Urteil des Bundesgerichtshofs zeigt Dilemma auf

Leidvermeidung am Lebensende nur mit Patientenverfügung

Gestern hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass Ärzte nicht haften müssen, wenn sie einen kommunikations- und bewegungsunfähigen Patienten mittels Magensonde am Leben erhalten. Auch, wenn der Sohn dagegen ist.

Der Bundesgerichtshof (BGH) urteilte in einem gestern beendeten Schadensatzprozess, es verbiete sich, ein Weiterleben als Schaden anzusehen. Der Sohn eines Patienten hatte auf Schmerzensgeld geklagt, weil er die Zwangsernährung für eine "sinnlose Verlängerung des Leidens" hielt.

Die Richter beriefen sich bei ihrer Entscheidung auf das Grundgesetz. Keine Rechtsprechung und keine staatliche Gewalt könne sich anmaßen, darüber zu urteilen, ob das Leben lebenswert sei.

Interessanterweise hat die Vorinstanz, das Oberlandesgericht München, im Jahre 2017 "die Ansicht des Klägers geteilt, dass der Arzt die Sondenernährung nicht hätte weiterlaufen lassen dürfen, ohne die Situation mit dem bestellten Betreuer gründlich zu erörtern. Wegen verletzter Aufklärungspflichten sprachen die Richter dem Sohn damals 40.000 Euro Schmerzensgeld zu. Der BGH hob dieses Urteil nun auf." (Zitat: Tagesschau.de)

Das Urteil wurde vor allem in den sozialen Netzwerken heftig kritisiert. So schrieb Maike Lobo: "Leben ist niemals Schaden? Empfehle dem BGH mal ein paar Wochen in einem Hospiz oder Pflegeheim." Ähnlich argumentierten auch andere Twitter-User. Allerdings zeigt sich auch hier, dass persönliche Erfahrungen nicht immer generalisiert werden können. Es gibt eben auch Menschen, die entscheiden, bis zum endgültigen Ableben jede Qual auf sich zu nehmen. Das Urteil des BGH kann und wollte das Dilemma nicht aufheben.

Einzig eine Patientenverfügung hätten dem Betroffenen und seinem Sohn Rechtssicherheit gegeben. Darin kann nämlich geregelt werden, ob man einer lebensverlängernden Maßnahme – wie eben einer Magensonde – zustimmt oder nicht. Mit einer solchen Regelung in der Patientenverfügung hätte der Patient nicht leiden müssen.

Richtig ist aber auch, dass es notwendig wird, über die Übertherapie am Lebensende zu reden und nötigenfalls juristische Klärungen herbeizuführen. Wie Jakob Simmank in der Zeit schreibt: "Die Medizin hat erstaunliche Fortschritte gemacht und kann mit Apparaten und Eingriffen das Leben oftmals um Jahre verlängern. Deshalb geht dem Tod von schätzungsweise der Hälfte der Europäer die aktive Entscheidung voraus, die Therapie zu beenden oder zu begrenzen (auf Intensivstationen sogar bei 90 Prozent …). In dieser Versorgung von Schwer- und Todkranken, von Menschen mit Demenz und Krebs, läuft inzwischen etwas schief. Von Beatmungen über Chemotherapien, Bestrahlung und künstliche Ernährung bis hin zur Wasserzufuhr: Viel zu oft wird am Lebensende viel zu viel getan." Hier hat es sich nach Ansicht des Autors der BGH zu leicht gemacht. Denn er hätte darauf hinweisen sollen, dass es hier um eine Übertherapie handelte. So vermisst Simmank "ein klares Signal an Ärztinnen und Angehörige: Lernt, loszulassen, wenn ein Kranker nicht mehr leben will!"

Auch Anette Dowideit kommentiert das Urteil in der Welt eher kritisch mit den Worten: "Das Urteil ist problematisch. Denn es entlastet Ärzte, die sterbende Menschen behandeln, von einer ihrer wichtigsten Pflichten: sich die Mühe zu machen, den Willen ihres Patienten herauszufinden – um dann in seinem Sinne zu entscheiden." Die Rechtsprechung müsse sich an die Möglichkeiten der modernen Medizin anpassen und ein Sterben in Würde möglich machen.