Donna Haraway setzt in "Unruhig bleiben" auf eine erdige Zukunft

Individualismus ist out, Zusammenwirken ist in

Science Fiction der anderen Art fordert die Philosophin, Biologin und Tierrechtlerin Donna Haraway in ihrem neuen Buch "Unruhig bleiben". Science Fiction, weil es um das große Ganze geht, den Erdball. Der anderen Art, weil sie von einen geschundenen Planeten handelt, um Anstrengung der anderen Art, weil es gar nicht sicher ist, ob wir uns noch retten können. Neue Symbiosen zwischen Mensch und Tier sind von Nöten, Liebeswerk, nicht Leidenschaft.

"Nicht alles ist mit allem verbunden; alles ist mit etwas verbunden", so die Devise von Donna Haraway, wenn sie in immer neuen Umschreibungen nach der Sprache für unsere Position in Zeit und Raum sucht. "Humismus statt Humanismus", heißt es da. Die Rede ist schlicht von Humus. Das Anthropozän ist für Haraway nur ein Grenzfall. Und doch hat das Zeitalter des "Chthuluzäns" eigentlich schon begonnen. Die Spinne wäre die beispielhafte Figur dieser von ihr proklamierten Epoche. Mit ihren tentakelartig langen Beinen hält sie die Verbindung zu ihrer Umwelt, indem dieses Tier sich von seinem Netz aus verwebt mit der Welt. In dieser Epoche, die wir selbst ausgelöst haben, kommt es uns zu, die Welt spinnengleich künftig wieder lebenswert zu machen über die Ränder noch bestehender Ökosysteme.

Individualismus, Autopoiesis, – die Annahme, der Mensch oder der Computer schaffe sich selbst – funktioniert nicht mehr. "Sympoiesis" tritt an deren Stelle. Das Zusammenwirken mehrerer Lebewesen. Im besten und kühnsten Fall könnten nichtmenschliche Tiere zukünftig menschliche Gene unterstützen.

Vom Chthuluzän reden heißt, von einer beschädigten Welt zu sprechen, jedoch auch vom Weitermachen, ja sogar vom Anfangen. In dieser Bezeichnung stecken die Namen altgriechischer erdgebundener, ja unterirdischer Kräfte. Geißeltierchen, Pilze, dazu was Fühler, Finger, Haare hat, verfügen über sie. Und dies seit jeher, darauf verweist Donna Haraway, wenn sie nach der Menschen Rolle heute sucht in ihrem jüngsten Werk "Unruhig bleiben". Vielleicht löst dieses Zeitalter des Chthuluzän das des Menschen und das des Kapitals ab. Wenn es gelingt. In jedem Fall stecken wir schon mittendrin im Schlamassel.

Donna Haraway schaut sich um bei den vielfältigsten Projekten, Untersuchungen und Überlegungen und adaptiert sie. Sie bringt sie zum Funkeln und Glänzen und demonstriert dabei gleich selbst, wie das gemeint ist mit der Sympoiesis. Die ist aber biologisch gesehen uralt.

Haraway verweist auf den hawaiianischen Zwergtintenfisch. Er beherbergt in seiner Bauchtasche luminiszierende Bakterien, die ihn derartig zum Leuchten bringen, dass er für seine zu jagende Beute von unten wie ein Stück Sternenhimmel aussieht "und in den hellen Mondnächten keinen Schatten zu werfen scheint".

Ist es neodarwinistisch gesehen Ausnutzung und Täuschung, wenn eine Orchidee Blütengestalten entwickelt, die dem Leib einer Hummel gleichen, um Bestäuber anzuziehen? Oder gelingt es der Pflanze, sich in die Lebensbezüge des Insekts zu involvieren mittels eines kreativen, improvisatorischen und ephemeren, vergänglichen Prozesses – sprich mittels Kunst also?

Cover

Von einer solchen Sichtweise ist es nicht weit zu animistischen Positionen, die Donna Haraway wie der brasilianische Anthropologe Eduardo Vieiros de Castro als eine sensible Version des Materialismus bezeichnet. Dabei ginge es nicht um Glauben, einer Geisterwelt etwa. Glaube sei keine Kategorie der indigenen Welt, auch keine chthuluzänische Kategorie. Stattdessen wirkten praktische und sensible Prozesse, sprich Rituale und Sprache selbst mit ihrer ureigenen Kraft, Welt zu deuten. Auch die Kunst kann kreative Entwürfe beisteuern.

Doch die Lage ist ernst. Einst konnte die Natur sich in Rückzugsgebieten regenerieren. Einst war Natur billig. Das ist vorbei, seit die Grenzlinie überschritten wurde, welche das Anthropozän markiert. Die Reserven der Erde erschöpfen sich. "Augenblicklich ist die Erde voller Geflüchteter, menschlicher und nichtmenschlicher, ohne Zuflucht", schleudert Donna Haraway mit der ihr eigenen Sprachkraft dem Leser entgegen. "Vielleicht, aber nur vielleicht und nur durch großes Engagement und intensive kollaborative Arbeit ... ist das Gedeihen von reichhaltigen artübergreifenden Gefügen, die auch uns Leute umfassen, weiterhin möglich. Dies alles nenne ich das Chthuluzän", bringt Donna Haraway es auf den Punkt.

Und dennoch. Das klingt alles sehr abstrakt. Haraways Überlegungen gehen aber immer von sehr konkreten eigenen Lebenssituationen aus. Angesichts der Herausforderung, veterinärmedizinisch etwas gegen die Inkontinenz ihrer Hündin zu unternehmen, fand sie zum Beispiel heraus, dass in Deutschland der Nazizeit erstmals systematisch Stuten-Urin zur Heilung von Inkontinenz bei Frauen in der Menopause systematisch erprobt wurde. Von hier aus spannt Haraway den Bogen zu Recherchen über symbiotische Prozesse, in denen ähnliche Wirkkräfte anzutreffen sind.

Zum Beispiel: Akazien ziehen nicht nur Ameisen an, die die gummiartigen Ausscheidungen der Rinde als Nahrung schätzen und dafür die Akazien gegen andere Fressfeinde verteidigen, sondern auch die einzige Spinnenart, die vegetarisch lebt. Akazien machen offenbar selbst Spinnen friedlich!

Donna Haraway bringt das ganz Kleine mit dem ganz Großen auf eine Begriff und in Bezug zueinander. Sie ist detailverliebt und eine Visionärin. Bücher, in denen so viel drinsteckt wie in ihren sperrigen, nie einfach nur smarten Texten, findet man nicht häufig. Die extrem gender-verpflichtete Übersetzung macht es allerdings dabei dem Leser nicht leichter.

Donna Haraway: "Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän", aus dem Englischen von Karin Harasser, Campus Verlag Frankfurt am Main/ New York, 2018, 350 S. 32 Euro