Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster

"Religionspolitik nicht länger vernachlässigen"

BERLIN. (exc) Nach Anti-Islam-Äußerungen der AfD: Politikwissenschaftler Ulrich Willems mahnt die übrigen Parteien, religionspolitische Debatten und Entscheidungen nicht länger zu vermeiden. Man solle "in der Bevölkerung Verständnis für Religionsvielfalt wecken".

Angesichts der Anti-Islam-Äußerungen der AfD sollten sich die herkömmlichen Parteien nach Einschätzung von Politikwissenschaftlern dringend dem "lange vernachlässigten Feld der Religionspolitik" zuwenden. "Wir haben ein hohes Niveau der Polarisierung erreicht, die Verschärfung war lange vorherzusehen. Jetzt sollten endlich alle Parteien eine offene und sachliche Debatte über die Rolle der christlichen Kirchen, des Islams und anderer religiöser Minderheiten sowie der Konfessionslosen führen", sagt der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Willems vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster.
"Wir brauchen auch differenzierte Gespräche darüber, ob sich das Modell einer engen Staat-Kirche-Kooperation noch eignet, um den religiösen Mehr- und Minderheiten gleichermaßen Religionsfreiheit zu gewähren. Bislang sind sich die Gruppen sogar oft innerhalb der herkömmlichen Parteien nicht einig."

Der Wissenschaftler kündigte eine neue öffentliche Reihe "Religionspolitik heute" des Exzellenzclusters und des Centrums für Religion und Moderne (CRM) der WWU mit Vorträgen und Podien ab dem 10. Mai in Münster an, die eine differenzierte Debatte über religionspolitische Grundsatzfragen und aktuelle Konflikte und Lösungswege stärken will. "Wir ziehen auch internationale Beispiele heran, da andere Länder in der Religionspolitik weiter sind als Deutschland", so Prof. Willems. "Die Ringvorlesung bringt gezielt Wissenschaft, Politik, Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften ins Gespräch. Der Exzellenzcluster stellt mit seiner Wissenschaftskommunikation seit Jahren seine Expertise in aktuellen Fragen öffentlich zur Verfügung."

Kopftuch, Schächten, Islamunterricht

"Die deutsche Politik hat die Bevölkerung nicht rechtzeitig auf die Religionsvielfalt vorbereitet und religionspolitische Debatten und Entscheidungen vermieden", sagt Prof. Willems. "Die Konflikte werden stattdessen den Gerichten überlassen. Dabei besteht erheblicher Problemdruck, wie die Konflikte um Kopftuch, Schächten, Beschneidung, Islamunterricht oder Moscheebau zeigen." Der Politikwissenschaftler plädiert dafür, konsensfähige Regeln für die religiösen Praktiken verschiedener Religionsgemeinschaften in demokratischen Verfahren zu entwickeln.

Die Politik sei gut beraten, bundesweit Diskussionsprozesse über allgemeine und konkrete religionspolitische Fragen in Gang zu bringen, wie dies in Kanada gelungen sei, so Willems. "Entscheidend ist es, in welchen Verfahren und Foren sich religionspolitische Debatten und Entscheidungen künftig organisieren lassen." Ein Anfang sei die Deutsche Islam Konferenz (DIK) in Berlin. Weitere Foren, auch auf Länder- und Kommunenebene, sollten folgen.

Wollen Muslime Sonderrechte?

"Nur wenn die Bevölkerung ein Verständnis für die Realität der religiösen Vielfalt entwickelt, können Abwägungsprozesse um die Rechte religiöser und nicht-religiöser Mehrheiten und Minderheiten gelingen, etwa hinsichtlich religiöser Bekleidungsvorschriften oder Feiertagen", so Willems. Andernfalls nehme die christliche und konfessionslose Mehrheit Forderungen der muslimischen Minderheit so wahr, als wolle sie Sonderrechte durchsetzen oder als sei die säkulare Grundordnung in Gefahr. "Umgekehrt meinen Minderheiten, sie würden nicht anerkannt und von Mehrheitstraditionen bestimmt."

Der Wissenschaftler hat die Ringvorlesung "Religionspolitik heute. Problemfelder und Perspektiven in Deutschland" gemeinsam vorbereitet mit dem Religionssoziologen und Sprecher des Exzellenzclusters, Prof. Dr. Detlef Pollack, der Leiterin des Zentrums für Wissenschaftskommunikation, Viola van Melis, und dem Historiker und wissenschaftlichen Mitarbeiter im CRM, Dr. Daniel Gerster.

Hintergründe der religionspolitischen Herausforderungen

Als Religionspolitik sind all jene politischen Prozesse und Beschlüsse zu verstehen, die die individuelle Praxis und kollektive Ausdrucksformen von Religion ebenso regeln wie den öffentlichen Status von Religionsgemeinschaften und religiösen Symbolen. Durch die hohe Verrechtlichung ist das Politikfeld von Konkurrenz zwischen politischer und richterlicher Regulierung gekennzeichnet, wie Prof. Willems sagt. "Zugleich hat es sich stark politisiert: So fordern Muslime Zugang zu denselben öffentlichen Ressourcen wie die Kirchen, und eine religionskritische Öffentlichkeit kritisiert religiöse Praktiken wie das Kopftuchtragen oder die Beschneidung."

Im Hintergrund der religionspolitischen Herausforderungen stehen starke Veränderungen der religiös-kirchlichen Landschaft: Die Vielfalt der Religionen ist durch Zuwanderung gewachsen, der Islam zur drittgrößten religiösen Gemeinschaft geworden. Durch die stetige Entkirchlichung seit den 1960er Jahren und die Wiedervereinigung hat sich die Zahl der Konfessionslosen erhöht. Zugleich wächst die religiöse Individualisierung. Ulrich Willems: "Sie findet Ausdruck in einer nachlassenden sozialmoralischen Prägekraft der Kirchen und einer Vermischung religiöser Traditionen." (vvm)