Der Wahlkampf in Ungarn ist weniger ein inhaltlicher Schlagabtausch, sondern wurde durch den Krieg im Nachbarland vielmehr zum Kampf um historische Narrative und die Deutungshoheit über nationale Traumata. Das Oppositionslager schafft es kaum, Orbáns persönliche und weltanschauliche Nähe zu Putin für sich auszunutzen.
Vor dem Angriffskrieg Russlands schienen die Themen der Wahl lange bekannt. Ein Wählerbündnis von verschiedensten Parteien, die sich auf den konservativen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay einigen konnten, wollte Viktor Orbán beim Thema Korruption treffen. Immerhin haben seine engsten Vertrauten durch die Vergabe öffentlicher Aufträge Milliarden angehäuft. Zudem hat Orbán die Pressefreiheit und Rechtsstaatlichkeit über viele Jahre hinweg im Land ausgehöhlt. Viele Beobachter beschreiben sie als Schicksalswahl, die über die Zukunft Ungarns entscheidet. Dieses Pathos ist ein Nährboden dafür, dass die Wahl im Zuge des Krieges zur Projektionsfläche nationaler Traumata und historischer Narrative wurde.
Weder die wirtschaftliche noch weltanschauliche Nähe zu Putin werden Orbán zum Verhängnis
Die Wahlkampfteams der jeweiligen Lager reagierten schnell auf die neue Situation ihres östlichen Nachbarn. Zunächst schien es, dass Orbáns Putin-Nähe ihm zum Verhängnis werden könnte. In der Vergangenheit sprach er im Zusammenhang der Russlandpolitik vom ungarischen Weg: Nähe zu Russland zu suchen und zeitgleich als Teil der NATO und EU im Westen beheimatet zu sein. Diesen Kuschelkurs ließ sich Viktor Orbán mit russischen Investitionen in AKWs und Sonder-Deals im Energiesektor bezahlen. Zwar musste er von dem ungarischen "Sonderweg" etwas abweichen, doch die Opposition schien daraus keinen Vorteil ziehen zu können. Die Regierungspartei inszenierte Orbán als "starken Mann" in Krisenzeiten und verantwortungsvollen Landesvater und betonte, dass Ungarn mehr denn je auf seine außenpolitischen Erfahrungen angewiesen sei. Márki-Zay, der Bürgermeister einer Kleinstadt, sei nicht vom gleichen Kaliber.
Kaleidoskop ungarischer Geschichtsbilder und nationaler Mythen
Schnell zog das Oppositionslager Vergleiche zwischen der Ukraine und dem sowjetisch niedergeschlagenen Volksaufstand 1956. Damals hätte der Westen die Ungarn durch fehlende Unterstützung im Stich gelassen, sodass das heutige Ungarn die historische Verantwortung besäße, Waffenlieferungen zu unterstützen. Die Fidesz-Partei widersprach und konterte mit einem anderen historischen Trauma der Ungarn. Die Situationen seien nicht vergleichbar. Wenn man die ungarische Geschichte betrachte, dann sei das Land mehrmals zwischen Großmächten zerrieben worden. Das bedeute, dass Waffenlieferungen und andere Einmischungen bis hin zu Gas-Embargos außenpolitisch tabu seien.
Diese Wahrnehmung teilen viele Ungarn: statt sich tiefergehend mit den Schrecken des faschistischen Horthy-Regimes auseinanderzusetzen, wird Ungarn als kleines, isoliertes Volk dargestellt, das stets zum Spielball fremder Mächte wurde. Omnipräsent im Geschichtsbewusstsein ist auch, dass Ungarn vor dem Zweiten Weltkrieg durch den Trianon-Friedensvertrag von 1920 einen Großteil seiner Gebiete verlor. Dieses diffuse Ungerechtigkeitsempfinden füttert Orbán mit anti-amerikanischen Verschwörungserzählungen: Im Staatsfernsehen deutete er an, dass die USA und indirekt die linken Parteien einen NATO-Krieg mit Russland anstrebten. Er allein wisse das zu verhindern.
Ungewisser Ausgang
Viktor Orbán versucht den schwierigen Spagat, die pro-ukrainische Stimmung des Volkes aufzugreifen und sich dabei keine 180-Grad-Wendung in der Russlandpolitik à la Deutschland eingestehen zu müssen. Das schafft er, indem er zeitgleich den eigenen Opfermythos aufrechterhält und die Ukraine als teilschuldig darstellt.
Noch ist unklar, ob die Rechnung aufgeht. Sollte das Oppositionslager am kommenden Sonntag die Wahl gewinnen, könnte es sich im Nachhinein als Pyrrhussieg herausstellen. Kann ein Sechs-Parteien-Bündnis aus dem ganzen politischen Spektrum eine Legislaturperiode geschlossen Politik betreiben? Falls nicht, wäre dies ein weiterer schwerer Schlag für die ungarische Opposition, da Fidesz dies als Beweis deuten wird, dass ohne sie nichts im Land geht.
Wächst im Schatten des Krieges ein hauseigener Putin innerhalb der EU?
Wenn Orbán erneut eine Zweidrittelmehrheit erreichen sollte, lässt sich nur ahnen, was das für die Oppositionsparteien bedeuten würde. In jeder seiner Legislaturperioden hat er demokratische Strukturen beschnitten und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass dieser Prozess mit einer Wiederwahl sein Ende finden würde.
In der Persona Viktor Orbán vereinen sich alle Zutaten für bestehende und kommende innereuropäische Konflikte: ein divergierendes Wertesystem, Gebietsansprüche, eine von Korruption gestützte Innenpolitik, identitätspolitischer Geschichtsrevisionismus. Die ungarische Regierung stellt die Grenzen innerhalb der EU infrage und träumt unverhohlen von einem Großungarn. Bei allen Befürchtungen Europas über bedrohliche Nachbarn darf man nicht vergessen: manche Feinde kommen von innen.