicht würde ein offenes Geständnis den Stachel künftigen Misstrauens emportreiben. Jede Verspätung würde unter Umständen künftig quälende Fragen unnötigerweise aufwerfen und an der bis dahin harmonischen Partnerschaft nagen. Freilich ist man jetzt unehrlich zueinander, aber möglicherweise bleibt man dabei aufrichtig. Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit meinen keineswegs dasselbe, wie man leicht vermuten könnte. Ja, man ist unehrlich, weil man heimlich fremdging; aber man bleibt aufrichtig, weil man trotz des Seitensprungs uneingeschränkt dem Partner zugeneigt bleibt und ihn zu keinem Zeitpunkt verlassen möchte. Verschwiegene sexuelle Untreue schließt aufrichtige Herzenstreue mitnichten aus.

Widerspricht der Verzicht auf Ehrlichkeit nicht der verbreiteten Vorstellung einer vertrauensvollen Partnerschaft?

So sehen es sicherlich die meisten, weil sie Vertrauen unauflöslich an Treue und Transparenz binden. Aber diese Verknüpfungen sind keineswegs zwingend: Aus meiner Sicht beweist man größere Achtung voreinander, wenn man sich gegenseitig Geheimnisse zugesteht, als wenn man auf unverbrüchliche Treue besteht. Es stimmt einfach nicht, dass jede Geheimniskrämerei oder jeder Seitensprung einen von dem langjährigen Partner entfernt. Jedenfalls ist es sinnvoll, dem Partner einen eigenen Lebensbereich zuzugestehen und mit erotischer Toleranz über manches großherzig hinwegzusehen. Eine gediegene Ausrede oder Lüge kann humaner sein als der selbstquälerische Redlichkeitskult vieler heutiger Menschen, die, indem sie vorbehaltlos auf Wahrheit bestehen, sich häufig selbst etwas vormachen.

Franz Josef Wetz, Foto: © Evelin Frerk
Franz Josef Wetz, Foto: © Evelin Frerk

Deren Selbstlüge beginnt schon dort, wo sie entweder behaupten, einander ein ganzes Leben lang begehren zu können, oder den ganz normalen Liebesverlust durch Gewöhnung kleinreden. Wenn sich irgendwann die "Schmetterlinge im Bauch" wieder in "langsam kriechende Raupen" rückverwandeln, wird einen bei libidinöser Vitalität über kurz oder lang abends auf dem Sofa eine flügelschlagende Abenteuersehnsucht überkommen. Wie viele halten ihren Partner fest in den Armen und denken an neue Liebeleien? Selbst wenn sie miteinander schlafen, stellen sie sich vielleicht die Zärtlichkeiten einer anderen Person vor. Die langjährige Beziehung ist nach und nach zum Schauspiel geworden, bei dem man Händchen haltend durch die Fußgängerzone schlendert, sich morgens und abends flüchtig küsst und gemeinsam die Mahlzeiten einnimmt. Die einstmals große Liebe hat sich im Laufe der Jahre bestenfalls in eine wohlig vertraute Gewohnheit verwandelt. Jedoch spüren viele mit der empfundenen Nähe des anderen zugleich auch dessen Ferne. Man ist sich im Laufe der Zeit fast unmerklich auch fremd geworden. Doch die meisten von uns sind geübt, unangenehme Wahrheiten unausgesprochen zu lassen. Nur mit Vagheit, Unschärfe und Ignoranz lässt sich der Anspruch auf vorbehaltlose Ehrlichkeit aufrechterhalten, die hierdurch allerdings selbst verkappt unwahrhaftig wird.

Liebevolles Verschweigen, Diskretion statt Diskussion – sind das nicht wohlklingende Phrasen, die den eigenen Egoismus bemänteln?

Ja natürlich ist das alles egoistisch – wie umgekehrt der Anspruch auf uneingeschränkte Treue und Transparenz aber auch. Um es noch einmal zu sagen, selbst wenn es merkwürdig klingt: Man kann jemanden aufrichtig lieben und dennoch betrügen. Oder wie es Theodor Fontane ausdrückt: "Man kann auch treu sein, wenn man untreu ist." Denn nicht alle Lügen drücken Missachtung, ja nicht einmal Egoismus aus: Bisweilen wird aus echter Zuneigung und Sorge gelogen, um die andere oder den anderen zu schonen oder nicht mit der Wahrheit zu überfordern. Höher als die Wahrheit steht die Frage, ob und wie sich damit leben lässt. Wahrheitsliebe um jeden Preis ist jedenfalls genauso heikel wie die sofortige Trennung nach Aufdeckung eines Seitensprungs. Manchmal ist es klüger, zu biegen als zu brechen. Ehrliches Schwindeln, bei dem ich mir treu bleibe, indem ich untreu gegenüber dem anderen bin, verdient zuweilen den Vorzug gegenüber unaufrichtiger Ehrlichkeit, in der ich zwar dem anderen treu bleibe, aber für den Preis der Unwahrheit gegen mich sich selbst.

In welchem Verhältnis stehen denn Eifersucht und Ehrlichkeit?

Im Zustand höchster Verliebtheit empfindet man Eifersucht weniger als Einengung denn als Wertschätzung. Man genießt sie als Kompliment. Wenn aber die intensiven Gefühle nachlassen, dann wird sie leicht als auf Kontrolle fixierte Besitzgier erlebt. Da Eifersucht zum biologischen Erbe der Menschheit gehört, fällt es vielen schwer, sie in den Griff zu bekommen. Aber intakte offene und diskret offene Beziehungen beweisen, dass sie sich kulturell eindämmen lässt. Selbstredend gelingt dies am besten, wenn sich beide Partner verhältnismäßig sicher sind und nur noch wenige sexuelle Ansprüche aufeinander erheben. In dieser Lage können sie sich eher mal erotische Freiräume lassen, statt sich Vorwürfe zu machen, weil sie oder er es zuließ, sich von einer dritten Person faszinieren zu lassen.

Jedoch ist die Sache verflixt: Einerseits sorgen die körpereigenen Botenstoffe dafür, dass das sexuelle Verlangen nach dem Partner über kurz oder lang schwindet. Hierzu muss überhaupt nichts schiefgelaufen sein in der Beziehung. Der Lustverlust ist nicht notwendigerweise Anzeichen für eine vermeidbare oder korrigierbare Fehlentwicklung. Er ist normal. – Andererseits finden wir von Natur aus viele Menschen attraktiv – und dies umso stärker, je mehr die Anziehungskraft des eigenen Partners nachlässt. Die Bereitschaft zum Seitensprung wächst – und die Idee der Polyamorie feuert die Fantasie an, die Vorstellung, sexuelle und emotionale Beziehung gleich zu mehreren Personen aufzubauen, die darüber Bescheid wissen, ohne aufeinander eifersüchtig zu sein.

Und Leidenschaft und Geheimnis?

Obwohl viele Seitensprünge und Affären heimlich stattfinden, um den betrogenen Partner vor Kränkung und Verwirrung zu schützen, zehren die sexuellen Abenteuer doch häufig auch vom Reiz der Geheimhaltung. "Das Beste des Lebens ist das Inkognito", schreibt Theodor Fontane. Deshalb bedeutet die Verwandlung eines Seitensprungs oder einer Affäre in eine offizielle Partnerschaft oft schon das Ende ihrer bisherigen Intensität. Eine gute Affäre ist noch keine gute Beziehung. Deshalb ist es manchmal falsch, seinen langjährigen Partner zu verlassen, statt ihn heimlich zu betrügen.

Davon abgesehen lassen sich geheime sexuelle Wünsche zuweilen besser außerhalb der vertrauten Partnerschaft verwirklichen. Zwar ist es wünschenswert, seine abgründigen Fantasien auch mit dem Partner hemmungslos ausleben zu können. Hierzu müssen sie aber offen über die dunklen Seiten ihrer Lust miteinander reden können und beide Spaß an solchen Liebesspielen haben.

Dann fasse ich mal zusammen: Es gibt so etwas wie einen "Spalt" zwischen der dauerhaften Zuneigung zu einem Menschen und der erotischen Anziehung, die meist nicht genauso lange anhält. In diesem "Spalt" siedelt sich die "Lüge" an und daran hat auch der offenere Diskurs über erotische Bedürfnisse seit 1968 nichts geändert. Und unsere spielerische Veranlagung legt nahe, dass sich das auch in Zeiten einer zurückkehrenden Kontrollgesellschaft nicht ändern wird. Hab ich’s verstanden?

Ja, absolut. Aber tröstlich ist, dass irgendwann die Lust auf sinnliche Abenteuer schwindet. Im fortgeschrittenen Alter schließt sich der "Spalt". Der hormonelle Druckverlust führt dann eher zu vorzeitiger Ermüdung als noch zu rastloser Sehnsucht. Mit diesem hormonellen Sabotageakt mögen sich heute zwar immer weniger ältere Menschen abfinden, weshalb sie bei ihrer Suche nach Last-Minute-Abenteuern auf chemische Hilfsmittel zurückgreifen. Aber irgendwann blühen bestimmte Leidenschaften nicht mehr auf. Erst dann trocknet der Nährboden für Halbwahrheiten und Lügengeschichten allmählich aus.

Bis dahin gehört das Lügen zu den offiziell diffamierten, aber inoffiziell tolerierten Konventionen des Sexual- und Liebeslebens, in dem Seitensprünge und Affären immer wieder vorkommen. Selbstverständlich darf man diese Dinge nicht zu leicht, aber erst recht nicht zu schwer nehmen.

Mit Wilhelm Busch: "Es gibt ja leider Sachen und Geschichten, / Die reizend und pikant, / Nur werden sie von Tanten und von Nichten / Niemals genannt. / Verehrter Freund, so sei denn nicht vermessen, / Sei zart und schweig auch du! / Bedenk: Man liebt den Käse wohl – indessen, / Man deckt ihn zu."

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Franz Josef Wetz: Keine Liebe ohne Lüge. Wie viel Ehrlichkeit verträgt eine Beziehung? Aschaffenburg: Alibri Verlag, 2020. 151 Seiten, kartoniert, ISBN 978-3-86569-300-6, 12,00 Euro

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