Das Stigma der Abtreibung

frau_nachdenklich.jpg

Symbolbild
Symbolbild

Nach einem Schwangerschaftsabbruch erleben viele Frauen in Deutschland Stigmatisierung. Ungewollt Schwangere stoßen zudem auf erhebliche Hürden, wenn sie sich für eine Abtreibung entscheiden. Das zeigt die aktuelle ELSA-Studie. Die Untersuchung betrachtet auch die oft schwierige Situation von Ärztinnen und Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche anbieten.

Die große Mehrheit der Frauen, die sich in Deutschland für einen Schwangerschaftsabbruch entschieden haben, fühlt sich stigmatisiert. Nicht weniger als 83,5 Prozent von ihnen berichten über "mindestens schwach ausgeprägte Stigmatisierungsgefühle", bei 29,5 Prozent seien diese "sehr stark ausgeprägt". Die Befürchtungen kommen nicht von ungefähr. Fast ein Drittel der Frauen mit Schwangerschaftsabbruch berichtet von Stigmatisierungserfahrungen im sozialen Umfeld oder durch medizinisches Personal.

Zu diesen Ergebnissen kommt die jetzt veröffentlichte Studie "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung", kurz: ELSA-Studie, die im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums erstellt wurde. Auf fast tausend Seiten bündelt die Untersuchung Ergebnisse einer landesweiten Online-Befragung von 4.589 Frauen mit mindestens einem Kind unter sechs Jahren. Um ein umfassendes Bild zu gewinnen, wurden zudem die Daten des Statistischen Bundesamtes und früherer Erhebungen miteinbezogen. Federführend war ein interdisziplinärer Forschungsverband, dem sechs Hochschulen angehören: die Hochschule Fulda, das Sozialwissenschaftliche Forschungsinstitut zu Geschlechterfragen FIVE Freiburg, die Hochschule Merseburg, die Freie Universität Berlin, die Hochschule Nordhausen und die Universität Ulm.

Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung: Die Stigmatisierung habe "erhebliche Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und den Zugang zur Versorgung von Frauen". Hier sehen die Autorinnen und Autoren den Gesetzgeber gefragt: Eine "Liberalisierung und Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs" könne dabei helfen, die Stigmatisierung ungewollt Schwangerer zu reduzieren.

Zugleich zeigt die Studie, wie schwer es für viele Frauen ist, die notwendige Versorgung zu erhalten. Vier von fünf Befragten berichten von solchen Hürden. So seien etwa zuverlässige, gut verständliche Informationen schwer zugänglich. Hinzu kommen die finanziellen Belastungen – ein Schwangerschaftsabbruch kostet gemeinhin zwischen 200 und 600 Euro. Die Krankenkassen zahlen nur in Ausnahmefällen, etwa nach einer Vergewaltigung oder bei medizinischer Indikation beziehungsweise bei geringem Einkommen – nicht aber, wenn sich die Schwangere nach einer Konfliktberatung für den Abbruch entscheidet. Für die Kosten aufzukommen, war für 6,4 Prozent der befragten Frauen "sehr schwer", für weitere 5,3 Prozent "eher schwer".

Auch die Verfügbarkeit ist je nach Region eingeschränkt: In 85 von 400 Landkreisen müssen Schwangere laut Studie mehr als 40 Minuten mit dem Auto fahren, um eine Einrichtung zu erreichen, die den Abbruch durchführt. Laut Studie liegen 43 der betroffenen Landkreise in Bayern, jeweils acht in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen.

Auch Ärzte und Ärztinnen werden stigmatisiert

Nicht nur Betroffene berichten von Stigmatisierungen. Ärztinnen und Ärzte, die Abtreibungen durchführen, berichten ebenfalls von negativen Reaktionen. Ein Viertel der Befragten wurde nach eigenen Angaben bereits bedroht oder angegriffen, weil sie Schwangerschaftsabbrüche durchführen. 13 Prozent gaben an, dass vor ihrer Einrichtung Demonstrationen oder Gehsteigbelästigungen stattfinden. Mehr als 10 Prozent seien wegen ihrer Tätigkeit bereits angezeigt worden.

Dennoch: Wer Abtreibungen durchführt, tut dies offenbar all dieser Widrigkeiten zum Trotz. Von den Ärzten, die dies nicht tun, nannten nur wenige das Risiko einer Stigmatisierung als Grund. Ausschlaggebend seien vielmehr ein fehlendes Angebot und Räumlichkeiten in der Einrichtung, in der sie tätig waren. Einige empfanden zudem auch die Durchführung als belastend. Ein weiterer Faktor ist die lückenhafte Qualifikation. 11 Prozent aller befragten Mediziner gaben an, das Thema Schwangerschaftsabbruch weder aus dem Studium noch aus der Weiterbildung zum Facharzt zu kennen. Nur ein verschwindend kleiner Anteil (zwischen 0,6 und 1,6 Prozent) lehnt eine Abtreibung selbst aus medizinischen Gründen oder nach einer Vergewaltigung ab.

Die Organisation Doctors for Choice begrüßt die Veröffentlichung der ELSA-Studie. Vorstandsmitglied Dr. Christiane Tennhardt erklärt: Es sei "wissenschaftliche Evidenz, die die schlechte Versorgungslage in Teilen Deutschlands eindeutig belegt. Wir erwarten, dass die aktuelle Regierung diese Erkenntnisse ernst nimmt und die im Koalitionsvertrag versprochene Verbesserung der Versorgung umgehend umsetzt." Ein "Weiter so" mit dem – angeblich – "gesellschaftlichen Kompromiss" dürfe es nicht geben, so Tennhardt weiter.

Ein Vorstoß zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs war in der vergangenen Legislaturperiode im Parlament nur knapp gescheitert. Kürzlich hat der Fall des Gynäkologen Prof. Joachim Volz die Debatte wieder entfacht. Er hatte gegen das Verbot von medizinisch notwendigen Abtreibungen in seiner – kirchlich geleiteten – Einrichtung und seiner privaten Praxis geklagt.

Die rechtspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion, Carmen Wegge, forderte gegenüber der taz: "Aus unserer Sicht sollten öffentliche Krankenhäuser verpflichtet sein, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen". Dasselbe gelte für öffentlich finanzierte konfessionelle Krankenhäuser. Die Politikerin wies darauf hin, dass die Regierungsparteien im Koalitionsvertrag die Kostenübernahme durch die Krankenkassen vereinbart hätten. Nach Wegges Rechtsauffassung müsste dafür der Schwangerschaftsabbruch mindestens in der Frühphase entkriminalisiert werden – wie es die SPD ja auch fordere.

Ganz anders positioniert sich die Union. Anja Weisgerber, stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, kündigte gegenüber der taz an, man werde die Studienergebnisse prüfen. Eine Neuregelung von Abbrüchen "außerhalb des Strafgesetzbuches lehnen wir jedoch ab". Möglich sei lediglich eine "Ausweitung der Kostenübernahme als steuerfinanzierte Sozialleistung" für Frauen in finanziellen Notlagen.

Der Abschlussbericht der Studie: "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer. Angebote der Beratung und Versorgung" (ELSA) kann hier heruntergeladen werden.

Unterstützen Sie uns bei Steady!