Als familiär kann man die Beziehung zwischen den urtümlichen Kunekune-Schweinen und Marianne Wondrak und Johannes Baumgarten am Messerli-Forschungsinstitut für Mensch-Tier-Beziehungen in Wien bezeichnen. So richtig lief es, wenn die Forscher in die tierlichen familiären Beziehungen mit aufgenommen wurden. Im Gegenzug war die Einsatzbereitschaft schier grenzenlos, erzählen sie in Teipels Monolog-Sammlung "Unsere unbekannte Familie".
So viel Vertrauen schenkte die Schweinedame Rosalia der Forscherin, dass sie schließlich ihre Ferkel auf deren Schlafsack zur Welt brachte, in dem die Wissenschaftlerin schon wochenlang vorher draußen in der Nähe des Weideunterstands kampierte. "Die Katze schaut auf uns runter, der Hund schaut auf uns rauf, das Schwein begegnet uns auf Augenhöhe", zitiert die junge Frau ein Stichwort. Wenn man die enorm empfindsamen Vierbeiner denn ließe. Dann sind sie äußerst sauber, koten nicht auch nur in die Nähe des Nachtlagers. Dann spielen sie das Test-Spiel mit dem Touchscreen, gleich und ungleich zu identifizieren – Gesicht oder Hinterköpfe – vergnügt und schier ohne damit aufhören zu wollen. Dabei haben aber auch Schweine Menschen ihrer Wahl. Mit den einen wollen sie, mit den anderen nicht. Andere wiederum erweisen sich als regelrechte Streber (siehe dazu den hpd-Beitrag vom 16.10.2017).
Johannes Baumgarten untersucht die positiven Auswirkungen darauf, Sauen in Familienverbänden mit je einem Mutterleittier zu halten, schon seit Anfang der neunziger Jahre. Die älteren Tiere machen den jüngeren die Aufzucht des Nachwuchses vor, gemeinsam wird für die Ferkel gesorgt und Aggressivität verhindert, wenn die Tiere sich auch aus dem Weg gehen können. Beachtet man das nicht, kann es zu unangenehmen Begegnungen der anderen Art kommen. Schweine sind weit stärker als Menschen. Beachtet man alles, kann man Schweine gesünder halten und sicher damit ein wenig glücklicher. Die Familienverhältnisse der Borstentiere sind denen der Primaten durchaus nicht unähnlich, weiß Baumgarten.
Wenige Forscher haben heute ein so hautnahes Verhältnis zu den Subjekten ihrer Neugier. Und doch: Sind nicht seinerzeit die bahnbrechenden Einsichten über das mittlerweile schon etwas aus der Mode geratene Instinktverhalten dem Nobelpreisträger Konrad Lorenz gekommen, nachdem er für seine Graugänse über viele Generationen mit Hingabe die Rolle der Mutter übernahm?
Jürgen Teipel hat den Wiener Forschern zugehört, genauso wie der alten Frau, die ein aus dem Nest gefallenes Amselkücken aufpäppelte und umhegte, bis es diese Fürsorge nicht mehr nötig hatte. Er lauschte dem jungen Mann, der von der Begegnung mit einem Walkind berichtete, das ihn für Momente auf seinem Rücken aus dem Wasser hievte, mit ihm spielte, so wie es eben zuvor seine Mutter mit ihm getan hatte. Das geschah unter den wachsamen Augen der Walkuh! Er rezipierte den Tierfilmer Roland Gockel, der berichtet, wie ein Pulk Hasen einem Habicht im Tiefflug ein in seine Fänge geratenes Löffelohr gemeinsam wieder abjagt. Dies ist meine ganz persönliche Lieblingsgeschichte, neben der vom verlassenen Dompfaffnestling, der von Hand aufgezogen das ihm vorgepfiffende Liedchen "Ein Männlein steht im Walde", nachsang, was sogar bei einer nächsten Dompfaffgeneration draußen bei seinen Kücken und Nachbarkücken Schule machte – und Kultur bei Dompfäffen beweist.
Es entstanden so "Wahre Geschichten von Tieren und Menschen". Komponierte Geschichten, in denen freilich der Ton, die Sprache der erzählenden Personen, Wissenschaftler, Landwirte, Tierpfleger äußerst authentisch ist. Schnörkellos, unverstellt, dann wieder oft fragend, tastend. Auch ein Imker und ein Yoga-Lehrer kommen zu Wort. Viel sagt das Buch darüber aus, warum sich Menschen mit Tieren befassen. Die Wissenschaft ist der eine Grund, die Suche nach sich selbst oft der andere. Der angemessene Umgang mit dem Tier wird zu einer Übung im Da-Sein im hier und jetzt und zu einer Übung in Demut. Jürgen Teipel hat sich an die Fersen des Zeitgeistes geheftet. Anschaulich wird, wie es gelebt werden kann, das Tier als Mitbürger zu behandeln, wie der kanadische Philosoph Will Kymlicka vor ein paar Jahren bahnbrechend vorschlug.
Die bewegendsten Stellen sind dabei in Teipels Geschichten die großen Augenblicke, die eben für jedes Lebewesen die entscheidenden sind: die von Geburt und drohendem Tod, die existenziellen Momente, um die es seit jeher in der Literatur ging. Die schwächsten Schützlinge beweisen mitunter dramatische Größe. So ist mit diesem Buch, in dem der Autor sich nur die Rolle des literarischen Dokumentaristen gibt, wie nebenbei auch ein kleines Stück großer Literatur entstanden.
Jürgen Teipel: "Unsere Unbekannte Familie“. Wahre Geschichten von Tieren und Menschen", Suhrkamp Verlag Berlin 2018, 286 S., 18,00 Euro, erscheint im Frühjahr 2018
1 Kommentar
Kommentare
Norbert Schönecker am Permanenter Link
Sehr schön, sehr aufbauend, sehr tröstlich.
Selbst (oder gerade) wenn man weiß, dass es auch bei Tieren Rangkämpfe bis aufs Blut gibt.