Kulturhauptstadt Wroclaw

Zu Besuch bei Nachbarn

Noch bis Ende 2016 ist das polnische Wroclaw (Breslau) Europäische Kulturhautstadt. Historisches Ambiente, neue Museen, nationales Musikforum und jugendlicher Lifestyle machen diese multikulturelle Stadt zu einem lohnenswerten Reiseziel.

Wo Breslau steinalt ist, ist es am schönsten: Beim ersten Citybummel durch die Altstadt fühlt der Besucher sich angesteckt von der Anmut und Leichtigkeit der Meisterwerke mittelalterlicher Kunst, barocken Bürgerhäuser und der verträumten Gassen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts galt Breslau als Zentrum der Avantgarde. Fast alle späteren Repräsentanten des "Bauhauses" und der "Neuen Sachlichkeit" wirkten hier.

Logo der Kulturhauptstadt
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Das ambitionierteste Bauprojekt war die vom Architekten Max Berg konzipierte Jahrhunderthalle, ein runder Stahlbetonbau auf dem Messegelände, die von der UNESCO auf die Weltkulturerbe-Liste gesetzt wurde. Der blühenden Handelsmetropole setzte der Zweite Weltkrieg ein jähes Ende. 1944 zählte Breslau eine Million Einwohner, fast doppelt so viel wie vor dem Krieg. Obwohl die Stadt in den letzten Kriegsmonaten von den Alliierten bereits in Schutt und Asche gebombt worden war, erklärten die Nazis Breslau zur Festung. Niemand durfte unter Androhung der Todesstrafe die in Trümmer liegende Geisterstadt verlassen. Am 28. Januar 1945 fragte Bürgermeister Dr. Spielhagen beim Gauleiter Karl Hanke an, ob es nicht besser wäre zu kapitulieren. Als "Drückeberger" wurde er kurz darauf hingerichtet. Die weiteren Opfer des Nazi-Wahnsinns: 170.000 Zivilisten, 6.000 deutsche und 7.000 sowjetische Soldaten, 70 Prozent zerstörte Häuser.

Was folgte, war eine einzigartige politische Aktion: Nahezu die gesamte deutsche Bevölkerung musste die Stadt binnen kurzer Zeit verlassen. An ihrer Stelle kamen Polen aus den an die Sowjetunion abgetretenen polnischen Ostgebieten, v.a. aus der heutigen Ukraine, der Gegend um Lemberg. Breslaus Neubürger hießen in der amtlichen polnischen Sprache "Repatriierte" – so als wären sie in ihre vermeintliche Heimat zurückgekehrt. Im Sozialismus war die deutsche Vergangenheit tabu.

Heute zählt Wroclaw 630.000 Einwohner. An der Universität und den zahlreichen Akademien sind knapp 130.000 junge Leute eingeschrieben, was bedeutet, dass jeder sechste Breslauer Student ist. Das sorgt für Aufbruchstimmung und ein urbanes Flair. Und da es sich in Wroclaw nicht nur angenehm leben, sondern auch gut verdienen lässt, bleiben viele Hochschulabsolventen ihrer Stadt treu. Auch wegen dieses kreativen Potenzials haben sich internationale Informatik-, Finanz- und Businesskonzerne hier niedergelassen.

Krasnal
Krasnal

Alle Wege Breslaus führen zum Ring am Rathaus inmitten der schachbrettartig angelegten Altstadt. Es lohnt sich, den Platz mehrmals zu umrunden, denn er ist der schönste der Stadt, autofrei und zu jeder Tageszeit voller Leben. Beim Spaziergang stößt man auf zahlreiche Zwerge, die vor Kirchen lümmeln, auf Fensterbänken stehen oder an Laternenpfählen hängen. Die spöttischen Gnome sind etwa 30 Zentimeter groß, aus Bronze gegossen und über die Stadt verstreut. Auch wenn viele Zwerge inzwischen als Werbeträger für Banken oder Hotels dienen, so ist ihr Ursprung doch ein sehr politischer. In den 1980er Jahren protestierte in Wroclaw die "Orange Alternative" mit spontanen Aktionen wie Demonstrationen in Zwergenkostümen gegen die kommunistische Staatsmacht. Als Projekt der Studenten der Kunsthochschule tauchten die ersten Zwerge im Sommer 2001 auf. Mittlerweile sollen es über 500 sein. Die "Krasnale", so heißen die kleinen Gesellen auf Polnisch, sind zum humorvollen Wahrzeichen der Stadt avanciert.

Dass Breslau eine deutsche Stadt war, spürt man nirgends so deutlich wie auf dem alten Jüdischen Friedhof, der wie aus der Zeit gefallen wirkt. Die erste Bestattung gab es im November 1856, die letzten Begräbnisse 1942, im Jahr darauf wurde der Friedhof geschlossen. Heute ist er mit seinen 15.000 Grabmälern ein Museum, ein Park mit Mausoleen, Kapellen und Obelisken. Die meisten Namen der Verstorbenen klingen vertraut: Wertheim, Singer, Bloch, Schlesinger und Mendelssohn. Aber auch Ferdinand Lasalle, der Gründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, und die "schlesische Nachtigall" Frederike Kempner sind hier beigesetzt.

Jüdischer Friedhof
Jüdischer Friedhof

An die jüdische Kultur in Breslau erinnert auch die in der Südstadt gelegene Synagoge zum Weißen Storch. Auf Initiative einer norwegischen Künstlerin wurde sie erst kürzlich renoviert und dient nun als Ort für Ausstellungen und Konzerte. Vor der Synagoge lädt die Terrasse eines Cafes zum entspannten Verweilen unter Bäumen ein.

Nicht mehr im Stadtbild sichtbar ist, dass in Breslau bis 1933 eine mitgliederstarke Ortsgruppe des Deutschen Freidenker-Verbandes existierte und 16 weltliche Schulen von dissidentischen Kindern besucht wurden. Schon 1845 gründete sich hier die erste freireligiöse Gemeinde. Sie wurde 1936 von den Nazis verboten, das Gemeindeeigentum sowie der freireligiöse Friedhof, auf dem Johannes Ronge begraben wurde, enteignet. Lediglich das ehemalige Gemeindehaus der Freireligiösen überstand unversehrt die Kriegswirren und wird heute von den 7-Tages-Adventisten genutzt. Es wird sicherlich noch einige Jahre brauchen, um unter der Dominanz der katholischen Kirche in Polen dieses geschichtliche Segment des Freidenkertums an die Oberfläche zu bringen.

Die Stadt hat ihren Selbstfindungsprozess aber noch längst nicht abgeschlossen. Wie Wroclaw die Zukunft gestalten will, davon zeugt auch das Programm zur Kulturhauptstadt. Rund 1.000 Veranstaltungen werden 2016 auf die Beine gestellt. Das reicht vom Festival für zeitgenössische Poesie, über Konzerte an vergessenen Orten, internationale Theaterolympiade, Verleihung des Europäischen Filmpreises bis hin zu interdisziplinären Multi-Media-Spektakeln. In der hippen Bar "Barbara", zentraler Infopunkt für das Kulturhauptstadt-Jahr, gibt es Programmhefte, freies W-Lan, Lesungen und finden Partys statt.

Wroclaw boomt, auch dank Finanzspritzen der EU. Aber daran denkt der Besucher, der mit Handy-App die Geschichte Breslaus erlebt, beim Spaziergang nicht. Er taucht vielmehr ein in eine Stadt, die pittoresk und modern zugleich ist und die der Frage nachgeht, wie offen und tolerant wir in Zukunft in Europa zusammenleben wollen.