"Brauchen wir immer mehr oder gibt es ein 'genug'?"

Gestern stellte Carola Rackete, Umweltaktivistin und Seenotretterin, ihr Buch zur aktuellen Klimadebatte in Berlin vor. Darin fordert sie radikale Maßnahmen.

Seit Ende Juni kennt man Carola Rackete. Sie wurde schlagartig berühmt, als sie sich einer Anordnung von Italiens damaligem rechtspopulistischen Innenminister Matteo Salvini widersetzte und als Kapitänin der "Sea Watch 3" mit 40 Flüchtlingen an Bord in Lampedusa anlegte. An Land wurde sie von den Behörden festgenommen, das Verfahren läuft noch, jedoch ist sie überzeugt, dass es eingestellt wird, verriet sie auf einer Pressekonferenz in Berlin. Auch wenn die zahlreich anwesenden Journalisten gerne wieder auf ihre kompromisslose Haltung bei der Seenotrettung zurückkamen, ging es hier um etwas anderes: Sie hat ein Buch geschrieben, das den Titel "Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation" trägt und das sie gestern in den Räumen der Bundespressekonferenz vorstellte. Darin fordert sie ein entschiedenes und radikales Vorgehen, um den Klimawandel aufzuhalten.

Cover - Carola Rackete: "Handeln statt Hoffen"
Cover des Buches, das am 4. November erscheint (Droemer-Verlag)

Bekannt geworden sei sie zwar mit "21 Tagen ihres Lebens" in der Seenotrettung, im Klima- und Umweltschutz engagiere sie sich jedoch schon viel länger, berichtete Rackete, die seit einem Jahr auch der Bewegung Extiction Rebellion angehört. Nach eigener Aussage verbrachte die studierte Naturschutzmanagerin die letzten sieben Polarsommer in der Antarktis auf einem Forschungsschiff und habe auch am Nordpol das Eis schwinden sehen. Die Zerstörung der Ökosysteme sei kein Problem, sondern eine existenzielle Krise. Ob wir als Menschheit weiterleben wollen, sei die entscheidende Frage. Wir stünden vor der Wahl: Radikale Transformation oder gesellschaftlicher Kollaps? Wir müssten über die Werte unserer Gesellschaft reden: Wichtig sei nicht Konsum, sondern Gesundheit, die Erhaltung der Natur, gegenseitige Wertschätzung. "Brauchen wir immer mehr oder gibt es ein 'genug'?", fragte sie in den vollen Raum. Was den Umgang mit unseren Ökosystemen angeht, könnten wir viel von indigenen Bevölkerungen lernen. Sie seien es, die 80 Prozent der weltweiten Biodiversität schützten. Wir müssten weg von der Macht-euch-die-Erde-Untertan-Haltung, die die Bibel und Descartes proklamierten.

Das sei jedoch schwierig, fuhr die 31-Jährige fort, da die Gesellschaft "durch die profitierenden Unternehmen aktiv fehlgeleitet und missinformiert" werde, indem diese Forschung finanzierten, die versuche, Fakten zu verschleiern und eine progressive Gesetzgebung zu verhindern. Sie erzählte, dass es bereits Überlegungen gebe, den Straftatbestand des "Ökozids" – analog zum Genozid – zu schaffen, um damit Unternehmen und Personen zur Rechenschaft ziehen zu können, die die weltweite Zerstörung vorantreiben. Die Industriestaaten seien hier in der Verantwortung, denn sie seien schuld an den Klimaveränderungen, welche die Entwicklungsländer bereits jetzt zu spüren bekämen, doch die kolonialen Machtstrukturen setzten sich fort.

Hier zeigt sich auch die Verbindung zum Engagement in der Seenotrettung: Die Menschen würden schon jetzt vor den Folgen des Klimawandels fliehen, der ihre Lebensgrundlagen zerstöre, sagte die Autorin, und sie prophezeite auch eine Zunahme bewaffneter Konflikte. Die Geflohenen wünschten sich jedoch, dass ihre Heimat erhalten bleibe und man müsse ihnen die Möglichkeit, das "Recht auf ein Daheimbleiben", garantieren. Darüber hinaus müsse es außerdem einen eigenen Schutzstatus für Klimaflüchtlinge geben, da sie nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fielen. Auch zur Verteilung hatte sie einen Vorschlag: Der sogenannte "Klimapass" sehe vor, dass die Länder, die am meisten CO₂ ausgestoßen haben, die meisten Geflüchteten aufnehmen müssten.

Carola Rackete
Foto: © Evelin Frerk

Carola Rackete hat ihr Buch, dessen Erlöse sie der Flüchtlingsorganisation borderline-europe – Menschenrechte ohne Grenzen spenden will, den "Opfern des zivilen Gehorsams" gewidmet. Maßnahmen des zivilen Ungehorsams, wie sie Extinction Rebellion derzeit durchführt, findet sie angesichts der Situation angemessen, auch wenn sie nicht jede einzelne Aktion gutheiße. Da die Entscheidungen im Parlament nicht zum Wohle der Allgemeinheit oder dem der nächsten Generation getroffen würden, forderte sie, eine "echte Demokratie" herzustellen. Sie plädierte dafür, einen "Bürgerrat" einzusetzen, der für ein Jahr ausgelost wird. Diese Volksvertreter, die kein Interesse an einer Karriere oder Wiederwahl hätten, könnten Maßnahmen vorschlagen, die sozial gerecht seien.

Warum sie glaube, dass eine solche Bürgerversammlung besser funktioniere als ein Parlament mit gewählten Politikern, wollte eine Journalistin wissen. Es habe bereits erfolgreiche Versuche in anderen Ländern gegeben, antwortete die junge Frau mit den rückenlangen, braunen Dreadlocks. Als Beispiel nannte sie die Abtreibungsgesetze in Irland. Wie die "letzte Generation" im Untertitel ihres Buches zu verstehen sei, lautete die Frage eines anderen Journalisten, ob es schon zu spät sei, zu handeln. Sie gehe nicht davon aus, dass es keine weitere Generation mehr geben werde, jedoch könne die jetzige noch viel verändern, bevor die unumkehrbaren "Kippelemente" kämen. Noch sei das Zwei-Grad-Ziel erreichbar.

Carola Rackete: "Handeln statt hoffen: Aufruf an die letzte Generation", München 2019, Droemer HC, 176 Seiten, 16 Euro