Am vergangenen Sonntag formierte sich in Wiesbaden die reaktionäre "Demo für alle", um gegen den neuen Lehrplan für Sexualerziehung der hessischen Landesregierung zu demonstrieren. Parolen wie "Gegen Genderwahn", "Frühsexualisierung sowie Indoktrination stoppen" sind einem noch bestens aus Baden-Württemberg in Erinnerung geblieben. Der Demonstrationszug kam allerdings aufgrund mehrerer Blockaden nicht weit.
Gegenüber der "Demo für alle" mit rund 750 Teilnehmenden stand das Bündnis "Ihr seid nicht alle", bestehend aus Gewerkschaften, queeren Organisationen und Parteien wie der SPD, Grüne & Linke, die rund 3.000 Teilnehmende stellte. Neben einer Hauptveranstaltung mit Ständen und Musikbeiträgen, gelang es vereinzelten autonomen Gruppen den Demonstrationszug zu blockieren. Dies führte dazu, dass die Demonstration nach nicht einmal einem Kilometer Fußmarsch wieder zurückgeleitet werden musste. Von Seiten der Organisatoren hieß es, man habe Angst um die Kinder, die bei der Demonstration mitliefen.
Beim Bündnis "Ihr seid nicht alle" ist man am Abend zufrieden: "Wir haben deutlich gemacht, dass in Wiesbaden eine reaktionäre Demonstration, an der sich auch Nazis beteiligt haben, nicht widerspruchslos hingenommen wird", sagt Sascha Schmidt, DGB-Kreisvorsitzender von Wiesbaden. Manuel Wüst vom Verein "Warmes Wiesbaden" ist "glücklich, dass wir gezeigt haben, dass die breite Gesellschaft für Akzeptanz und Vielfalt steht."
Doch trotz des Erfolgs der Gegenbewegung "Ihr seid nicht alle" müssen einige überraschende Beobachtungen genauer untersucht und entsprechende Schlüsse gezogen werden. Laut Berichten der Frankfurter Rundschau fand sich nämlich bei der "Demo für alle" eine ungewöhnliche Allianz zusammen. Dazu zählten nicht nur ältere Damen und Herren mit Bibelversen, sondern auch muslimische Frauen, sowie zwei Dutzend Neonazis. Bereits im Vorfeld sorgte der Bischof von Fulda Heinz Josef Algermissen für Empörung, als dieser der Demonstration seinen Segen erteilte.
Dies ist nicht nur ein allzu deutlicher Hinweis dafür, wie weit menschenfeindliches Gedankengut die bürgerliche Mitte erreicht hat. Dieser Befund macht ebenso darauf aufmerksam, dass Homophobie in anderen kulturellen und religiösen Kreisen bestens präsent ist. Genau wie das Christentum bietet auch der Islam viele Spielräume zur Verbreitung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, was in der öffentlichen Diskussion unbedingt berücksichtigt werden muss. Gleichwohl darf nicht darüber hinweggesehen werden, dass auch auf der anderen Veranstaltung verschiedene Konfessionen teilnahmen und sich gegen jedweder Form von religiösem Fundamentalismus stellten.
Fest steht, dass die Angehörigen der "Demo für alle" nicht als weitgehend homogene Masse betrachtet werden darf. Dementsprechend müssen auch dazu klare Antworten erfolgen. Es handelt sich eben nicht nur um Menschen, die den mühsam erarbeiteten gesellschaftlichen Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte vollkommen verpasst haben. Darunter befinden sich nicht wenige Menschen, die aus tief religiösen Motiven handeln und dabei nicht davor scheuen mit antidemokratischen Kräften gemeinsam zu spazieren. Religiöse Institutionen jedweder Coleur können nicht glaubwürdig von sich behaupten menschenfreundlich zu sein, wenn sie gleichzeitig solche Aktionen kommentarlos gewähren lassen.
4 Kommentare
Kommentare
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Es ist völlig legitim, dass Humanisten die "Demo für alle" kritisieren. Schließlich gibt es bei uns die Meinungsfreiheit - eine der erfreulichsten Früchte der humanistischen Aufklärung.
Zur Meinungsfreiheit gehört auch das Demonstrationsrecht. Deshalb hielte ich es für angebracht, dass auch die Blockade des Demonstrationszugs von Humanisten kritischer beurteilt wird, als das im obigen Artikel geschieht.
Es ist schon ein Unterschied zwischen "etwas deutlich machen" und der Sabotage einer angemeldeten Demonstration. (Ich nehme an, die "Demo für alle" war angemeldet - ansonsten ist dieses Posting gegenstandslos)
Jonny am Permanenter Link
Sitzblockieren einer angemeldeten Demo kann, aber muss nicht, je nach Umstand, selbst als zulässige (Spontan)Demo gelten und, laut Bundesverfassungsgericht, zulässig sein. Oft nicht, manchmal schon.
Ich denke auch, dass Humanismus - wie die Demokratie - nach der Erfahrung des Nationalsozialismus wehrhaft sein muss. Die Weimarer Republik hat den Feinden der Demokratie alle Rechte und Freiheiten gewährt, bis zum eigenen Untergang und der Vernichtung von Millionen. Sicher sind die Organisatoren der Demo für Alle keine Nazis im wörtlichen Sinne, aber sie machen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit - gegen alle, die nicht heterosexuell sind und ettliche andere - gesellschaftsfähig, wollen reaktionäre Gesetzgebung zementieren und noch verschärfen, mit allen Konsequenzen die sowas für Menschen und ihr Leben, ihr ganzen Leben, hat. Andere, noch Härtere, gewaltbereite Leute ernten dann irgendwann die Saat. Schon jetzt hat die AfD 20% in Bundesländern und kokettiert gleichzeitig mit scharfem Schuss auf Flüchtlinge (von Storch) und den Enttabuisierung des Begriffs Völkisch (Petri), was ein ideologischer Begriff der Nationalsozialisten und zumindest ideologisch noch härterer Vorgänger wie dem Alldeutschen Verband war. Trump in den USA, Hofer 50% in Österreich, Front National in Frankreich, usw. Viele realisieren die Gefahr gar nicht mehr.
Norbert Schönecker am Permanenter Link
S.g. Jonny!
Ich denke, dass in Deutschland und Österreich der Staat gut genug funktioniert, um vor einem totalitären Umsturz zu schützen.
Wenn bei einer Demonstration nationalsozialistische Wiederbetätigung erkannt wird, dann sollen die nationalsozialistischen Elemente entfernt oder, wenn das nicht geht, schlimmstenfalls die Demonstration aufgelöst werden. Aber von der Polizei, nicht von Gegendemonstranten.
Ebenso sollte gehandelt werden, wenn bei einer Demonstration andere gemeinschaftsgefährdende Taten gesetzt werden (wie z.B. Brandstiftung oder Körperverletzung).
Wenn aber eine Demonstration ordentlich angemeldet ist, sie nicht zu Gewalt gegen andere aufruft und solange sie friedlich abläuft, kann eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht mit den humanistischen Idealen vereinbart werden.
Martin T am Permanenter Link
Oh, jetzt verstehe ich, welche "Demo drüben in Wiesbaden" Frau Häußler auf dem Zukunftskongress so gut fand.