Eine Replik auf die Replik von Horst Junginger

Der Abfall des Katholizismus vom Christentum

Horst Junginger, Professor für Religionskritik, kritisiert Karlheinz Deschners Ansicht, die katholische Kirche würde das vom Christentum eigentlich Gemeinte verfälschen und stuft diese Meinung als "wissenschaftlich unsinnig und historisch vollkommen daneben" ein. Man sähe an diesem Beispiel aber auch, wie notwendig es sei, "seine Quellen kritisch zu hinterfragen und den Stellenwert der darauf aufbauenden Interpretation an diese Prüfung zu koppeln".

Nun, wenden wir uns den Quellen und den historisch-wissenschaftlich, wenngleich gerne unterdrückten Belegen zu, die für die "unsinnige Auffassung" von der Verfälschung des Christentums durch den Katholizismus grundlegend sind. Lassen wir aus Zeitgründen weg, dass die katholische Kirche nicht im Jahre 1 entstand, sondern am 28. Februar 380, als der römische Kaiser Theodosius in seinem Erlass Cunctos populos und in weiteren Erlassen alle nicht-katholischen Varianten für wahrhaft toll und wahnsinnig erklärt, den heidnischen Staatskult verbietet und die Nichtbefolgung der Erlasse mit harten Strafen bis zur Todesstrafe bedroht.

Lassen wir dies und den Codex Justinianus nebst sechzig anti-jüdischen, anti-heidnischen und anti-häretischen Erlassen weg, die wahrhaftig kein Beleg für die urchristliche "Feindesliebe" sind. Beachten wir nicht, dass im Jahre 385 in Trier die ersten Todesurteile gegen häretische Bischöfe exekutiert werden, die an ein Ur-Christentum glauben wollten, aber nicht an die katholische Kirche. Beachten wir die anti-christliche Rechtfertigung der Gewalt durch Augustinus nicht: "Wenn deshalb die Kirche (…) jene in ihren Schoß einzutreten zwingt, die sie auf den Wegen und an den Hecken findet, das heißt unter den Schismen und Häresien, so sollen sich jene nicht beklagen, dass man sie gezwungen hat."1 Wenig später schreibt Gregor I.: "Wenn ihr feststellt, dass sie (die Nichtkatholiken) nicht gewillt sind, ihr Verhalten zu ändern, so befehlen wir, dass ihr sie mit größtem Eifer verfolgt. Sind sie unfrei, so züchtigt sie mit Prügeln und Folter, um sie zur Besserung zu zwingen. Sind sie aber freie Menschen, so sollen sie durch strengste Kerkerhaft zur Einsicht gebracht werden, (…) damit jene, die sich weigern, die Worte der Erlösung anzunehmen, welche sie aus den Gefahren des Todes erretten können, durch körperliche Qual dem erwünschten gesunden Glauben zugeführt werden."2

Wenden wir uns den Geistesgrößen zu, die nach Auffassung von Horst Junginger "wissenschaftlich unsinnig" argumentieren und "historisch vollkommen daneben" liegen: Heinrich Heine erzählt in seiner Geschichte der Religion und Philosophie, "was das Christentum ist und wie es römischer Katholizismus geworden" sei3 und wiederholt damit Luthers Thesen, dass der institutionelle Katholizismus nicht das eigentliche Christentum widerspiegele. Eine Religion, schreibt Max Weber, die den Ungläubigen und Ketzern nur die Wahl zwischen Konversion und ausgerottet werden lässt4 und die grausamste Instrumente zur Folterung und Tötung nicht genehmer Glaubensrichtungen erfindet, kann unmöglich mit der Religion der Nächstenliebe identisch sein.5 Friedrich Nietzsche spricht vom Sterbebett des Christentums (Morgenröthe) und erklärt kurz und bündig, das Christentum Jesu sei "unter die Mörder gefallen". Und selbst theologisch argumentierende Kirchenkritiker (Erich Seeberg, Peter Meinhold, Ernst Benz) meinen einen Verfallsprozess des Christentums zu sehen. Erich Kästner meint, der liebe Gott sei aus der Kirche ausgetreten, und auch Goethe, wahrlich kein Atheist, drückt seine Abneigung gegenüber der Kirche und dem "Marterholz" unverblümt aus: "Dem Mittelpunkte des Katholizismus mich nähernd (…) trat mir so lebhaft vor die Seele, dass vom ursprünglichen Christentum alle Spur verloschen ist; ja, wenn ich mir es in seiner Reinheit vergegenwärtige, so wie wir es in der Apostelgeschichte sehen, so mußte mir schaudern, was nun auf jenen gemütlichen Anfängen ein unförmliches, ja barockes Heidentum lastet."6

Deutlich und unmissverständlich wird der russische Schriftsteller Fjodor M. Dostojewski (1821–1881), der den Abstand der katholischen Kirche zum Ursprünglichen in seiner Novelle Die Brüder Karamasow beschreibt: Der Großinquisitor, oberster Glaubenshüter der Kirche, macht Jesus, der auf die Erde zurückgekehrt ist, klar, dass man ihn nicht mehr brauche: "Wir haben deine Tat verbessert, und sie auf das Wunder, auf das Geheimnis und auf die Autorität gegründet. Und die Menschen freuten sich, dass sie wieder wie eine Herde geleitet wurden. (…) Warum bist du denn jetzt gekommen, uns zu stören? (…) Wir sind schon seit langer Zeit nicht mehr mit dir im Bunde."

Viele große Geister haben so gedacht. Ebenso viele haben unter der Gehirnwäsche einer tausendjährigen Tradition und unter dem Federkleid frommer Sprüche Christentum und Katholizismus gleichgesetzt. Haben eine ursprüngliche Idee nicht begriffen und "Äußerlichkeiten für die Hauptsache gehalten" (Heine). Haben gutgläubig ursprüngliches Christentum und Katholizismus gleichgesetzt, obwohl schon ein Laie mit geringem Aufwand die unüberbrückbaren Gegensätze zwischen den Lukas- und Matthäus-Evangelien einerseits und dem Handeln der katholischen Kirche erkennen kann.

Der Nationalökonom Max Wirth schreibt dazu Ende des 19. Jahrhunderts, als die Kirche noch bemerkenswert unbefangen kritisiert werden konnte: "In demselben Maße, in welchem sich von jetzt an die (kirchliche) Hierarchie emporgipfelte und in der unumschränkten Gewalt des Papstes sich ausspitzte, in demselben Maße entfernte sich die Kirche von der reinen Christuslehre. (…) So wie die Kirche in ihrer äußeren Organisation von dem reinen Christentum sich entfernte, ebenso wurde ihr auch dessen Kern, die Moral, Nebensache."7 Der Religionswissenschaftler Carl Schneider ergänzt: "Die brutale, kompromisslose Grausamkeit der Christen, und zwar ihrer geistigen Führer (…) gegen Nichtchristen, Häretiker, Juden, selbständig Denkende, habe in der gesamten antiken Religionsgeschichte keine Parallele."8 Eine "Deformation zu einem totalitären Herrschaftsgebilde" sei es, meint Emil Brunner, Professor für Systematische und Praktische Theologie an der Universität Zürich, "wo jeder Schritt vorwärts in Wirklichkeit ein Schritt von der Wahrheit weg" sei.9 "Da haben wir es also", kommentiert Nietzsche in einer beispiellosen Philippika, "eine kirchliche Ordnung mit Priesterschaft, Theologie, Kultus, Sakrament; kurz, alles das, was Jesus von Nazareth bekämpft hatte."

Kirchenhistoriker meinen, die Schandtaten müssten an den "Wertmaßstäben ihrer Zeit" gemessen werden. Da haben sie recht. Aber: Die damaligen Wertmaßstäbe wurden von der katholischen Kirche und nicht von den Kaisern gesetzt. Die Kirche bestimmte, was gut und schlecht war, was gedacht werden durfte, ob Sex am Freitag erlaubt war und wie die Strafen für Abweichungen auszusehen hätten. Es war der Katholizismus, der dem Mittelalter ein Wertesystem überstülpte, dem sich alle, vom Köhler bis zu Kaiser, unterwarfen.

Der Kirchenhistoriker Harm Klueting will dennoch kein Verschulden der Kirche sehen. Er bastelt sich eine eigene Wirklichkeit zusammen und erklärt in unüberbietbarer Borniertheit: "Man komme mir nicht mit Religionskriegen, Schwertmission, Judenmassaker, Ketzerverfolgung oder Hexenverbrennung. Das alles ist mir als Historiker bestens vertraut. (…) Das sind antichristliche Verunstaltungen des Christlichen."10 Da hat er recht: Die katholische Praxis ist eine antichristliche Verunstaltung des Christlichen.

siehe dazu auch:


  1. Augustinus, Epistulae 93,5/185,24. ↩︎
  2. Gregor I., Brief 9. Gregor dürfte sich auf Augustinus (Brief 93,5) berufen haben. ↩︎
  3. H. Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 1834, 1. Buch. ↩︎
  4. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Gesamtausgabe, Teilband 2 „Religiöse Gemeinschaften, 2001, S. 230. ↩︎
  5. Der Begriff "Religion der Nächstenliebe" ist nur anwendbar, wenn die gelebten Lukas- und Matthäus-Evangelien im Mittelpunkt stehen. Vor allem das Alte Testament mit seinen Auswüchsen bis hin zur Ertränkung der gesamten Lebenswelt trägt nicht zum Begriff der Nächstenliebe bei. ↩︎
  6. Aus Goethes Tagebüchern, in denen er seine "Italienische Reise" dokumentierte. Trotz seiner kritischen Haltung gegenüber der katholischen Kirche, stand bei Goethe der Grundgedanke der religiösen Toleranz im Vordergrund, sichtbar am West-östlichen Diwan, mit dem er Brücken zum Islam baute. Kirchenkritiker sind eben nicht zwangsläufig Religionsgegner. ↩︎
  7. M. Wirth, Deutsche Geschichte im Zeitalter germanischer Staatenbildung, 1862, S. 179-180. ↩︎
  8. C. Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, Bd. II, 1954, S. 333. ↩︎
  9. E. Brunner, Dogmatik 1964, S. 77. ↩︎
  10. H. Klueting, Das christliche Gegenmodell, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.01.2011, S. 36. ↩︎