"Sklaverei als Menschenrecht"

Schon der Titel des Buches von Rainer Roth scheint ein Widerspruch zu sein. Doch auch der Inhalt könnte viele irritieren, beschreibt er doch bürgerliche Aufklärer von Locke, Montesquieu über Rousseau bis Kant als Rassisten, Sklaverei nicht als moralischen Unfall der bürgerlichen Gesellschaft, sondern als ökonomisches Fundament von deren Industrialisierung und des Reichtums von Handels- und Industrieunternehmern im 18. / 19. Jahrhundert. Auch seien die bürgerlichen Menschenrechtserklärungen nie als universal im heutigen Verständnis, sondern in erster Linie zum Schutz des bürgerlichen Eigentums formuliert worden.

Der Autor Rainer Roth, ehemals Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Frankfurt/a.M., unternimmt nichts geringeres, als das gängige Geschichtsbild über bürgerliche Aufklärung und Revolutionen bezüglich der Menschenrechte einer grundsätzlichen Kritik und Revision zu unterziehen. Kontrapunktisch zitiert der Autor ausführlich bürgerliche und primär ideengeschichtlich ausgerichtete Historiker, um anschließend deren verallgemeinernde Schlussfolgerungen an ihren eigenen ökonomischen Befunden, oder denen anderer zu messen. Er weist also den ökonomischen Verhältnissen das Primat bei der Analyse zu und blendet stets ergänzend den Sachstand der damaligen zeitgenössischen Sklavereikritik von Marx und Engels ein. Der engere Untersuchungsgegenstand des Buches ist der atlantische Sklavenhandel und die Sklaverei Englands, Frankreichs und der USA von ca. 1500-1890.

Die Methode des Kontrapunktes zeigt höchst aufschlussreich, wie gegensätzlich Geschichtsdarstellungen beim Thema Menschenrechte, Sklaverei und bürgerliche Aufklärung ausfallen können, je nachdem ob primär Ideen/ Moral oder ökonomischen Verhältnissen das Primat eingeräumt wird. In manches Bild einer vom Licht der Vernunft erhellten Aufklärung dürfte sich nach der Lektüre bezüglich Menschenrechte eine dunkle Wolke schieben.

Wie war es möglich, dass mit der politischen Etablierung bürgerlicher Gesellschaften in England (1649), den USA (1787), Frankreich (1789) und deren Erklärungen der Menschenrechte die Versklavung von mindestens 13 Millionen Afrikanern in die Karibik und Nordamerika ihre stärkste Dynamik und größtes Ausmaß erfuhr?

Zur Beantwortung dieser Frage werden die drei Sklaverei betreibenden Länder stets getrennt untersucht. Als erstes in einer umfassenden Darstellung der jeweiligen geschichtlichen Entwicklung der Sklaverei, folgend der verfassungsmäßigen Entwicklung von Sklaverei zum Menschenrecht über den bürgerlichen Eigentumsbegriff, welcher Sklaven als Sachen behandelte. Daran anschließend werden auf fünfzig Seiten Porträts von Ideologen der Sklaverei abgebildet: John Locke, Adam Smith, Thomas Jefferson, Montesquieu, Rousseau, Abbé Raynal, Condorcet, Voltaire, Kant und Hegel. Einige der Genannten investierten selbst in Sklavenhandelsgesellschaften (Locke, Montesquieu, Voltaire, Condorcet) oder erhielten Zuwendungen aus solchen (Raynal, Diderot). Jefferson war selbst Sklavenhalter.

Weitere 110 Seiten widmen sich, wieder nach Ländern getrennt, den Gründen von Verboten erst des Sklavenhandels (ab 1807) und später der Sklaverei (ab 1838). Die Überführung der Sklaverei in Schuldsklaverei (Schuldknechtschaft, Sharecropper) wird auf über 100 Seiten thematisiert. Gegen Ende des Buches werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Sklaverei und moderner Lohnsklaverei untersucht. Ein abschließendes Kapitel widmet sich eigens der Entwicklung der Menschenrechte seit den bürgerlichen Revolutionen bis hin zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948.

Einige Kernaussagen des Buches sind:

  • Menschenrechte wurden vom Bürgertum als Schutzrechte gegen Willküreingriffe der Monarchen und gleichzeitig als Vorrechte gegen die mehrheitlich Besitzlosen formuliert;
  • das Recht auf Eigentum stellt als "ein unverletzliches geheiligtes Recht" 1 den Kern bürgerlicher Menschenrechte dar. 23 Sklaven zählen als bewegliche Sachen (meubles) zum Eigentum, was übrigens auch schon römische Juristen in der Spätantike so sahen;
  • der "Mensch" der Menschenrechte ist der Mensch mit Eigentum - der Bürger männlichen Geschlechts; das Menschenrecht auf Freiheit und Gleichheit setzte Besitz voraus, wie am deutlichsten am fast drei Jahrhunderte währenden bürgerlichen Zensuswahlrecht nach Steueraufkommen, Grundbesitz oder Vermögen erkennbar ist;
  • Sklavenhandel und Sklaverei waren Grundstock für die Anhäufung von Kapital im Manufakturkapitalismus und Motor der späteren Industrialisierung;
  • der Amerikanische Bürgerkrieg (1861-65) wurde nicht geführt, um die Sklaverei zu beenden, sondern um dem nordamerikanischen Industriekapital den einheitlichen Binnenmarkt zu erhalten. Die Befreiung von Sklaven wurde hier aus militärtaktischen Gründen zum Kriegsziel erklärt;
  • nicht Ideale und Moral führten zum Ende von Sklavenhandel und Sklaverei, sondern der Widerstand der Sklaven, wirtschaftliche Zwänge, die Konkurrenz zwischen Freihandel forderndem Industrie- und Handelskapital auf der einen und protektionistischen Großgrundbesitzern auf der anderen Seite, sowie handels- und geopolitische Gegensätze zwischen den Sklavenhandel und Sklaverei betreibenden Staaten.

Das Buch bricht mit vielen geläufigen Vorstellungen über bürgerliche Revolutionen, die Aufklärung, Sklaverei und Menschenrechte. Es zeigt, dass viele Gedanken der Aufklärer heute in verkürzter, unkritischer Rezeption als Glorienschein der bürgerlichen Gesellschaft dienen, unter welchem die Sklaverei zu einem bloßen Betriebsunfall bürgerlicher Moral verblasst. R. Roth zeigt dagegen, dass der "Betriebsunfall" Sklaverei mit den als Menschenrechte formulierten bürgerlichen Werten vollkommen vereinbar ist und ihnen als unverhohlen gewalttätigster Ausdruck entsprang.

"Der Mensch ist frei und überall liegt er in Ketten" schreibt der Aufklärer Jean Jacques Rousseau 1757 in seiner Abhandlung Vom Gesellschaftsvertrag. Doch er klagt nicht die sprichwörtlichen Ketten der millionenfach aus ihrer Heimat Afrika verschleppten Sklaven an. Rousseau handelt vielmehr die Problematik eines von einem Monarchen versklavten Volkes ab, was nicht legitim sei, wie er im Kapitel Von der Sklaverei feststellt. Hunderttausende zeitgleich versklavte und in Ketten in die französische Karibik zwangsdeportierte Afrikaner werden von ihm mit keinem Wort erwähnt.

Bezüglich Kant sieht sich der Autor veranlasst ein Kapitel Kant – Theoretiker des Rassismus einzufügen, worin er ihn mit Verweis auf Zitate als "universellen Theoretiker der Rechtfertigung kolonialer Unterwerfung" beschreibt. Und selbst Aufklärer und andere Abolitionisten (Abschaffer), welche ein Ende der Sklaverei forderten, offenbarten rassistische Einstellungen, wenn sie dafür eine langjährige, vorausgehende kulturelle Höherentwicklung der von Natur aus minderwertigen "Neger" zur Bedingung machten.

David Graebers Buch "Schulden – Die ersten 5000 Jahre" ziselierte Sklaverei aus ethnologischer Sicht bis in die letzte Faser: Welcher Übergriffe bedarf es, um einen Menschen versklaven zu können? R. Roths Buch knüpft am Zeitpunkt der erfolgten Versklavung an und zeigt detailliert, wie die bürgerliche Gesellschaft mit ihrem Eigentumsbegriff und ihrer kapitalistischen Produktionsweise Versklavung legalisierte, initiierte und kapitalistisch verwertete. Das Buch behandelt dabei übergreifend die bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich, den Manufaktur- und Industriekapitalismus, Sklavenhandel und Sklaverei, Menschenrechte, den Amerikanischen Bürgerkrieg, die Verdrängung der Sklaverei durch den imperialen Kolonialismus, bürgerliche Schein- und Doppelmoral bis in die Gegenwart, sowie die Versuche einer Universalisierung der Menschenrechte seit dem Ende des 2. Weltkrieges.

Die Bemühungen Menschenrechte für allgemeingültig und verbindlich zu erklären, um immer noch weltweit bestehende Zwangsarbeit und Sklaverei zu beenden, scheitern auch heute noch am "unverletzlichen geheiligten Recht" auf Eigentum, genauer am Privateigentum an Produktionsmitteln. Unternehmen sind, wenn überhaupt, nur bis zur jeweiligen Landesgrenze an Menschenrechte gebunden. Bei transnationalen Aktivitäten können sie für Menschenrechtsverstöße mangels eines internationalen oder nationalen Regelwerkes bisher nicht haftbar gemacht werden. Auch in Deutschland fehlt es immer noch an einer klaren Rahmensetzung für die menschenrechtliche Verantwortung bei Auslandsgeschäften deutscher Unternehmen. Über die tieferliegenden Ursachen dieses Missstandes klärt das vorliegende Buch in einem historischen Rückblick auf.

Rainer Roth: Sklaverei als Menschenrecht – Über die bürgerlichen Revolutionen in England, den USA und Frankreich, DVS, 2015, 610 Seiten, ISBN 978-3-932246-80-7, 15 Euro

  1. französische Menschenrechtserklärung von August 1789, Art. 17 ↩︎
  2. "Das große und hauptsächliche Ziel, weshalb Menschen sich zu einem Staatswesen zusammenschließen und sich unter eine Regierung stellen, ist … die Erhaltung des Eigentums." John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung, I, § 124, 278, 1690 ↩︎
  3. "Unbestreitbar ist das Recht auf Eigentum als das heiligste aller Bürgerrechte und in gewisser Hinsicht noch wichtiger als die Freiheit selbst." Jean Jacques Rousseau: Politische Ökonomie, 1755 ↩︎