Abzug der Bundeswehr aus dem türkischen Incirlik

Niels Annen: Mit der Geduld am Ende

Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, Niels Annen, hält den Abzug der Bundeswehr aus dem türkischen Incirlik für unvermeidlich. Er sprach sich aber auch dafür aus, weiterhin das Gespräch mit der Türkei zu suchen und die Perspektive eines EU-Beitritts nicht aufzugeben. Es gebe sehr viele Türkinnen und Türken, die ihr Land in Richtung Europäische Union führen wollen.

Herr Annen, die Bundeswehr gibt den Standort im türkischen Incirlik auf. Was bedeutet das für den Einsatz im Kampf gegen den "Islamischen Staat" (IS)?

Niels Annen: Das Verteidigungsministerium hat auf Initiative des Parlamentes schon vor längerem begonnen, Alternativen zu prüfen und nun einen Standort in Jordanien ausgemacht. Von dort aus werden wir unseren Beitrag für die Anti-IS-Koalition weiter erbringen können. Für die deutsch-türkischen Beziehungen ist das eine schlechte Nachricht. Wir haben aber unverrückbare Kriterien für die Rahmenbedingungen von Bundeswehreinsätzen und dazu zählt das Besuchsrecht von Bundestagsabgeordneten, das die türkische Seite im Falle Incirliks verweigert hat. Ankara wusste also um die Symbolik dieser Frage. Es ist deshalb eine bewusste Entscheidung von Präsident Erdogan gegen die deutsche Präsenz.

Auch im türkischen Konya sind Bundeswehrsoldaten stationiert, auch dort wurde Abgeordneten der Besuch verwehrt. Warum zieht die Bundeswehr nicht auch dort ab?

Der Stützpunkt in Konya ist ein Nato-Stützpunkt. Incirlik hingegen ist ein Stützpunkt der türkischen Armee, der von der Nato und anderen Verbündeten genutzt wird. Die türkische Seite hat signalisiert, dass es bei Konya keine Probleme geben wird. Wenn wir unsere Bundeswehrsoldaten auch aus Konya abziehen müssten, dann würde das ernsthafte Schwierigkeiten für die dort eingesetzten Awacs-Aufklärungsflugzeuge der Nato bedeuten. Für das Bündnis wäre das keine gute Botschaft.

Wäre statt eines Umzugs nach Jordanien ein Abzug der Bundeswehr die bessere Option?

Für mich wäre ein Rückzug keine Alternative. Wir beteiligen uns an der Bekämpfung des sogenannten "Islamischen Staats", weil wir selbst Opfer von Anschlägen geworden sind. Incirlik ist ein bilaterales Problem, das wir nicht lösen konnten, weil es auf türkischer Seite kein Interesse an einer Lösung gab. Aber der Einsatz gegen den IS muss weitergehen.

Wie entscheidend sind die 260 Bundeswehrsoldaten bei diesem Einsatz eigentlich?

Die "Tornado"-Aufklärungsflugzeuge der Bundeswehr sind eine gefragte Ressource. Natürlich gibt es Drohnen, es gibt Satellitenaufnahmen, die ein allgemeineres Bild erstellen können. Aber für Detailaufnahmen, für ein Lagebild vor Ort in den vom IS kontrollierten Gebieten sind die hochauflösenden Bilder dieser Flüge wichtig. Hinzu kommt die Luftbetankung, auch das ist eine gefragte Fähigkeit der Bundeswehr innerhalb der Anti-IS-Koalition.

Die Anflugrouten der "Tornados" werden nun aber andere sein. Steigt damit das Risiko dieses Einsatzes?

Davon gehe ich nicht aus. Es gibt ein Hauptquartier in Doha, das Lufteinsätze der Anti-IS-Koalition koordiniert. Probleme hat es eher in Incirlik gegeben. Zum Beispiel dann, wenn das türkische Militär Lufteinsätze gegen kurdische YPG-Milizen in Syrien geflogen hat und dies vorher nicht gemeldet hatte. Jordanien hat sich dagegen als verlässlicher Kooperationspartner erwiesen. Das Land steht wegen des benachbarten Syrienkriegs unter Druck. Die Stadt Dar’a an der Grenze zu Jordanien wird derzeit von syrischen Regierungstruppen systematisch bombardiert, die Spannungen an der jordanisch-syrischen Grenze nehmen zu. Das ist nicht der Grund für die Verlegung von Bundeswehrsoldaten von Incirlik nach Jordanien. Aber es ist womöglich ein Beitrag, um die jordanische Regierung in dieser komplizierten Lage zu unterstützen.

Der Einsatz in Incirlik wurde als Reaktion auf die IS-Terroranschläge in Frankreich 2015 begonnen im Sinne einer EU-Beistandsverpflichtung. Warum hat die Bundesregierung im Incirlik-Streit nicht gemeinsam mit Frankreich deutlich Position gegenüber der Türkei bezogen?

Ich wüsste nicht, wie wir noch deutlicher hätten werden können. Wir streiten mit Ankara über der Frage der Besuchserlaubnis für Abgeordnete, wegen der Auslieferung angeblicher Terroristen, wegen der systematischen Einschränkungen der Presse- und Versammlungsfreiheit, wegen der skandalösen Inhaftierung des Journalisten Deniz Yücel und anderer deutscher Staatsbürger. Die Bundesregierung hat den Fall Yücel und das Besuchsansinnen der Parlamentarier in Incirlik gegenüber der türkischen Seite bei jeder Gelegenheit angesprochen. Wir haben öffentlich Druck aufgebaut, wir haben im Parlament diskutiert. Wir haben sehr viel Geduld gehabt - aus Sicht der deutschen Öffentlichkeit womöglich sogar zu viel Geduld. Es ist die Aufgabe einer Regierung, bei einer solch wichtigen Beziehung alle Möglichkeiten auszureizen. Das ist auch geschehen. Wir haben dann als SPD-Fraktion durch einen Beschluss klargestellt, dass unsere Geduld am Ende ist.

Für wie groß halten Sie die Gefahr, die Türkei könnte sich komplett von Europa abwenden?

Die Führung des Landes wendet sich doch bereits mit atemberaubender Geschwindigkeit von Europa ab. Präsident Erdogan schlägt sich auf eine bestimmte Seite innerhalb der islamischen Welt. Er sympathisiert mit den Muslimbrüdern, die für eine islamische Religionsauslegung stehen, die viele für intolerant und wenig weltoffen halten. Er unterstützt die falschen, weil radikal-islamistischen Kräfte in Syrien. Ihm geht es in erster Linie darum, einen kurdischen Staat zu verhindern. Mit allen Nachbarn hat die Türkei im Moment Probleme. Das Land steht massiv unter Druck. Aber Erdogan verfügt wie Russlands Präsident Putin über die Fähigkeit, in Zeiten größter Probleme als starker Führer aufzutreten und wahrgenommen zu werden. Das darf uns aber nicht über die inneren Zerwürfnisse der Türkei hinwegtäuschen.

Wäre es gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, neue EU-Beitrittskapitel zu eröffnen?

Ich hätte nichts dagegen. Wenn sich die Türkei allerdings zu einer Diktatur entwickelt, und sie ist auf diesem Weg, dann verändert sich unser Verhältnis grundlegend. Ein Land, das definitiv nicht mehr auf dem Weg nach Europa ist, ein Land, das möglicherweise die Todessstrafe wieder einführt, das sich von gemeinsamen Werten entfernt, kann nicht erwarten, dass wir so tun, als sei nichts geschehen.

Inwieweit hat EU mit zweideutigen Beitrittssignalen Porzellan zerschlagen?

Es gab eine Phase, in der die Türkei in großen Schritten den Weg proeuropäischer Reformen gegangen ist - und zwar unter Ministerpräsident Erdogan. Angela Merkel (CDU) und ihre europäischen Parteifreunde der konservativen und christdemokratischen Parteien haben damals den Türken gesagt, prima Sache, aber ihr kommt trotzdem nicht in unseren Club. Diese Politik der verschlossenen Tür in Zeiten, in denen es in der Türkei ein proeuropäisches Momentum gab, ist einer der Gründe dafür, dass heute die antieuropäischen Kräfte dort so stark sind. Es ist eine vergebene Chance.

Und wie stehen die Chancen für Reparaturen am deutsch-türkischen Verhältnis?

Wir dürfen unsere Bemühungen keinesfalls einstellen. Ich fürchte aber, dass wir eine kühlere, weniger auf Freundschaft und gemeinsamen Werten basierende Beziehung entwickeln werden. Das bedeutet auch, dass wir weniger Einfluss haben und dass es weniger Vertrauen auf beiden Seiten geben wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass fast die Hälfte der türkischen Wähler beim Referendum gegen Erdogans Präsidialsystem gestimmt hat. Es gibt sehr viele Türkinnen und Türken, die ihr Land in Richtung EU führen wollen. Sie aber sind eingeschüchtert. Sie können sich nicht versammeln und ihre Medien sind verboten. Sollen wir denen jetzt signalisieren, wir wollen euch nicht mehr? Natürlich kann die Türkei in diesem Zustand nicht Mitglied der EU werden. Aber wir dürfen doch nicht diejenigen sein, die jetzt die Tür zuschlagen. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und brauchen eine langfristige Politik. Ohne Gespräche geht das nicht, auch wenn die Bilanz derzeit sehr ernüchternd ist.

Das Interview erscheint in der nächsten Ausgabe der Wochenzeitung "Das Parlament" (26.06.2017).