Ein Lichtblick für Schwerstkranke

Es gibt noch Richter in Deutschland

Der 2. März 2017 dürfte in die deutsche Rechtsgeschichte eingehen: An diesem Tag hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig die entscheidende Bresche in eine heftig verteidigte mittelalterliche Phalanx von Scheinheiligkeit, Ignoranz, Macht- und Finanzgelüsten geschlagen: Obwohl das Betäubungsmittelgesetz die Abgabe von Betäubungsmitteln zum Zweck der Durchführung eines Suizids verhindern wolle, gebiete es die Verfassung, "in Extremfällen eine Ausnahme für schwer und unheilbar kranke Patienten zu machen, wenn sie wegen ihrer unerträglichen Leidenssituation frei und ernsthaft entschieden haben, ihr Leben beenden zu wollen, und ihnen keine zumutbare Alternative – etwa durch einen palliativmedizinisch begleiteten Behandlungsabbruch – zur Verfügung steht". Dadurch eröffnet sich Schwerstkranken in Deutschland ein Lichtblick, ihr Leben dann, wenn es ihnen zu schwer geworden ist, schmerzlos und endlich ohne eine beschwerliche Reise ins Ausland beenden zu können.

In negativer Weise ist dieser Fortschritt durch den Vorstand der "Deutschen Stiftung Patientenschutz", Eugen Brysch, in seiner Reaktion auf den Urteilsspruch anerkannt worden; er kritisierte die Entscheidung als "praxisfern". "Denn was eine unerträgliche Leidenssituation ist, bleibt offen", Leiden sei "weder objektiv messbar noch juristisch allgemeingültig zu definieren". Zudem sprach er von einem "Schlag ins Gesicht der Suizidprävention in Deutschland". Sein Ärger erscheint verständlich: Die von dieser Stiftung – einem "Werk" des streng katholischen Malteserordens – vertretenen Interessen der privaten Krankenhaus- und der Pharmaindustrie1 vermochten sich in Leipzig nicht durchzusetzen.

Vorarbeit für "Karlsruhe"?

In gewisser Weise hat das Bundesverwaltungsgericht damit auch Vorarbeit für das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe geleistet. Dort liegen seit einiger Zeit dreizehn Verfassungsbeschwerden, in welchen geltend gemacht wird, der vom Bundestag in das Strafgesetzbuch eingefügte § 217 sei verfassungswidrig.

Der Paragraph verbietet vordergründig die Förderung der Selbsttötung, wenn dies wiederholt beabsichtigt wird; in seinen praktischen Auswirkungen macht er es unmöglich, Menschen, die an Suizid denken, ergebnisoffen zu beraten. Darüber hinaus behindert er die Tätigkeit von Palliativmedizinern ganz entscheidend, ja macht sie teilweise gar unmöglich.

Das Bundesverwaltungsgericht hat nun erstmals im Zusammenhang mit den Artikeln 1 und  2 des deutschen Grundgesetzes erklärt, dass das Selbstbestimmungsrecht des Menschen auch in Bezug auf einen beabsichtigten Suizid in der Weise zu schützen ist, dass ihm ein Zugang zum (Sterbe-) Medikament Natrium-Pentobarbital (NaP) eröffnet werden muss, wenn zumutbare Alternativen fehlen. Bislang konnten sich deutsche Juristen diesbezüglich nur auf ein ausländisches und auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berufen2. Damit ist erstmals ein wichtiger Grundsatz, der auch im innerdeutschen Recht zu gelten hat, von einem deutschen Höchstgericht festgehalten worden. Dies enthebt das Bundesverfassungsgericht der Notwendigkeit, dies seinerseits als erstes tun zu müssen.

Grosser Mut und enormes Durchhaltevermögen

Das Verfahren "Koch gegen Deutschland" wäre ohne den grossen Mut von Frau Betina Koch (1950-2005) und das enorme Durchhaltevermögens ihres Gatten Ulrich Koch nicht möglich gewesen.

Betina Koch war nach einem unglücklichen Sturz vor ihrem Haus hoch querschnittgelähmt, musste rund um die Uhr künstlich beatmet werden, was zur Folge hatte, dass sie sich nur noch in halben Sätzen zwischen zwei Pumpvorgängen der Beatmungsmaschine äussern konnte. Schmerzen, Krämpfe und zahlreiche weitere leidvolle Belastungen machten ihr das Leben zur Hölle. Dennoch stimmte sie sofort zu, als ihr der Vorschlag gemacht wurde, bei der Bundesopiumstelle das Begehren um Erlaubnis eines Zugangs zum Sterbemittel zu stellen, damit auf diese Weise ein Rechtsverfahren um diese Grundsatzfrage in Gang gesetzt werden konnte, obwohl dies ihre Leidenszeit um einige Monate verlängerte. Bei Erfolg des Begehrens hätte sie ihr Leiden selbstbestimmt zuhause beenden können. So kämpfte sie trotz des negativen Entscheids der Bundesopiumstelle weiter und legte zusammen mit ihrem Ehemann dagegen Widerspruch bei Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ein.

Nachdem sie ihr Leiden und Leben mit Hilfe von Dignitas – Menschenwürdig leben – Menschenwürdig sterben hatte beenden können – sie musste dazu eine beschwerliche Reise in die Schweiz auf sich nehmen –, hat ihr Ehemann nie die Zuversicht verloren, im Verlaufe des mittlerweile im 13. Jahre befindlichen Verfahrens um die Rechtswidrigkeit der Weigerung des Staates, den Zugang zu NaP zu ermöglichen, auf Richter zu stossen, deren Blick nicht durch religiöse oder andere weltanschauliche Scheuklappen beschränkt ist. Sein Durchhaltevermögen hat sich ausbezahlt.

Man wird nun abwarten müssen, bis das schriftlich begründete Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vorliegt, bevor das Ergebnis insgesamt gewürdigt werden kann. Es dürfte bei der Beurteilung der Verfassungswidrigkeit von § 217 StGB durch das Bundesverfassungsgericht jedenfalls eine nicht unbedeutende Rolle spielen.


Ein Prozessmarathon von 2004 bis 2017

Ein Verfahren wie jenes von Koch gegen Deutschland kann viele Jahre in Anspruch nehmen und stellt damit einen Marathonlauf durch Zeit und Gerichtssäle dar. Was dabei auffällt: Die teilweise sehr langen Liegedauern eines Falles vor einem Gericht, wie die nachstehende Tabelle zeigt.

12. November 2004 - Betina Koch verlangt von der Bundesopiumstelle in Bonn, ihr den Zugang zu 15 Gramm Natrium-Pentobarbital zu ermöglichen.

16. Dezember 2004 - Die Bundesopiumstelle lehnt den Antrag ab.

14. Januar 2005 - Betina Koch und ihr Gatte Ulrich Koch erklären gegen diesen Entscheid Widerspruch beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

12. Februar 2005 - Betina Koch beendet ihr Leiden in Zürich mit einer Freitodbegleitung bei Dignitas.

3. März 2005 - Ablehnender Bescheid des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte

4. April 2005 - Klage von Ulrich Koch gegen die Bundesrepublik beim Verwaltungsgericht Köln

21. Februar 2006 - Das Verwaltungsgericht Köln beschliesst, auf die Klage von Ulrich Koch nicht einzutreten; ihm fehle die Klagebefugnis.

29. März 2006 - Ulrich Koch lässt den Antrag auf Zulassung der Berufung an das Oberverwaltungsgericht Münster stellen.

22. Juni 2007 - Das Oberverwaltungsgericht Münster lehnt die Zulassung zur Berufung ab.

13. Juli 2007 - Ulrich Koch lässt dagegen beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe Verfassungsbeschwerde einlegen.

4. November 2008 - Das Bundesverfassungsgericht nimmt die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.

15. Dezember 2008 - Ulrich Koch lässt beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg Menschenrechtsbeschwerde einreichen

31. Mai 2011 - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt die Beschwerde zu.

19. Juli 2012 - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellt fest, die Verneinung der Klagebefugnis von Ulrich Koch verletze Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und verpflichtet die Bundesrepublik Deutschland, Ulrich Koch 2.500 Euro als Schmerzensgeld und 26.736,25 Euro als Ersatz für Aufwendungen zu bezahlen. Zur Frage, ob Betina Koch Anspruch darauf gehabt hätte, Zugang zu Natrium-Pentobarbital zu erhalten, äussert sich das Gericht einstweilen nicht; die deutsche Justiz habe sich dazu als erste auszusprechen.

18. Oktober 2012 - Ulrich Koch lässt beim EGMR den Antrag stellen, die Sache an dessen Grosse Kammer zu verweisen.

17. Dezember 2012 - Der Filterausschuss des EGMR lehnt den Antrag auf Verweisung an die Grosse Kammer ab.

14. Januar 2013 - Restitutionsklage von Ulrich Koch beim Verwaltungsgericht Köln.

13. Mai 2014 - Das Verwaltungsgericht Köln weist die Klage ab.

20. August 2014 - Ulrich Koch lässt gegen dieses Urteil beim Oberverwaltungsgericht Münster Berufung einlegen.

19. August 2015 - Das Oberverwaltungsgericht Münster weist seine Berufung ab.

30. November 2015 - Ulrich Koch lässt gegen dieses Urteil Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig einlegen.

2. März 2017 - Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest, die Urteile der Vorinstanzen und der ablehnende Bescheid des BfArM seien rechtswidrig gewesen und erklärt, im "extremen Einzelfall (dürfe) der Staat den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren…, das dem Patienten eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht".

Die gesamte Dauer des Verfahrens in dieser Sache nahm 12 ½ Jahre in Anspruch.

An der Entscheidung waren die Bundesrichterinnen und -richter Dr. Renate Philipp (Vorsitz), Stefan Liebler, Dr. Peter Wysk, Dr. Kirsten Kuhlmann und Till- Oliver Rothfuß am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig beteiligt.


  1. Seit vielen Jahren sitzt im Stiftungsrat dieser im unmittelbaren Umfeld der Römisch-katholischen Kirche angesiedelten Einrichtung der Gesellschafter der Grünenthal-Chemie GmbH (Contergan-Hersteller), Michael Wirtz, und während vieler Jahre saß auch der Gründer und Aufsichtsratsvorsitzende des privaten Krankenhauskonzerns Rhön-Klinikum AG, Eugen Münch, im Rat der Stiftung, die früher einmal Deutsche Hospiz-Stiftung hieß. ↩︎
  2. BGE 133 I 58 des Schweizerischen Bundesgerichtes sowie EGMR Haas gegen die Schweiz. ↩︎