Kommentar

Sexueller Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen als staatliche Aufgabe?

Die unter dem Druck der Öffentlichkeit von der Katholischen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Studie über sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen ist ein erschütterndes Dokument über Missbrauch und Gewalt. Sie zeigt, was passiert, wenn in einer abgeschotteten Parallelwelt ungezügelte Willkür herrscht.

Die Untersuchung selbst liefert leider nur einen ersten Einblick in eine über Generationen dauernde Ausnutzung von Abhängigkeit. Sie ist unvollständig, weil die Kirchenoberen bei der Untersuchung das Heft nie aus der Hand gegeben haben. So wurde den ForscherInnen kein unmittelbarer Zugriff auf die Akten der Diözesen eingeräumt. Die von Mitarbeitern der Kirche durchgesehenen Unterlagen wurden zudem sämtlich anonymisiert. Angesichts dieser massiven Behinderungen konnte nur ein Bruchteil der Fälle offengelegt werden.

Trotz all dieser gezielten Blockaden enthüllt die Studie, dass in kirchlichen Archiven Akten zu mindestens 1670 Tatverdächtigen und 3677 Betroffenen lagern. Die Katholische Kirche hat bisher lediglich bei 122 von 1670 aktenkundigen Tatverdächtigen eine Strafanzeige erstattet; das sind nur sieben Prozent. In den Kirchenakten finden sich 96 Opfer, die mehr als hundertmal von Klerikern missbraucht wurden. Wir haben es offensichtlich mit einem harten Kern von Intensivtätern zu tun.

Angesichts dieser Bilanz des Schreckens muss es auch wohlmeinende Kirchenmitglieder fassungslos machen, dass bislang gegen keinen deutschen Bischof oder einen anderen Amtsträger wegen Strafvereitelung oder Beihilfe durch Unterlassen ermittelt wurde oder gar eine Anklage erfolgt ist. Hier zeigt sich neben allen rechtlichen Problemen auch ein Abgrund von Unwillen, sich mit Kirchen "anzulegen".

Studie zum sexuellen Missbrauch gezielt geschönt

Die Katholische Kirche hat maßgeblich Einfluss genommen auf Fragestellung, Dokumente und Methoden der Untersuchung. Die Forscher haben das mit sich machen lassen. Anders als der ursprünglich vorgesehene Gutachter, der angesehene Kriminologe Prof. Pfeiffer, haben sie es hingenommen, dass ihnen die Einsicht in die Originalunterlagen verweigert wurde. Sie begnügten sich mit "bearbeitetem" Aktenmaterial. Zudem waren nicht einmal alle Bistümer bereit, sich an der Untersuchung zu beteiligen. Von einer unabhängigen Untersuchung kann also nicht die Rede sein.

Angesichts dieser misslichen Rahmenbedingungen sind die gelieferten Ergebnisse alles andere als ein Zeugnis der Aufrichtigkeit und Transparenz seitens der Bischöfe. Sie belegen vielmehr einen eklatanten Mangel an Ehrlichkeit beim Umgang mit eigenem Fehlverhalten.

Kirchen sind kein Staat im Staate

Dieser – sattsam bekannten – kirchlichen Geheimniskrämerei begegnen Politik und Öffentlichkeit leider noch immer mit Nachsicht. Sogar vielfach dokumentierter sexueller Missbrauch gilt als kircheninterne Angelegenheit, die allenfalls den Vatikan etwas angeht.

Die hartnäckige Mär von der rechtlichen Unangreifbarkeit der Kirchen treibt noch immer merkwürdige Blüten. Sie entstammt nicht zuletzt der frommen Legende, wonach es eine "Selbstbestimmungsgarantie" gebe, die sich aus Grundgesetz und Weimarer Verfassung ableite. Richtig ist vielmehr, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV eine "Selbstverwaltung" zugestanden wird. Das ist etwas substantiell anderes als eine "Selbstbestimmung". Nicht einmal der Bundesjustizministerin ist offensichtlich dieser Unterschied geläufig.

Keine der großen Kirchen und keine der vielen kleineren Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft stehen über dem staatlichen Recht. Dieser Grundsatz gewinnt umso mehr an Bedeutung, je ausdifferenzierter sich Religion in Deutschland darstellt. Die Zahl der Mitglieder der Großkirchen ist von rund 95 Prozent in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich zurückgegangen. In wenigen Jahren rutscht die Zahl von 54 Prozent im Jahre 2017 unter die 50-Prozent-Marke. In den größeren Städten und den neuen Bundesländern ist dieser Erosionsprozess bereits wesentlich weiter fortgeschritten als in den ländlichen Regionen. Die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppen sind Muslime in allen Schattierungen sowie die Konfessionsfreien mit rund 40 Prozent.

Konfessionsfreie müssen in der Missbrauchsdebatte den Eindruck gewinnen, sexueller Missbrauch in katholischen Einrichtungen sei eine Art Privatangelegenheit der Bischöfe, die allenfalls dem Papst, nicht aber weltlichen deutschen Gerichten Rechenschaft schuldeten. Eine solche Einstellung ist mit dem Rechtsstaat des Grundgesetzes unvereinbar. Sexueller Missbrauch ist ein gesamtstaatlicher Skandal, der von den staatlichen Ermittlungsbehörden zu bekämpfen ist. Kirchliche Stellen haben hier lediglich eine Pflicht zur Unterstützung. Der Staat hat ein Gewaltmonopol auch gegenüber den Kirchen, die kein Recht auf rechtsfreie Räume haben.

Es gilt der Grundsatz der staatlichen Neutralität

Eine wirksame Strafverfolgung krimineller Kleriker darf nicht von der staatlichen Neutralität in Religionsfragen ausgebremst werden. Staatliches Recht bricht Kirchenrecht! Umgekehrt darf aber auch die Forderung nach mehr Transparenz der Kirchen nicht zu dem Fehlschluss verführen, der Staat möge die Kirchen an die "Kandare" nehmen. Wie sich eine Glaubensgemeinschaft organisiert, ist – im Rahmen bestimmter grundgesetzlicher Vorgaben wie dem Schutz der Menschenrechte – deren eigene Angelegenheit. Das Verbot der Staatskirche und der Grundsatz der staatlichen Neutralität in Fragen des Glaubens und der Weltanschauung setzt staatlicher Einflussnahme auf die interne Organisation dieser Einrichtungen Grenzen. Das ergibt auch heute noch Sinn, ist aber eben keine Bremse für das staatliche Gewaltmonopol bei der Durchsetzung des geltenden Rechts.

Auf einem anderen Blatt steht indes die gesellschaftliche Diskussion darüber, ob ein hierarchischer Organisationsaufbau ohne wirksame Transparenz- und Kontrollinstanzen nicht mit dazu geführt haben, ein Klima zu schaffen, in dem sexualisierte Gewalt in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen gedeiht und über viele Jahre vertuscht werden kann. So ist auffällig, dass die Studie der Deutschen Bischofskonferenz selbst zu der Erkenntnis kommt, dass zölibatär lebende Priester wesentlich häufiger in Missbrauchsfälle verwickelt sind als verheiratete Diakone.

Um längst erkannte Missstände zu überwinden, sind insbesondere die Reformkräfte innerhalb der Katholischen Kirche gefordert, überfällige strukturelle Veränderungen nicht nur beständig einzufordern sondern auch einmal durchzusetzen. Diese Aufgabe kann und darf ihnen der Staat nicht abnehmen.

Katholische Kirche als oberste moralische Instanz?

Nicht erst heute stellt sich die Frage, ob eine Institution wie die Katholische Kirche ihren Anspruch als staatlich privilegierte "moralische Instanz" aufrechterhalten kann. Eine derartige Sonderstellung wird ihr allzu oft klaglos zugestanden. So beteiligen staatliche bzw. öffentlich-rechtliche Stellen wie z. B. die öffentlich-rechtlichen Medien die Kirchen an Entscheidungen mit ethischen Fragestellungen, so auch beim Jugendschutz. Wobei im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch die Frage der besonderen Sachkunde von Klerikern in einem ganz neuem Licht erscheint.

Fragen an die eigene moralische Glaubhaftigkeit muss sich auch der Stellvertreter des Herrn auf Erden gefallen lassen, wenn er lauthals Schwangerschaftsabbruch mit Auftragsmord gleichsetzt. Eine solche Aussage drückt womöglich die Besorgnis aus, dass jeder Schwangerschaftsabbruch das Angebot für Kleriker verringert.

Die nunmehr fast hundertjährige Sonderstellung der Kirchen als Staat im Staate führt zu zahlreichen unhaltbaren Wertungswidersprüchen. Diese treten nicht zuletzt bei der Behandlung der 1,4 Millionen Beschäftigten kirchlicher Organisationen immer offener zutage. Glücklicherweise hat hier der Europäische Gerichtshof den Anstoß gegeben, verfilzte alte Zöpfe mit der Heckenschere zu Leibe zu rücken. An die Stelle der bestehenden kirchlichen Paralleljustiz haben die staatlichen Arbeitsgerichte zu treten. Gewerkschaften müssen uneingeschränkten Zugang zu den Einrichtungen bekommen und die Einflussnahme kirchlicher Arbeitgeber auf das Privatleben der Beschäftigten ist abzustellen.

Grundlegend zu hinterfragen ist das kirchliche Gerichtswesen in seiner Gesamtheit. Die Anwendung des kanonischen Rechts darf kein Vorwand sein, auch bei Fällen des sexuellen Missbrauchs das Primat staatlicher Gerichtsbarkeit zu unterlaufen. Es ist vielmehr zu untersuchen, ob solche kircheneigenen Institutionen dazu beigetragen haben, sexuellen Missbrauch zu vertuschen und eine Bestrafung der Täter nach staatlichen Normen zu verhindern. Es reicht keineswegs aus, wenn katholische Gerichte selbst keinen Vorrang vor staatlichen Gerichten beanspruchen. Die Existenz jedweder Form von Paralleljustiz schadet der Rechtsstaatlichkeit, die vom Vertrauen in staatliche Institutionen und die Unabhängigkeit der Justiz lebt.

Es ist an der Zeit, die Debatte über Paralleljustiz nicht länger ausschließlich auf die Umtriebe islamischer "Friedensrichter" zu verengen.



Die Bundesarbeitsgemeinschaft Säkulare Grüne berät in ihrer Sitzung am 19./20. Oktober eingehend über die Konsequenzen, die der säkulare Staat aus dem massenhaften sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche zu ziehen hat. Hier stehen u. a. folgende Forderungen zur Diskussion:

  1. Es ist eine unabhängige Aufarbeitungskommission einzurichten. Dieser sind sämtliche Akten und Archive zugänglich zu machen, die sich in ihrem Besitz befinden und zur Aufarbeitung der Vorwürfe von Bedeutung sind. Die Regierungen des Bundes und der Länder müssen Druck auf die Bischöfe ausüben, mit der Kommission umfassend zu kooperieren.
  2. Es ist ein Verzeichnis der Akten anzufertigen, die vernichtet oder manipuliert wurden.
  3. Die unabhängige Kommission, ggf auch die Ermittlungsbehörden müssen dem Vorwurf nachgehen, dass Akten manipuliert wurden, um auf diese Weise Personen im Dienst der Katholischen Kirche vor der Strafverfolgung zu schützen. Hier steht der Verdacht Strafvereitelung mit einem Strafrahmen von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe im Raum.
  4. Wo der Verdacht auf mögliche Straftaten besteht, sind die erforderlichen Akten von den Ermittlungsbehörden zu beschlagnahm. Es ist ein unhaltbarer Zustand, dass Bistumsarchive über Aktenbestände verfügen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit sogar Straftaten dokumentieren, die noch nicht verjährt sind.
  5. Staatsanwaltschaften sollen sich nicht länger darauf berufen müssen, sie bräuchten einen Leak, um einen Anfangsverdacht zu haben und so ermitteln zu können. Aufklärung kann aber nicht so lange warten, bis jemand aus dem Archiv Fälle kopiert und an Behörden oder Medien weitergibt.
  6. Die Position von Whistleblowern ist zu stärken: Wer sich offenbart und über Missstände berichtet, soll deswegen keine beruflichen Nachteile erleiden dürfen.
  7. Es soll ein unabhängig arbeitender Entschädigungsfonds eingerichtet werden, der aus kirchlichen Mitteln finanziert wird. Der Fond hat sicher zu stellen, dass die Opfer sexuellen Missbrauchs ohne bürokratische und demütigende Überprüfung ihrer Ansprüche eine Entschädigung erhalten. Zu tragen sind die Heil- und Krankenbehandlungen (auch Psychotherapie bei psychischen Schäden), Rentenleistungen, Fürsorgeleistungen und bei Bedarf besondere Hilfen im Einzelfall. Das betrifft Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben, zur Pflege, zur Weiterführung des Haushalts sowie ergänzend zum Lebensunterhalt. Auch Rehabilitationsmaßnahmen wie beispielsweise Kuraufenthalte bzw. Reha-Maßnahmen sollen vom Fonds übernommen werden.
  8. Auf der Sitzung der Bundesarbeitsgemeinschaft ist eine vertiefte Debatte ist über einer weitere Verlängerung der Verjährungsfristen zu erwarten. Hier gilt es darum, die berechtigen Ansprüche der Opfer mit grundsätzlichen rechtsstaatlichen Wertentscheidungen in Einklang zu bringen. Bereits seit dem Jahre 2016 beginnt im Strafrecht die Verjährungsfrist erst mit Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers. Die Frist läuft dann noch einmal 20 Jahre. Eine erneute Verlängerung der Verjährungsfristen könnte letztendlich sogar den Druck auf eine zügige Strafverfolgung vermindern und so die Aufklärung der Straftaten noch weiter auf die lange Bank schieben. Das liefe aber den Interessen der Betroffenen an einer zügigen Aufklärungsarbeit und einer beschleunigten Strafverfolgung zuwider.