Der als 1000-Kreuze-Marsch bekannte Gebetszug christlicher Abtreibungsgegnerinnen und -gegner fand am vergangen Samstag erneut im westfälischen Münster statt. Rund 70 Personen nahmen an dem Marsch teil. Etwa 700 protestierten dagegen mit einer Demonstration und einer Kundgebung, zu denen das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Münster aufgerufen hatte.
Es ist jedes Jahr aufs Neue nicht nur ein optisches, sondern auch ein akustisches Erlebnis: Von Polizei-Hundertschaften geschützt ziehen ein paar Dutzend christliche Abtreibungsgegnerinnen und -gegner mit weißen Holzkreuzen durch die Straßen von Münster und singen dabei "Oh komm herab, du heiliger Geist". Ihren Weg säumen mit Transparenten Gruppen von Pro-Choice-Aktivist*innen, die ihnen im Sprechchor "My body, my choice, raise your voice!" entgegenschmettern. Wo sich der Weg der Christen mit jenem der offiziellen Gegendemonstration trifft, ist der Sprechchor mehrere hundert Stimmen stark und weithin zu hören. Unbeteiligte Passanten sind regelmäßig erstaunt über das Spektakel – vor allem über die Menge der eingesetzten Polizisten. Um es in den Worten zu sagen, die am Samstag ein verdutzter Tourist am Wegesrand des 1000-Kreuze-Marsches wählte: "So viel Polizei für so'n paar Männekes?"
Er ist schon zu einer Art Ritual geworden: Der alljährliche Gebetsmarsch "1000 Kreuze für das Leben" von christlichen Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern in Münster. Normalerweise findet der von der überkonfessionellen christlichen "Lebensschützer-Vereinigung" EuroProLife organisierte Gebetszug in Münster im März statt und eröffnet die Saison der "Lebensschützer-Märsche" im deutschsprachigen Raum. Coronabedingt fand jedoch bereits im vergangenen Jahr eine Verschiebung in den Herbst statt.
Rund einen Meter groß und weiß sind die Holzkreuze, mit denen die sogenannten "Lebensschützerinnen und -schützer" am vergangenen Samstag singend und betend durch die Stadt zogen. Jedes dieser Kreuze soll hierbei eines von 1000 Kindern symbolisieren, welche nach Auffassung der Abtreibungsgegnerinnen und -gegner in Deutschland angeblich täglich abgetrieben werden. Allerdings kommen bei den Märschen selten tatsächlich 1000 Kreuze zusammen. Entgegen anders lautender Zahlen in der lokalen Presse nahmen an dem Marsch diesmal etwa 70 Personen teil.
Fast in jedem Jahr sind in dem Gebetsmarsch dieselben Gesichter zu sehen: Vor allem ältere Menschen, Männer und Frauen. Doch auch nicht wenige jüngere Personen finden sich unter den Teilnehmenden des Marsches. Einige weisen sich durch ihren Kleidungsstil als erkennbar christlich-konservativ aus.
Einblicke in die Gedankenwelt der christlichen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner gewährte wieder einmal die einleitende Ansprache des rhetorisch äußerst geschickten Europrolife-Chefs Wolfgang Hering auf dem Vorplatz der St. Ägidiikirche. Dass der Großteil der Schwangerschaftsabbrüche zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu dem ein Fötus weder Bewusstsein noch Schmerzempfinden hat und die Natur Schwangerschaften nicht selten selbst abbricht, wird nicht erwähnt. Thematisiert werden fast ausschließlich sogenannte Spätabtreibungen. Gearbeitet wird mit den Bildern von im Uterus zerstückelten Babys, mit schrägen Nazi-Vergleichen und Falschinformationen. Hering scheut sich nicht, den Vergleich zu ziehen zwischen der systematischen Ermordung erwachsener Behinderter durch die Nazis und der Abtreibung von Föten, bei denen eine Behinderung festgestellt wurde. So soll es laut Hering in Deutschland auch eine "eugenische Indikation" geben, die es erlaube, Föten aufgrund einer festgestellten Behinderung abzutreiben. Das ist falsch. Richtig ist, dass es eine medizinische Indikation gibt, die für einen Schwangerschaftsabbruch Straffreiheit garantiert, falls dieser vorgenommen wird "um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden". Unter diese Indikation fällt es auch, wenn eine Schwangere sich für einen Abbruch entscheidet, weil sie der Gedanke an die lebenslange Sorge für ein behindertes Kind zu schwer belastet.
Unter die Gruppe der christlichen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner hatten sich auch sieben Pro-Choice-Aktivist*innen gemischt. Während Herings Rede skandierten sie "Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat!" und wurden daraufhin von der Polizei vom St.-Ägidiikirchplatz geführt. Es war nur der erste Vorgeschmack auf die Sprechchöre, die den 1000-Kreuze-Marsch auf seinem Weg durch die Straßen von Münster begleiten sollten, als er sich mit etwa einstündiger Verspätung gegen 15:30 Uhr in Bewegung setzte. Versuche von Aktivist*innen, den Weg des Marsches zu blockieren, wurden von der Polizei unter Einsatz von Gewalt unterbunden.
Bereits um 13:30 Uhr hatte das Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung Münster zu einer großen Gegendemonstration aufgerufen, die am Hauptbahnhof startete. Das Bündnis hat in Münster einen großen gesellschaftlichen Rückhalt. Zu den Bündnis-Unterstützern gehören neben feministischen Gruppen politische Parteien, Gewerkschaften, Hochschulgruppen, politische und kulturelle Vereine sowie säkulare Verbände wie der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) NRW. Während der Demonstration und bei der anschließend auf dem Prinzipalmarkt stattfindenden zentralen Gegenkundgebung wurde informiert über sexuelle Selbstbestimmungsrechte, die Problematik der Paragrafen 218 und 219 im Strafgesetzbuch und die wieder zunehmende praktische Schwierigkeit für Frauen in Deutschland und weltweit, Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen zu bekommen.
Laut Polizei hatte die Gegenveranstaltung rund 400 Teilnehmende, laut Veranstalter etwa 700 – wobei die Schätzung des Veranstalters deutlich näher an der tatsächlichen Zahl der Gegendemonstrant*innen sein dürfte.
Gegen 17:00 Uhr fand die Abschlussveranstaltung der christlichen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner an der Kardinal-von-Galen-Statue auf dem Domplatz statt. Wie in jedem Jahr lautstark begleitet vom Protest-Chor der Gegendemonstrant*innen.