Interview mit Thomas Osten-Sacken

Aleppo – "Ein moralisches Totalversagen"

Die Welt schaut auf Aleppo und die dortige humanitäre Katastrophe. In den vergangenen Tagen hatte das syrische Regime unter Baschar al-Assad mit Hilfe von Verbündeten die Stadt zurückerobert. Der hpd sprach mit dem Nahost-Experten Thomas Osten-Sacken. Er bewertet Aleppo als eine Zäsur in der internationalen Politik.

hpd: Guten Tag Herr Osten-Sacken. Was bedeutet die Niederlage der Rebellen in Aleppo für den Krieg in Syrien?

Osten-Sacken: Baschar al-Assada ist eigentlich kein starker Akteur mehr in der Region. Er hält sich nur noch an der Macht, weil der Iran und Russland ihn unterstützen. Aleppo war schon immer eines der großen Ziele der Koalition aus Russland, dem Iran und dem syrischen Regime. Die Einnahme der Stadt ist in dieser Hinsicht ein enormer symbolischer Sieg. Zum anderen ist sie extrem wichtig, um den Norden von Syrien zu kontrollieren. 

Wie kam es zur Eskalation in den letzten Tagen und wie ist die aktuelle Situation?

Seitdem Russland im September 2015 mit seiner Luftwaffe direkt in den Syrien-Krieg eingegriffen hat, wurde Aleppo die ganze Zeit systematisch bombardiert. Daraufhin wurden die Zugänge nach Norden vor allem durch die Bodentruppen der Hisbollah geschlossen.

Von den USA wurde die syrische Opposition mehr oder weniger völlig fallen gelassen und mit Donald Trump wurde jemand gewählt, der diese Obama-Politik bestenfalls fortführt. Dadurch haben Russland, der Iran und Assad freie Hand und konnten eine Großoffensive starten, um die von den Rebellen kontrollierten Gebiete vollständig einzunehmen. Vor etwa drei Wochen hat diese Offensive mit massiven Luftschlägen, Fassbomben, Artilleriebeschuss und zehntausenden von Bodentruppen der Hisbollah sowie anderer schiitischer Milizen vor allem aus dem Irak und Afghanistan begonnen. 

Der Widerstand in Ost-Aleppo ist schließlich komplett zusammengebrochen. Das Gebiet war eingekesselt und abgeschnitten, Nahrungsmittel und Medikamente sind kaum noch rein gekommen. Die letzten Viertel, die noch von Rebellen gehalten worden sind, wurden gestürmt. Ost-Aleppo ist jetzt ein einziger Schutthaufen, in dem die gesamte zivile Infrastruktur zerstört wurde und die meisten der letzten Bewohner inzwischen evakuiert wurden. Es kam zu Übergriffen und Exekutionen. Und das alles findet in Echtzeit vor unseren Augen statt. Man kann es auf Twitter, Facebook und anderen Medien verfolgen.

UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sprach von einem "Versagen der Vereinten Nationen"...

Natürlich haben die Vereinten Nationen mit ihrem Geschwätz über das Verhindern von Kriegsverbrechen und Massakern versagt. Die Vorstellung einer sogenannten Weltordnung, in der es eine Schutzverantwortung gibt, ist am Ende. Aleppo ist eine Zäsur in der internationalen Politik. Es gilt nun das Recht des Stärkeren. In Zukunft kann jeder Diktator und Autokrat seine eigene Bevölkerung so zusammenschießen und vertreiben, wie er will, solange er sich nur mit den Richtigen verbündet.

Aleppo ist daher auch ein ganz klares Zeichen an jede Demokratie- und Protestbewegungen in anderen Teilen der Welt: "Ihr seid alleine! Ihr braucht euch nicht einzubilden, dass es in irgendeiner Weise eine Wertgemeinschaft gibt, die euch unterstützt!" Damit wurde mit einem Paradigma gebrochen, das zwar nie wirklich eingehalten wurde, aber für die internationale Politik der Neunziger und Nuller Jahre zumindest wichtig war.

Was sind die Gründe für das Versagen der Vereinten Nationen? War es eher Ohnmacht oder fehlender Wille?

Generell ist festzustellen, dass der Wille zur Unterstützung von Protestbewegungen und zu einer klaren Politik gegen Diktaturen in den letzten Jahren schwächer geworden ist. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen unter anderem in einer Schwächung des Westens sowie einer Politik von Links und Rechts gegen einen sogenannten Regime-Change. Vermutlich spielt auch eine Faszination von Diktaturen, die sich als autochton oder anti-westlich darstellen, eine Rolle. 

Welche Interessen verfolgen der Iran und Russland mit ihrer Unterstützung des Regimes unter Assad in Syrien?

Der Iran möchte eine Hegemonie im Nahen Osten erreichen und in dem – mal kalten, mal heißen – Krieg gegen sunnitischen Mächte die Oberhand gewinnen. Er versteht sich als revolutionäres Land, das seine islamische Revolution exportiert. Überall dort, wo es Schiiten gibt, versucht der Iran dominant zu werden. Das Staatsziel ist die Vernichtung von Israel und vor diesem Hintergrund macht die iranische Nahost-Politik auch nur Sinn.

Russland hat traditionell ein großes Interesse an Syrien, das schon immer ein enger Verbündeter mit großem Einfluss auf den Nahen Osten war. Zugleich soll demonstriert werden, dass jede Art von Protest- und Demokratiebewegungen abgelehnt wird, die ein solches Regime stürzen könnte. Das ist die neue Ordnung unter Putins Rigide.

Früher oder später werden die Interessen Russlands und des Irans in Syrien allerdings divergieren. Es ist ein Zweckbündnis und ich denke nicht, dass das lange hält. Wenn irgendwann der Großteil West-Syriens wieder unter die Kontrolle dieser Allianz fällt, werden die internen Differenzen zwischen ihnen auch zu Tage treten. Denn im Augenblick gibt es keinen gemeinsamen Plan für die Zukunft Syriens. 

Kann man absehen, wie sich die Lage entwickeln wird? Werden andere Städte in Syrien demnächst verstärkt angegriffen?

Ja, Idlib. Es ist die letzte große Stadt, die noch von Rebellen kontrolliert wird. In absehbarer Zeit wird es der nächste Ort sein, der noch massiver bombardiert wird, als es jetzt schon getan wird. Dort wird es womöglich zu einer Art von Endschlacht kommen.

Danach wird der Aufstand aber nicht aufhören. Ich vermute, dass die radikal-islamistischen Gruppierungen unter den Rebellen Zulauf bekommen und dann auf den Guerilla-Krieg umschalten. Unter Assad wird Syrien jedenfalls ganz sicher nicht befriedet werden. 

Wie wäre Frieden möglich und was sollte dafür konkret getan werden?

Immer noch müssten Schutzzonen und Flugverbotszonen geschaffen werden. Es müsste klar sein, dass es unter Assad keine Zukunft für Syrien gibt. Dafür ist es jetzt aber eigentlich zu spät. Man hätte 2012 etwas tun müssen, um die Katastrophe zu verhindern. Europa und die USA werden aber auch in diesen Tagen nichts tun. Jede Art von Forderung gegenüber den Vereinten Nationen werden ins Leere laufen und verklingen dort ungehört. Die Syrer sind daher alleine gelassen. 

Es sollte nun zumindest gefordert werden, dass die Grenzen geöffnet werden, Menschen flüchten können und die humanitäre Versorgung garantiert wird. Aber auch diese Forderungen werden wahrscheinlich nicht gehört werden. Also kann man eigentlich nur immer wieder darauf aufmerksam machen, was für ein Verrat, was für ein moralisches Totalversagen und was für eine Bankrotterklärung dieses Aleppo auch für die Europäer und die USA ist. Dass es Menschen geben wird, die das weder vergessen noch vergeben.

Thomas von der Osten Sacken ist Geschäftsführer der Hilfsorganisation Wadi e.V. und als solcher seit über 20 Jahren regelmäßig im Nahen Osten unterwegs. Er ist freier Publizist und schreibt u.a. für die Jungle World und Die Welt.