Kommentar zur Reformationstagsrede von Angela Merkel

Religiöse Marmelade

Der Reformationstag 2017 ist vorbei – und mit ihm der Höhepunkt der Luther-Dekade. Endlich haben die unhistorischen medialen Luther-Verniedlichungen und das Preisen der Reformation als scheinbar wichtigstes Event der Menschheitsgeschichte ein Ende. Eigentlich wollte ich das alles einfach nur möglichst schnell verdrängen, keinesfalls – Luther bewahre! – wollte ich dazu auch noch etwas schreiben. Doch die Bundeskanzlerin machte mir einen Strich durch die Rechnung. Ihre gestrige Rede zum Reformationsjubiläum offenbarte so Hanebüchenes, dass dazu etwas gesagt werden muss. Und so sitze ich nun hier und kommentiere – ich kann nicht anders …

An sich ist Merkels Rede ein Meisterstück – in jeder Hinsicht der Tochter eines evangelischen Theologen würdig. Da werden in guter alter theologischer Tradition Begriffsfelder grob umkreist und Äpfel und Birnen zusammengeworfen, um im Ergebnis zu gewollt falschen Schlüssen zu kommen und eine wohlschmeckende religiöse Marmelade zu erhalten.

Zum Beispiel was den Begriff des modernen freien und mündigen Individuums betrifft, welches wir ja letztlich nur Luther und der Reformation zu verdanken haben – findet Frau Merkel. Dabei hat Luther den Menschen keineswegs befreit, indem er die Herrschaft der katholischen Kirchenoberen und die Praxis des Ablasshandels anzweifelte. Ein Knecht bleibt der Mensch in seiner Vorstellung nach wie vor, nur ist sein Herr jetzt eine Etage höher angesiedelt: Es ist Gott höchstpersönlich. Ein Gott, der nicht berechenbar ist, dessen Willkür und Gnade man ausgeliefert ist. Das Einzige, was einem diese Gnade eventuell verschaffen kann, ist die permanente Selbstgeißelung, der unentwegte Druck, stets das Beste im Sinne des Glaubens getan zu haben. Und jeder Zweifel an diesem Glauben bringt – man muss es kaum erwähnen – einige Minuspunkte auf Big Sugar Daddys Gnaden-Thermometer. Von unserem heutigen Begriff eines freien Menschen, der selbstverantwortlich Entscheidungen trifft, ist Luthers Vorstellung meilenweit entfernt. Was Frau Merkel nicht davon abhält, ihn immer wieder zum großen Ermöglicher moderner Freiheiten zu erklären.

Doch lassen wir die philosophischen Haarspaltereien und konzentrieren uns auf jene Aussagen in Merkels Halloween-Rede, die jedem aufrechten Nicht-Gläubigen das Blut in den Adern gefrieren lassen muss.

"Neben den Kirchen, Ländern, Kommunen und unzähligen zivilgesellschaftlichen Akteuren hat auch die Bundesregierung verschiedenste Kultur- und Bildungsprojekte unterstützt. Die Beteiligung an der Vorbereitung und Durchführung des Reformationsjubiläums war und ist Ausdruck unseres Bestrebens, über dieses Jubiläum hinaus auch allgemein ein reiches und lebendiges religiöses Leben in Deutschland zu ermöglichen. Dabei gilt der verfassungsrechtliche Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit sowie der ungestörten Religionsausübung für alle Gläubigen und jede Religionsgemeinschaft."

Angela Merkel wirft hier zwei in Politikerkreisen besonders beliebte Äpfel und Birnen durcheinander. Selbstverständlich gilt in Deutschland der verfassungsrechtliche Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit. Und das muss und soll auch weiterhin so sein. Doch aus dem Schutz der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit abzuleiten, dass Aufgabe der Bundesregierung das Bestreben sei "ein reiches und religiöses Leben in Deutschland" durch finanzielle und sonstige Mithilfen bei der Ausrichtung religiöser, ja nicht selten sogar offensiv missionarischer Veranstaltungen zu ermöglichen, das ist ein atemberaubender intellektueller Kurzschluss, der wohl nur in theologisch verdrahteten Hirnen nicht zum Funkenschlag führt. Das finanzielle Entgegenkommen des Staates hinsichtlich der Luther-Dekade drückte sich bislang übrigens durch Zahlung von mehr als einer Viertel Milliarde Euro öffentlicher Gelder aus.

Doch damit hat sich der Blutgefrier-Anteil in Merkels Rede noch nicht erschöpft:

"So wie Glaubensfreiheit stets vor religiösem Fanatismus geschützt werden muss, so erfordert Glaubensfreiheit umgekehrt zugleich, Religionen vor Geringschätzung zu schützen."

Nein, nein, nein und nochmals nein, Frau Merkel! Der Staat hat Menschen vor Geringschätzung zu schützen, die eine bestimmte Religion ausüben – und das völlig zu Recht – nicht jedoch die Religionen selbst. Ich empfehle hierzu einen Blick ins Grundgesetz, Frau Bundeskanzlerin. Ziel der Gesetzgebung in Deutschland ist nicht der Schutz von Religionen als solchen vor Kritik oder Geringschätzung. Im Zentrum der Gesetzgebung steht immer das friedliche Miteinander in der Gesellschaft, das es nur geben kann, wenn Menschen mit Menschen, die andere Auffassungen vertreten, menschlich umgehen. Selbst der sogenannte Gotteslästerungsparagraf §166 StGB kommt nur zur Anwendung, wenn durch das Beschimpfen eines Bekenntnisses die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens besteht.

"Ich halte den Einsatz für Religionsfreiheit – hierzulande wie auch weltweit – für eine gemeinsame Aufgabe von Politik und Kirchen. Das widerspricht keineswegs der nach unserem Staatsverständnis notwendigen Trennung von Politik und Kirchen; im Gegenteil. Denn auch wenn unser Staat ohne jeden Zweifel der religiösen oder weltanschaulichen Neutralität verpflichtet ist, so kann und darf sich Politik von ihrer Verantwortung nicht freimachen, ein gemeinsames Wertefundament zu schützen und zu bewahren, das unerlässlich für ein gedeihliches und friedliches Miteinander ist – innerhalb eines Landes genauso wie zwischen Nationen. Unser Staat ist dem universellen Auftrag verpflichtet, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Daraus leitet sich neben anderen Freiheitsrechten unseres Grundgesetzes auch der Auftrag ab, Religionsfreiheit zu achten und zu schützen."

Und? Gemerkt, wie Angela Merkel hier durch die Hintertür die Aussage hineinschummelt, dass Kirchen und Religionen wichtig für das Wertefundament des Staates sind? Das alles eingekleidet in ein Plädoyer für die Religionsfreiheit, deren Notwendigkeit in Deutschland wohl kein ernstzunehmender Akteur bestreiten würde. Und natürlich bleibt es nicht beim einmaligen Hineinschmuggeln des Werte-Arguments.

"Die Politik hat selbstverständlich eine große Verantwortung für ein gemeinsames Bewusstsein unserer grundlegenden Werte und Normen. Zugleich ist die Rolle der Kirchen hierfür von überragender Bedeutung. Mit ihrer hoffnungsfrohen, dem Menschen zugewandten Botschaft können sie den Blick für das Verbindende schärfen – gerade auch über Religionsgrenzen hinweg."

Formal liegen die Verantwortung der Politik für das Bewusstsein der Werte und Normen und die Rolle der Kirchen für selbige hier logisch unverknüpft nebeneinander. Die beabsichtige Redewirkung der Nähe beider Aussagen ist jedoch, dass der Staat die Kirchen zur Schaffung des Bewusstseins für Werte und Normen benötigt. Dass Kirchen über Religionsgrenzen hinweg verbinden, ist hierbei ein Mantra, das von den Kirchen vorgegeben und in der Politik regelmäßig nachgebetet wird. Belege gibt es für diese Aussage keine, zumal Religionen aller Couleur (auch die christlichen) jahrhundertelang und auch heute noch weltweit eher Konflikte anheizen als sie zu entschärfen. Natürlich weiß das auch Frau Merkel. Gerade in Bezug auf die Folgen der Reformation, die bekanntlich nicht ganz unschuldig war am Dreißigjährigen Krieg, wählt sie deshalb die Flucht nach vorn:

" Wir haben ja nicht vergessen, dass die Reformation nicht der Auftakt zu einer identitätsstiftenden Friedens- und Freiheitsgeschichte war, sondern dass ihr zunächst eine lange Konfliktgeschichte folgte, in der die Konfessionskriege furchtbares Leid über Europa brachten. Gleichwohl zwangen diese Auseinandersetzungen schließlich auch dazu, nach tragfähigen, also nach menschlichen Lösungen und Regulierungsansätzen für das Zusammenleben der verschiedenen Konfessionen zu suchen. Die Reformation hat also mittelbar dazu geführt, Glaubensfragen in einer säkularen Ordnung als staatlich garantierte Rechtsverhältnisse zu fassen."

Ich fasse zusammen: Religionen sorgen dafür, dass sich Menschen die Köppe einschlagen. Weil das so ist, suchten Menschen nach einer Möglichkeit zusammenzuleben, ohne sich die Köppe einzuschlagen. Diese fanden sie in einer säkularen Staatsordnung. Also verdanken wir die säkulare Staatsordnung letztlich den Religionen im Allgemeinen und der Reformation im Besonderen. Ah ja …

Doch Angela Merkels Rede lässt kaum Möglichkeit zum Luftschnappen, reiht sich doch eine atemberaubende Äußerung an die nächste. Weil nämlich die Religionen einen so verbindenden Charakter haben, dass säkulare Staaten geschaffen werden mussten, in denen sich die Anhänger dieser Religionen nicht mehr gegenseitig die Köpfe einschlugen, deshalb sind Religionen nicht nur wichtig als Wertefundament, sondern die religiöse Bildung ist auch eine gesellschaftliche Gemeinschaftsaufgabe:

"Religiöse Bildung – sei es in der Familie, im Religionsunterricht oder im Theologiestudium – ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Sie stellt sich Kirchen und Religionsgemeinschaften, Regierungen und Bildungseinrichtungen sowie Medien und der Zivilgesellschaft."

Wer als nicht-religiöser Mensch noch immer nicht von Merkels Rede schockiert ist, dem mögen die abschließenden Worte unserer Bundeskanzlerin hierbei behilflich sein. Worte, die in ihrer christlichen Kraft und Zuversicht getrost ganz durch sich selbst wirken mögen:

"Dabei vergessen wir nicht, dass bei allem Tun und Lassen der Mensch immer unvollkommen bleibt. Wir machen Fehler. Aber ich finde es sehr befreiend zu wissen, dass wir an unserer Unvollkommenheit nicht zerbrechen müssen, weil Gott uns seine Gnade und Liebe schenkt. Er schenkt uns seine Gnade und Liebe im täglichen und fortwährenden Bemühen um das, was uns zusammenhält und trägt. Rechtsstaatlichkeit, Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit – das sind hohe Güter, die uns tragen. Sie müssen Tag für Tag mit Leben gefüllt werden. Sie können Tag für Tag mit Leben gefüllt werden. Die reformatorische Haltung ermutigt uns dabei: Die Zukunft ist offen – nehmt Eure Verantwortung ernst. Veränderung zum Guten ist möglich.

So bin ich auch dankbar für die großartige Chance, die uns das Reformationsjubiläum bietet, unsere christlichen Wurzeln im gesellschaftlichen Bewusstsein zu stärken. Diese Aufgabe wird auch nach dem Reformationsjahr und dem heutigen Jubiläum bleiben, vielleicht noch stärker als in der Vergangenheit. Daran sollten wir spätestens wieder denken, wenn wir in der kommenden Weihnachtszeit "Vom Himmel hoch, da komm ich her", Luthers Lied mit seinen 15 Strophen, singen."


Die gesamte Rede von Bundeskanzlerin Merkel im Rahmen des 500. Jahrestages der Reformation am 31. Oktober 2017 in der Lutherstadt Wittenberg ist hier nachzulesen.


Nachsatz der Redaktion (01.11.2017): In der ersten Fassung enthielt der Text einen sinnentstellenden Fehler (falsche Angabe der Kosten). Wir bitten das zu entschuldigen und danken allen Lesern, die uns darauf hingewiesen haben.