Interview mit Michael Shermer

Warum Menschen merkwürdige Dinge glauben

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Der US-amerikanische Skeptiker Michael Shermer.

Michael Shermer ist Psychologe, Wissenschaftshistoriker und Gründer der US-amerikanischen Skeptics Society. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg traf Shermer am Rande der Säkularen Woche der Menschenrechte in Berlin und sprach mit ihm über die Notwendigkeit von skeptischem Denken sowie sein jüngst auf Deutsch erschienenes Buch "Der moralische Fortschritt".

hpd: Michael Shermer, nächste Woche werden Sie in Bochum einen Vortrag halten. Der Titel des Vortrags basiert auf dem Titel von einem Ihrer Bücher: "Warum Menschen merkwürdige Dinge glauben". Spoilern Sie doch mal ein bisschen: Warum tun Menschen das?

Shermer: Nun, die grundsätzliche Antwort darauf ist, dass wir Dinge aus emotionalen Gründen glauben, Gründen, die nicht auf Vernunft oder Beweisen basieren. Vielleicht wurden wir erzogen, an etwas Bestimmtes zu glauben, was immer das sein mag, sei es ein religiöser Glaube oder ein politischer Glaube. Darum vertrauen wir darauf, unabhängig von Gründen und Beweisen für diesen Glauben. Mit anderen Worten, das Ganze funktioniert genau umgekehrt wie wissenschaftliches Denken. Beim wissenschaftlichen Denken werden zuerst Beweise gesammelt, dann schaut man, wo einen die Beweise hinführen und das akzeptiert man dann vorläufig als wahr. Aber unsere Gehirne arbeiten nicht so. Unsere Gehirne sind eher so beschaffen, dass sie wie ein Rechtsanwalt einen Mandanten verteidigen. Und der Mandant in dieser Metapher ist unser Glaube, unsere Überzeugung. Also das Gegenteil von wissenschaftlichem Denken, das nicht von selbst kommt. Wissenschaftliches Denken ist ein Vorgang, in dem wir davon ausgehen, dass wir uns in Bezug auf die meisten unserer Überzeugungen wahrscheinlich irren und deshalb skeptisch sein müssen. Darum fangen wir mit der Nullhypothese an: Was immer du behauptest, ist wahrscheinlich nicht wahr. Jetzt liegt die Beweislast bei dir und du musst mich überzeugen, dass du Recht hast. Leg los und gib dein Bestes! Sowas ist nicht einfach. Es ist schwer, die eigenen Überzeugungen abzulegen. Es ist schwer, sie der Kritik von anderen auszusetzen. Aber das ist in der Wissenschaft nun mal notwendig. Denn wenn du es nicht tust, wird es ein anderer tun.

Was, würden Sie sagen, sind die schlimmsten Mechanismen in unseren Hirnen, die dafür verantwortlich sind, dass wir an Verschwörungstheorien glauben – oder Götter?

Da gibt es einige Mechanismen. Der bekannteste ist sicher der Bestätigungsfehler. Eine kognitive Verzerrung, in der wir die Art, wie wir die Welt betrachten, so formen, dass sie zu dem passt, was wir bereits glauben. Der Bestätigungsfehler ist die Mutter aller kognitiven Verzerrungen, in denen man nach Beweisen für das sucht, von dem man überzeugt ist – und diese Beweise auch findet. Das ist sozusagen die erste Schicht. Darüber liegt als weitere Schicht eine Art allgemeiner Denkprozess, der versucht, die Welt insgesamt zu verstehen, ihr Sinn zu geben. Denn die Welt ist größtenteils ziemlich chaotisch. Es gibt viele Variablen, die ein Ereignis beeinflussen. Beliebigkeit und Zufall sind Faktoren, die wir meistens nicht wahrnehmen. Unsere Gehirne sind nicht richtig verkabelt, um große Muster zu erkennen. Sie sind eher dazu geeignet, kleine Muster zu erkennen, die etwas verstehbar machen. Besonders was Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betrifft, sind Verschwörungstheorien attraktiv, weil sie einfach sind und nur einige wenige Faktoren beinhalten: Da ist irgendjemand, der im Geheimen die Strippen zieht und dafür sorgt, dass Kriege ausbrechen, dass die Wirtschaft sich in eine bestimmte Richtung entwickelt und all sowas. Aber die Wahrheit ist: So ist es nicht. Es ist viel chaotischer und komplexer. Aber wir sind einfach nicht so verdrahtet, dass wir das erkennen können.

Warum, glauben Sie, scheinen manche Menschen fast süchtig danach zu sein, merkwürdige Dinge zu glauben, während andere eher skeptisch sind?

Es gibt bei Menschen Unterschiede im Temperament und in der Persönlichkeit, die Auswirkungen auf fast alles haben, über das man sich unterhalten kann. Es ist nicht nur die Körpergröße, das Gewicht, die Hautfarbe oder was auch immer, das uns unterscheidet, sondern auch die Neigung, Dinge zu glauben oder eher skeptisch zu sein. Man kann sich das als eine Art Glockenkurve vorstellen. Einige sind hier, die glauben alles. Andere sind dort, die glauben gar nichts. Es geht darum, eine Balance zwischen beidem zu finden. Man sollte offen genug sein, neue Vorstellungen zu akzeptieren, wenn sich herausstellt, dass sie richtig sind. Andererseits sollte man wiederum nicht so offen sein, dass man alle verrückten Dinge glaubt, die einem über den Weg laufen. Der Trick ist, die Balance zwischen beidem zu finden. Und das funktioniert eben durch Beweise und Vernunft, durch die empirischen Methoden der Wissenschaft und das Rüstzeug des logischen Denkens in der Philosophie. Damit müssen wir dann unser Bestes versuchen. Und damit kann man dann zu dem vorläufigen Ergebnis kommen, dass etwas wahr ist – "wahr" im Sinne von "richtig". Aber vielleicht ändere ich später meine Meinung, wenn sich die Beweislage ändert. Falls nicht, bleibe ich dabei.

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Michael Shermer im hpd-Interview mit Daniela Wakonigg. (© Frank Nicolai)

Sprechen wir von Ihrem eigenen Glauben an merkwürdige Dinge. Als Jugendlicher wurden Sie zum evangelikalen Christen. Sie haben sogar Theologie studiert. Das heißt, Sie wissen wirklich, wie dieser Prozess funktioniert, dass man merkwürdige Dinge glaubt. Was hat Sie dazu gebracht, fundamentalistischer Christ zu werden und – noch viel wichtiger – wie sind Sie da wieder rausgekommen?

(lacht) Konnte das wirklich ausgerechnet mir passieren? Ja! Aber ich bin da nicht durch meine Eltern reingeraten. Die meisten Menschen wachsen entweder religiös oder nicht-religiös auf. Bei mir war das nicht so. Meine Eltern waren weder religiös noch anti-religiös. Religion spielte einfach keine Rolle. Aber meine Bezugsgruppe war religiös. Wir wissen durch Untersuchungen der Entwicklungspsychologie, dass der elterliche Einfluss in den frühen Teenagerjahren abnimmt und der Einfluss der Bezugsgruppe, des Freundeskreises stark zunimmt. Das war bei mir der Fall. In den frühen 70er Jahren wurden alle meine Freunde evangelikale Christen, es war die Zeit, in der die evangelikale Bewegung stark wuchs. Diese ganze Jesus-Bewegung mit Hippie-Gesang, Zusammenkünften und so weiter. Das Ganze war so ein Gemeinschafts-Ding. Ich tat es, weil es Spaß machte und weil es alle meine Freunde taten. Aber dann begann ich, die Sache ernst zu nehmen und sagte mir: Ok, wenn ich das wirklich glaube, dann sollte ich mich beschäftigen mit dieser – wie heißt das Ding noch mal? Ach ja: – Bibel. Ich sollte sie lesen und etwas darüber lernen. Ich begann, am Bibelunterricht teilzunehmen, las Bücher über die Bibel und die Bibel selbst und schließlich ging ich auf die Pepperdine Universität, eine christliche Schule in Malibu. Eine gute Schule, aber natürlich ist man dort in einer Filterblase. Und wenn man sich in einer Filterblase befindet, ergibt natürlich alles Sinn, alles ist logisch und in sich stimmig. Also ergab alles Sinn für mich. Als ich dann zur Hochschule wechselte, weil ich College-Professor werden und Psychologie unterrichten wollte, wechselte ich mein Hauptfach von Theologie zu Psychologie und begegnete dort der Wissenschaft. Auf der Hochschule gab es keine Filterblase. Meine Kommilitonen und Professoren glaubten oder glaubten nicht, es sprach keiner darüber, es war einfach nicht wichtig. Neben meinen eigenen wissenschaftlichen Kursen belegte ich auch noch welche außerhalb meines eigenen Fachbereichs. Anthropologie zum Beispiel. Und das öffnete mir die Augen. Ich durchlief meine Joseph-Campbell-Phase, beschäftigte mich mit seinem Vergleich der Weltreligionen, der Mythologien, las den "Heros in tausend Gestalten" und dachte: Oh meine Gott, es gibt Tausende von Göttern und Zehntausende unterschiedliche Religionen. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich die richtige erwischt habe und dass all die anderen sich irren? Nicht besonders hoch. Vielleicht hat auch keiner Recht. Vielleicht sind all diese Religionen nur soziale Konstrukte. Als Anthropologe oder Sozialpsychologe geht man davon aus, dass Menschen ihrer Religion angehören, weil es ihrer Kultur entspricht, der Kultur in der Gegend der Welt, in der sie geboren wurden. Es ist der Glaube, der ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte von ihrer Kultur mitgegeben wurde. Das ist ganz offensichtlich der Grund, warum sie daran glauben. Warum also sollte ich dieses Denken nicht auch auf meinen eigenen christlichen Glauben anwenden können? Genau das tat ich. Und dann gab's da natürlich noch ein paar andere Dinge wie das Problem des Bösen, wo ich merkte, dass die Theologie ein paar echte Schwierigkeiten hat. Ich glaube nicht, dass die Christen dieses Problem gelöst haben. Und überhaupt: Warum glauben die Juden nicht an Jesus? Sie glauben an denselben Gott, dasselbe Buch und sie glauben sogar, dass es einen Messias geben wird. Sie glauben einfach nur nicht, dass es Jesus war. Man kann natürlich sagen, dass diese Rabbis die Schriften einfach nicht richtig gelesen haben. Aber das stimmt nicht. Sie sind unter Religiösen die besten Gelehrten überhaupt – und trotzdem glauben sie es nicht. Warum? Weil die Argumente, die für Jesus sprechen, einfach nicht besonders gut sind. Also hab ich die ganze Sache einfach hinter mir gelassen. Ich hab's nicht an die große Glocke gehängt. Der Atheismus ist als Bewegung jetzt sehr groß. In den 70ern gab es sowas schlicht nicht. Ich hörte einfach auf, darüber zu sprechen. Ich nahm meinen kleinen Christus-Fisch ab, das griechische Symbol für den Erlösergott Jesus Christus, den meine Freundin mir geschenkt hatte, weil ich es als scheinheilig empfand, ihn zu tragen. Ich nahm ihn einfach ab und hörte auf, mit meiner Familie beim Abendessen über Jesus zu reden. Meine Familie war sehr erleichtert, denn von Evangelikalen wird erwartet, dass sie missionieren. Man klopft an die Türen und fragt, ob man über Jesus sprechen darf. Damit hörte ich zur großen Erleichterung meiner Freunde dann auf.

Das, was Sie da beschrieben haben, war ein sehr rationaler Prozess. Aber wenn man seinen Glauben ablegt, geht doch auch emotional etwas in einem vor, weil man plötzlich keinen Gott mehr hat. Fanden Sie das schwierig?

Nein. Tatsächlich hab ich das sogar als sehr befreiend empfunden. Ich war jung, Anfang 20. Ich war nicht verheiratet, hatte kein Haus, keine Familie. Und es war nicht so, dass ich am Sonntagmorgen einsam zurückblieb, während alle meine Freunde und Kollegen zur Kirche gingen. Die meisten meiner wissenschaftlichen Freunde gingen auch nicht zur Kirche und glaubten nicht. Es war also nicht so, dass ich meine Gemeinschaft verloren hätte. Auch meine Familie war nicht religiös. Ich habe Mitgefühl für Menschen, die älter sind, für Familien mit Kindern und Menschen, die in Kleinstädten leben, wo jeder zur Kirche geht und die plötzlich dasitzen und sich sagen "Tja, ich glaube nicht mehr – was soll ich machen?" Ich habe wirklich Mitgefühl für solche Menschen. Ich musste das nicht durchmachen. Außerdem lebe ich im Süden von Kalifornien, wo die Gesellschaft ziemlich offen und liberal ist und wo man keinen großen Druck verspürt, religiös zu sein. Mein Mitgefühl gilt den Menschen im Süden und im Mittleren Westen, wo jeder religiös ist. Oder vielleicht auch nicht, man weiß es nicht. Für mich war es also sehr befreiend. Auch in dem Sinne, dass die Wissenschaft einem eine Sicht auf die Welt bietet, an der jeder teilhaben kann: Wir kennen die letzten Antworten auf die großen Fragen nicht – also versuch' selbst, sie herauszufinden! Ich? Ja, du! Ok, hört sich gut an, da möchte ich mitmachen!    

Zu der Zeit, als Sie gerade dabei waren, Ihren Glauben abzulegen, gab es ein sehr einschneidendes Ereignis in Ihrem Leben. Ihre Freundin hatte einen Unfall und war danach gelähmt. Was glauben Sie: Warum führen solche Erlebnisse bei einigen Menschen dazu, dass ihr Glauben gestärkt wird, während andere – so wie Sie – ihren Glauben verlieren?

Ich hatte die christliche Religion und die Vorstellung, dass es einen Gott gibt, damals eigentlich schon weitgehend aufgegeben. Aber meine Freundin Maureen tat mir einfach fürchterlich leid. Ich habe über diese Sache in "The Believing Brain" ("Das glaubende Gehirn") geschrieben. Sie hatte einen Autounfall und hat sich dabei das Rückgrat gebrochen. Sie kann sich nicht mehr bewegen. Es ist wirklich sehr traumatisch jemanden im Krankenhaus zu sehen, kopfüber im Bett festgeschnallt, weil man versuchte, ihre Wirbelsäule zu strecken, und dann diese Sauerstoffflaschen und das alles monatelang. Das ist wirklich deprimierend. Und irgendwann bin ich auf meine Knie gegangen und hab gesagt: Ok, Gott, wenn du da bist – das ist eine wirklich liebe Frau und das hat sie nicht verdient. Heile diese Frau! Mach einfach, dass alles wieder in Ordnung kommt! Natürlich ist nichts passiert. Das war ein Test. Ich habe nicht daran geglaubt, dass etwas passieren würde. Aber wenn etwas passiert wäre, wäre ich sehr dankbar gewesen und hätte gedacht, ok, vielleicht ist da doch etwas. Aber natürlich ist nichts passiert. Sie ist bis heute bewegungsunfähig. Für mich verdeutlicht das im Kleinen das große Problem des Bösen. Wenn Gott allmächtig, allgütig und so weiter ist, warum geschehen dann böse Dinge? Ich spreche nicht über Morde. Dabei geht es um Sünder oder Drogenabhängige, die einen schwachen Geist haben und nur den Weg zu Jesus finden müssen. Ich spreche nicht über den menschlichen Willen, den freien Willen und falsche Entscheidungen. Aber was ist mit Kindern, die Leukämie haben? Oder Kindern, die in Hurrikanen, Tsunamis und so weiter sterben? Warum? Welchen moralischen Stellenwert hat so etwas für Gott im Universum? Das ist sehr verstörend. Und ich hab darauf noch nie eine gute Antwort gehört. Theologen haben dazu tonnenweise Literatur produziert, aber sie haben darauf meiner Meinung nach keine Antwort. Und das hat für mich das Fass endgültig zum Überlaufen gebracht. 

Sie sind Psychologe. Warum, glauben Sie, verlieren einige Menschen ihren Glauben und fangen an, Dinge in Frage zu stellen und das sogenannte Böse in solchen Ereignissen zu sehen, während andere sagen "Wow, danke Gott, sie ist nicht tot!" und hinterher einen noch stärkeren Glauben haben?

Wir wissen es nicht. Nach dem Holocaust zum Beispiel gab es viele Diskussionen unter Theologen. Viele Juden glaubten nicht mehr an Gott. Es ist einfach nicht möglich, dass Gott erlauben würde, dass unseren Leuten so etwas angetan wird, sagten sie. Andere wurden religiöser. Es ist eine individuelle Sache, die vom eigenen Lebensweg abhängt. Sozialwissenschaftler können nur einige Einflüsse verstehen. Genetik, Erziehung, Kultur und so weiter. Aber irgendwann ist da einfach der persönliche Lebensweg, der sich durch Tausende unterschiedliche Einflüsse gebildet hat, die nur man selbst kennt und zu denen kein anderer Zugang hat. Ich denke, davon hängt viel ab. Und auch von der eigenen Persönlichkeit. Und auch wieder, wie stark unser Hang zum Glauben an etwas Übersinnliches ausgeprägt ist. Es gibt Menschen, die sehr anfällig für Fantasiekonstrukte sind und die mit höherer Wahrscheinlichkeit in Bäumen oder dem Wind eine höhere Macht sehen, die in zufälligen Ereignissen eine universelle Macht wirken sehen, welche die Dinge in eine bestimmte Richtung beeinflusst, oder die eine Art kosmisches Karma zu erkennen glauben. Einige Menschen neigen eher dazu, so etwas zu glauben als andere. Darum denke ich, dass solche Menschen im 'Bösen' eher eine Botschaft Gottes sehen, während andere das nicht tun.

Ein Großteil Ihrer Arbeit ist heute der Frage gewidmet, wie man Menschen kritisches, skeptisches Denken beibringen kann. Warum ist es wichtig, dass Menschen skeptisch sind?

Das stimmt. Mein Kurs an der Chapman Universität, an der ich unterrichte, trägt zum Beispiel den Titel "Skeptizismus 101". "Wie man wie ein Wissenschaftler denkt" ist der Untertitel. Da bringe ich Kindern bei, die Werkzeuge der empirischen Forschung, des philosophischen Denkens und der Logik anzuwenden und sich selbst die Frage zu stellen, woher man weiß, dass etwas wahr ist, was wahr ist und woher wir wissen, was Wahrheit eigentlich ist. Und dabei wühle ich mich durch einen ganzen Haufen von Behauptungen. Zum Beispiel: In diesem Raum befinden sich gerade 42 Personen. Können wir herausfinden, ob das wahr oder nicht wahr ist? Ja, wir können sie zählen. Es sind nur 41. Also hatte ich Unrecht. Und dann geht es weiter mit: Es hat einen Urknall gegeben oder die Evolution oder die Auferstehung Jesu von den Toten. Das sind alles Behauptungen, denen wir uns mit den Werkzeugen der Wissenschaft zuwenden können. Dass etwas in der Vergangenheit stattgefunden hat, ist dabei nicht wichtig. Die Wissenschaft kann es trotzdem, denn wir haben Erkenntnisse durch die historische Geologie oder die Astronomie, in der wir die Entstehung der Sterne studieren. Alles Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, und doch können wir uns ihnen wissenschaftlich zuwenden. Und darum denke ich, dass wir die Werkzeuge der Wissenschaft auf absolut alles anwenden können, auch auf moralische Fragen. Und das betrachte ich als meine Aufgabe: Diese Werkzeuge der Wissenschaft und der Vernunft auf alles anzuwenden. Ich bin davon überzeugt, dass die Welt, in der wir leben, das Ergebnis der Aufklärung ist, diesem massiven Wandel des Denkens vor Jahrhunderten und der Ablehnung von Dogmen und Autoritäten – die uns noch immer begleiten, wenn auch in wesentlich geringerem Ausmaß. Und ich denke, dass wir diesen Bogen der Moral weiterspannen müssen, der meiner Ansicht nach hauptsächlich von Wissenschaft und Vernunft getragen wird und nicht von der Religion.   

Bevor wir uns der Moral zuwenden, lassen Sie uns kurz auf die Probleme eingehen, die nicht-skeptisches Denken verursacht. 2011 haben Sie ein Buch mit einem anderen wundervollen Titel geschrieben: "Von Geistern und Göttern zu Politik und Verschwörungen". Glauben Sie, dass es eine direkte Verbindung zwischen religiösem Denken und dem Problem gibt, mit dem wir uns heute konfrontiert sehen: dass Politik beeinflusst wird durch und sogar gemacht wird mit Fake News und Verschwörungstheorien?

Ganz sicher sogar. Was Sie gerade zitiert haben, ist der Untertitel von "The Believing Brain" und dort zeige ich, dass wir in unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Religion, Wirtschaft oder Ideologien lediglich Überzeugungen anhängen, die in unseren Gehirnen verankert sind. Darum müssen wir uns eine Art Kognitionswissenschaft des Glaubens erarbeiten. Wie entsteht in unserem Hirn ein Glauben – welcher Art auch immer? Natürlich gibt es diesbezüglich Hinweise. Wie gesagt die Neigung, in der Welt Muster im Chaos des Zufalls zu sehen und dahinter etwas zu vermuten. Sie sprachen von Verschwörungstheorien, die aktuell ja wieder ziemlich angesagt sind. Trump vermutet hinter allem eine Verschwörung. Und er selbst ist wiederum eine Art Verschwörung. Wir wissen mit Bestimmtheit, dass Politiker lügen und Dinge ohne unser Einverständnis tun – nicht nur er. Dinge, die teilweise nicht mal legal sind. Das gilt auch für Mr. Obama – Mr. Transparenz – wie die Wikileaks-Affäre in Bezug auf die NSA-Aktivitäten gezeigt hat. Das ist eine Art Verschwörung. Und natürlich fragt man sich, warum Menschen an Verschwörungstheorien glauben. Es ist wie eine Krankheit. Ja, vielleicht können wir die Neigung, merkwürdige Dinge zu glauben, hier anwenden, weil diese Dinge ja ganz offensichtlich nicht wahr sind, zum Beispiel dass Elvis lebt oder etwas in der Art. Das ist natürlich verrückt.

Aber er lebt doch!

(lacht) Haben Sie ihn gesehen?

Aber ja. Auf der ISS. Haben Sie das Bild nicht gesehen?

Oh ja, das stimmt natürlich. – Man muss andererseits natürlich auch sehen, dass Menschen Verschwörungstheorien deshalb Glauben schenken, weil es tatsächlich Verschwörungen gibt. Watergate war eine Verschwörung. Dass Präsident Lincoln erschossen wurde, ging auf eine Verschwörung zurück. Der Erste Weltkrieg. Gestern haben wir den hundertsten Jahrestag des Kriegsendes gefeiert. Der Krieg begann mit der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand, geplant von einer geheimen Verbindung, einer Verschwörung von serbischen Nationalisten, die sich "Schwarze Hand" nannte. Sie hatten sich dazu verschworen, ihn zu ermorden, um ihre politischen Ziele durchzusetzen, und lösten so einen der schlimmsten Kriege aller Zeiten aus. Das war eine Verschwörung. Und das ist real. Und wieder sind wir bei der Frage: Woher wissen wir, ob etwas wahr ist oder nicht? Denn einige Dinge könnten vielleicht wahr sein, andere nicht. Und wieder hängt im Bereich der Verschwörungstheorien alles von den Beweisen ab. Wie viele Menschen haben damit zu tun, wie viele Einflüsse müssen zusammenkommen, was ist die genaue Zielrichtung des Ganzen und so weiter. Und dann kann man anfangen zu unterscheiden zwischen den Verschwörungstheorien, die wahrscheinlich wahr sind, und denen, die wahrscheinlich nicht wahr sind. Und das müssen wir auf jeden einzelnen Fall anwenden.

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Untrüglicher Beweis, dass Elvis lebt: Halloween 2018 auf der ISS (© NASA/ESA/Alexander Gerst via Twitter)

Ok, kommen wir nun zur Moral. Ihr Buch "Der moralische Fortschritt: Wie die Wissenschaft uns zu besseren Menschen macht" ist gerade auf Deutsch erschienen. In dem Buch vertreten Sie die These, dass wissenschaftliches Denken uns dabei helfen kann, die Welt besser zu machen – und dass es das tatsächlich sogar schon getan hat. Wie das?

Ich beginne meine Untersuchung mit der wissenschaftlichen Revolution und der Entdeckung, dass das Universum erkennbar und von Naturgesetzen bestimmt ist, die wir verstehen können. Es beginnt also alles mit der materiellen Welt. Kopernikus, Kepler, Galileo und Newton, sie alle vereinheitlichten die materielle Welt und sagten: Ok, es ist alles bestimmt von einer Handvoll Gleichungen und Naturgesetzen, die mit Schwerkraft zu tun haben. Das führte in der Aufklärung dann dazu, dass einige sagten, warte mal, vielleicht ist ja alles von natürlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, unsere Körper, die Wirtschaft, politische Systeme, Geschichte, alles. Alles kann man aus dieser Sicht auf die Welt untersuchen, dass Dinge geschehen, die wir zwar nicht verstehen, die wir aber verstehen können. Also lass uns die dahinter stehenden Gesetzmäßigkeiten herausfinden und sie dann nutzen, um die Welt zu verändern. Darum ging es der humanistischen Bewegung der Aufklärung: Lass uns schauen, was wir bereits wissen und das auf menschliche Gesellschaften anwenden. Es gab zum Beispiel Bestrebungen, die Wirtschaft zu verstehen. Wie entsteht Wohlstand? Etwas, das für die Menschen ein Rätsel war, für Menschen, die Länder regierten und Wirtschaften beherrschten. Die vorherrschende Meinung war, wir müssen nur so viel Gold und Silber anhäufen, wie wir können, damit wir mehr haben als die anderen. Und dann veröffentlicht Adam Smith 1776 sein Buch "Wohlstand der Nationen" und die Leute verstehen, dass es sich tatsächlich um ein System handelt, das komplex ist, aber von bestimmten Kräften beherrscht wird, die ziemlich simpel sind. Die unsichtbare Hand und all das. Seit dieser Zeit haben wir immer gesagt, ok, lass uns die besten Werkzeuge der Wissenschaft anwenden, um die Gesellschaft zu verstehen und sie besser zu machen. Meine These in "Der moralische Fortschritt" ist deshalb, dass wir genau das in allen Bereichen getan haben. Es gibt einen Grund, warum es heute mehr Demokratien gibt als je zuvor, 118 liberale Demokratien. Noch vor einem Jahrhundert gab es keine einzige. Frauen konnten nicht wählen. Und eine Demokratie, in der die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung nicht wählen kann, ist keine Demokratie. Heute können Frauen in jedem Land der Welt wählen, einschließlich Saudi-Arabien. Wow. Aber warum ist das so? Das ist kein Zufall. Dahinter stehen bestimmte Kräfte. Und diese Kräfte haben etwas mit der vernünftigen und wissenschaftlichen Entdeckung zu tun, dass Frauen sich von Männern in dieser Hinsicht nicht unterscheiden. Sie wollen Freiheit, Autonomie und sie wollen etwas dazu sagen dürfen, wie das Land regiert wird. Das haben wir also herausgefunden. Die Dinge hätten sich nicht notwendigerweise in diese Richtung entwickeln müssen, aber sie haben es getan. Und deshalb behaupte ich, dass wir das zustande gebracht haben. Religiöse Menschen behaupten, dass die Religion die treibende Kraft gewesen sei. Aber wenn man sich die historischen Ereignisse anschaut, stellt man fest, dass Religion immer dem Zeitgeist hinterherhinkte. Natürlich stimmt es, dass man immer wieder vereinzelt religiöse Führer finden kann, die sich zum Beispiel für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, wie die Quäker oder William Wilberforce in England. Aber sie sind die Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Ihre größten Gegner, als sie sich für die Abschaffung der Sklaverei einsetzten, waren ihre Mit-Christen, die sagten: Auf keinen Fall! Es steht in der Bibel. Sklaverei ist toll. Es ist genau das, was Gott will. Darum hat er die Schwarzen in Afrika angesiedelt, damit wir sie hierher bringen und versklaven können. Sie haben keine Seele! Sie hatten alle diese verrückten Argumente, die heute keinen mehr überzeugen würden, aber damals taten sie es. Es war also nicht die Religion, die ihnen die Augen öffnete, sondern Wissenschaft und Philosophie und die Idee der universellen Menschenrechte, also säkulare, philosophische Vorstellungen, die die Menschen bewegten. 

In Ihrem Buch stellen Sie auch die These auf, dass wir in der besten Zeit und der moralischsten Zeit der bisherigen Geschichte der Menschheit leben. Viele Menschen würden Ihnen da wahrscheinlich nicht unbedingt zustimmen. Wenn man einen Blick in die Nachrichten wirft, könnte man den Eindruck bekommen, dass Michael Shermer nicht wirklich richtig liegt mit seiner Behauptung. Warum, denken Sie, würden Ihnen diese Menschen nicht zustimmen? Und warum sind Sie trotzdem überzeugt, dass Sie Recht haben?

Ok. Also als erstes: Schauen Sie keine Nachrichten! Falls Sie über langfristige Entwicklungen der Menschheit und über unsere historische Perspektive nachdenken, ist das Anschauen der Nachrichten das Schlimmste, was Sie tun können. Aufgabe von Nachrichten ist es, alles zu berichten, was an schlimmen Dingen passiert ist. Es gibt keine Kamerateams, die von der örtlichen Schule berichten, dass ein weiterer Tag ohne ein Schulmassaker vergangen ist. Die gehen nur dahin, wo was passiert. In Deutschland haben Sie diese Probleme nicht, aber in Amerika gibt es fast jede Woche ein Schulmassaker und dort sind natürlich die Kameras. Wenn das alles ist, was Sie sich anschauen, werden Sie Ihr Haus nie ohne Schusswaffe verlassen, weil sie davon ausgehen, dass alles schrecklich ist. Tatsächlich können Sie aber ein ganzes Leben verbringen, ohne jemals Zeuge von so etwas zu werden. Darum müssen wir uns Statistiken anschauen. Genauso wie beim Klimawandel. Die Klimaleugner sagen: Oh, schau mal, da gibt es eine Abnahme der Temperatur, es wird kälter, also gibt es keine Erderwärmung, das ist alles nur Betrug. Aber man darf sich nicht nur die kleinen Beulen in der Kurve anschauen, man muss sich die langfristigen Entwicklungen anschauen. Das ist es, was Historiker machen, und das ist es, was wir machen müssen, um herauszufinden, wo der Weg hinführt. Wir müssen uns das Ganze vorstellen nach dem Prinzip "Drei Schritte vorwärts, zwei zurück". Es gibt solche Dinge wie Trump, den Brexit, Wirtschaftsnationalismus, weißen Nationalismus, Populismus oder Autoritarismus, ja, stimmt, davon gibt es einiges. Aber es ist nicht so, dass wir plötzlich die Hälfte aller Demokratien verloren hätten, die es noch vor einem Jahrzehnt gab. So ist es eben nicht. In vielen Ländern gibt es mehr Freiheiten als zuvor, zum Beispiel für Frauen und Minderheiten. Wir müssen unseren Blick also auf alle verfügbaren Daten aus allen Ländern richten, nicht nur auf ein Land wie England mit dem Brexit oder Amerika mit Trump. Und selbst da sind bis jetzt die EU und England nicht zusammengebrochen und Trump hat bislang keinen Atomkrieg ausgelöst. Die Demokraten haben gerade in den Midterm-Wahlen gewonnen, sie schlagen zurück. Die Presse wurde nicht der Zensur unterworfen, sie ist nicht tot, sondern so stark wie eh und je. Trump schlägt auf die New York Times ein – und die Abonnentenzahl der New York Times ist die höchste, die es je gegeben hat. Wenn ich dort der Zuständige für die Abonnentenzahlen wäre, würde ich Trump anfeuern: Los, Trump, mach weiter, hör nicht auf, auf uns einzudreschen! Das ist toll für die Verkaufszahlen! Auch wenn es manchmal beunruhigend ist, dass er das Land per Twitter regiert, wird auch das vorbeigehen und wir werden heil aus der Sache herauskommen. 

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Cover von Shermers jüngst in Deutschland erschienen Buch "Der moralische Fortschritt".

In ihrem Buch "Der moralische Fortschritt" [Auf Englisch: "The Moral Arc"] nutzen Sie das Bild eines moralischen Bogens, der immer weiter in die Höhe führt. Ist das nicht ein problematisches Bild? Denn ein Bogen führt auch wieder nach unten, wenn er den höchsten Punkt erreicht hat.

Das ist natürlich eine Metapher. Eine, die von Dr. Martin Luther King stammt: "Der Bogen des moralischen Universums ist lang, aber er biegt sich hin zur Gerechtigkeit". Es gibt keinen Endpunkt für diesen Bogen. Sie müssen sich diesen Bogen wie eine asymptotische Kurve vorstellen, die immer weiter in die Höhe steigt, dabei aber immer flacher wird. Was den moralischen Fortschritt betrifft, gibt es kein Utopia, von dem wir sagen können: das ist die perfekte Gesellschaft. So etwas gibt es nicht. Und so etwas wird es nie geben. Das letzte Kapitel in "Der moralische Fortschritt" heißt "Protopia", ein Neologismus von Kevin Kelly, der einen langsamen schrittweisen Fortschritt beschreibt. Wir müssen einfach versuchen, das Morgen ein kleines bisschen besser zu machen als das Heute. Und das Heute war schon ein kleines bisschen besser als das Gestern. Das ist alles. Machen Sie sich keine Gedanken darüber, ob wir in 500 Jahren Utopia erreichen werden. Wenn Sie danach streben, endet alles in einer Katastrophe. Das ist es, was Diktatoren, Autokraten und Theokraten immer versucht haben. Und sie sind gescheitert, weil es kein Utopia gibt. Die Kurve steigt an, aber machen Sie sich keine Gedanken darum, was in weiter Ferne passiert, konzentrieren Sie sich einfach nur auf das Morgen.

Was sind Ihrer Meinung nach die wahrscheinlichsten Szenarien für die Zukunft der Menschheit? Hat sie überhaupt eine?

Diesbezüglich bin ich sehr optimistisch. Ich halte die Szenarien, die uns von Untergangspropheten präsentiert werden, alle für sehr unwahrscheinlich. Und ich rede nicht von den religiösen, die verkünden, dass Jesus wiederkommt. Ich rede von den säkularen, die sich vor künstlicher Intelligenz, Terroristen, Atomkriegen oder Klimawandel fürchten. Das sind zwar alles Dinge, um die wir uns Gedanken machen und mit denen wir uns beschäftigen müssen, aber nichts davon – ausgenommen vielleicht ein Atomkrieg – würde zur totalen Ausrottung unserer Spezies führen. Es wäre schlimmstenfalls katastrophal in Hinblick auf die Anzahl der Toten und es würde eine Weile dauern, bis wir uns davon erholt hätten – aber das würden wir. Natürlich wollen wir nicht, dass so etwas passiert. Aber die Szenarien, die da im Raum stehen, das Ende der Zivilisation – nein, das wird nicht passieren. Wir werden nicht wieder in ein dunkles Zeitalter versinken, das glaube ich nicht. Eine der größten Fähigkeiten unserer Spezies ist es, Probleme zu lösen. Wir identifizieren ein Problem und fragen uns, was zu tun ist. Das ist das, was wir in den 90ern mit dem Ozonloch getan haben. Es wurde entdeckt in den 80ern, wir stellten fest, dass wir besser etwas dagegen unternehmen sollten und haben FCKW verboten. Wir haben das Problem gelöst. Und genau das können wir auch mit dem Klimawandel machen. Auch wenn das ein wesentlich größeres Problem ist. Dass alle nur noch elektrische Autos fahren und wir die Nutzung von fossilen Brennstoffen einstellen werden, das wird ohnehin passieren. Ein Gedanke, den nur wenige Menschen nachvollziehen können, ist, dass uns die Ölvorräte niemals ausgehen werden. Lassen Sie das einen Moment lang sacken. Uns werden die Ölvorräte niemals ausgehen. Wie kann das sein? Wir leben doch auf einem begrenzten Planeten. Und irgendwann werden wir den letzten Tropfen Öl aus der Erde ziehen. Nein, werden wir nicht. Denn irgendwann wird es so wenig Öl geben, dass es zu teuer wird, es zu fördern. Keiner wird das mehr machen, weil es sich finanziell nicht lohnt. Wie sagt man so schön: Die Steinzeit endete nicht, weil es keine Steine mehr gab. Wir werden bessere Technologien finden. Und genau das tun wir ja auch schon. Dank Elon – ich fahre eine seiner kleinen elektrischen Maschinen und finde sie großartig. Und da führt der Weg hin. Um 2050 wird es nur noch Elektroautos geben. Wir werden irgendwann keine fossilen Treibstoffe mehr verbrennen. Höchstens noch auf irgendwelchen privaten Rennpisten, wo man dann eins von diesen alten Muscle Cars mit V8-Motor fährt. Zum Vergnügen. Aber die Zigtausenden Menschen im normalen Verkehr werden elektrische Autos fahren. Natürlich wird das das Problem nicht vollständig lösen. Einer dieser beiden Schritte zurück ist meiner Meinung nach die Abwendung von Atomkraft nach Fukushima. Das ist wieder diese irrationale Angst, die wir vor dem nicht Sichtbaren und dem Unbekannten haben. Atomkraft kann man nicht riechen, nicht sehen, sie ist mit Strahlung verbunden. Ich bin wirklich erschüttert, dass ihr euch hier in Deutschland gegen Atomkraft ausgesprochen habt. Denn das ist die Zukunft. Wissen Sie, wie viele Menschen bei Atomunfällen gestorben sind? In Amerika keiner. Es hat nur eine Handvoll Unfälle gegeben. Nichts im Vergleich zur Anzahl der Menschen, die beim Kohleabbau gestorben sind oder durch die Nebenprodukte der Verbrennung von fossilen Treibstoffen. Das sind astronomisch viele. Warum sind wir so besessen davon, uns um Atomenergie zu sorgen, wenn so viel mehr Menschen durch andere Energieformen sterben? Der Klimawandel selbst ist eine Folge der Nutzung fossiler Brennstoffe. Wir müssen sie loswerden.   

Es gibt etwas, auf das sich alle freuen können, denen Ihr gerade auf Deutsch erschienenes Buch "Der moralische Fortschritt" gefällt. Denn dieses Jahr haben Sie ein weiteres Buch veröffentlicht, das noch nicht ins Deutsche übersetzt wurde. In diesem Buch beschäftigen Sie sich mit der Frage des Lebens nach dem Tod aus wissenschaftlicher Perspektive. Geben Sie uns doch bitte am Ende dieses Interviews einen weiteren kleinen Spoiler: Gibt es ein Leben nach dem Tod?

(lacht) Natürlich kann ich dazu nichts mit Bestimmtheit sagen – das kann keiner. Aber wenn wir diese Frage wie eine wissenschaftliche Behauptung prüfen, sagt uns die Nullhypothese, dass wir davon ausgehen sollten, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Solange bis jemand das Gegenteil beweist. Ich schlage vor, Sie gehen vor, kommen zurück und sagen mir dann, ob da was ist. Allerdings kann ich das nicht wirklich empfehlen. Mit anderen Worten: Obwohl wir die Frage nicht mit Sicherheit beantworten können, wissen wir doch, dass es keinerlei Beweise für ein Leben nach dem Tod gibt. Deshalb sollten wir annehmen, dass es keines gibt und unser Leben danach ausrichten. Womit ich nicht meine, in Nihilismus und Sinnlosigkeit zu versinken. Nein, genau das Gegenteil: Wir sollten in allem, was wir tun und in all unseren Beziehungen jeden Tag so leben, als wäre es der letzte. Ich sollte das Beste aus ihm machen und ihn so behandeln, als wäre er das Wertvollste, das ich besitze. Für den Fall, dass es kein Morgen gibt. Falls sich herausstellen sollte, dass da doch etwas ist, wie mein Freund Deepak Chopra meint, kehren wir einfach in den Zustand des Bewusstseins zurück und treffen uns dort. Wenn das so sein sollte: Fantastisch. Ich hab' nichts dagegen. Aber ich werde mich nicht darauf verlassen und so tun, als sei all das hier nur eine provisorische Inszenierung vor der großen Bühnenshow im nächsten Theater. Ich glaube nicht, dass uns hierfür irgendwelche Beweise vorliegen.

Herzlichen Dank für dieses Interview.

Nichts zu danken.


Das Interview wurde am 12.11.2018 in englischer Sprache geführt. Übersetzung: Daniela Wakonigg.

Das Originalinterview ist hier zu sehen:

Veranstaltungen mit Michael Shermer:

19.11.2018

"Warum Menschen seltsame Dinge glauben" (Bochum)

20.11.2018

"Der Himmel auf Erden: Die wissenschaftliche Suche nach Jenseits, Unsterblichkeit und Utopie" (Heidelberg)