Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB

Religiöse Stimmungsmache gegen Sterbehilfeurteil

Die Verkündung der Entscheidung zu § 217 StGB war im Bundesverfassungsgericht noch nicht ganz verklungen, da meldeten sich bereits die Sterbehilfegegner lautstark in den Medien zu Wort. Der hpd dokumentiert hier einige der kritischen Stimmen.

Am Aschermittwoch war alles vorbei. Nicht nur für die Karnevalisten, sondern auch für die Sterbehilfegegner. Das Bundesverfassungsgericht erklärte den "Sterbehilfeverhinderungsparagrafen" § 217 StBG für nichtig und betonte, dass jeder Mensch das Recht und auch die Möglichkeit haben müsse, über sein Lebensende selbst zu bestimmen.

Was bei den Kämpfern für das Selbstbestimmungsrecht, die beim Bundesverfassungsgericht gegen das Gesetz geklagt hatten, zu Jubel und Erleichterung führte, sorgte bei den Gegnern der Sterbehilfe für intensiv geäußerten Unmut. Ihre Kritik kreist um die immergleichen Argumente: Organisierte und legale Möglichkeiten der Sterbehilfe würden dazu führen, dass alte und kranke Menschen sich zunehmend zum Sterben gedrängt fühlten. Darüber hinaus könne nicht ausgeschlossen werden, dass der Sterbewunsch nur aus einem Affekt heraus entstünde oder aus Angst vor Schmerzen. Und vor Schmerzen müsse niemand Angst haben, da bei einer richtigen palliativen Therapie Schmerzen genommen werden könnten. Dass der sterbehilfekritischen Position oft eine religiöse Grundhaltung zugrunde liegt und die Auffassung vom Leben als Geschenk Gottes, über dessen Ende nur Gott allein, nicht jedoch der Mensch selbst entscheiden darf, bleibt häufig unerwähnt. Das hat seinen Grund, denn diese Argumentation würde in einer zunehmend säkularen Gesellschaft nicht verfangen.

"Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur"

Anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zu § 217 StGB veröffentlichten der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, und der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm, eine gemeinsame Erklärung. Sie gaben darin ihrer "großen Sorge" über das Urteil Ausdruck:

"Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar. Wir befürchten, dass die Zulassung organisierter Angebote der Selbsttötung alte oder kranke Menschen auf subtile Weise unter Druck setzen kann, von derartigen Angeboten Gebrauch zu machen. Je selbstverständlicher und zugänglicher Optionen der Hilfe zur Selbsttötung nämlich werden, desto größer ist die Gefahr, dass sich Menschen in einer extrem belastenden Lebenssituation innerlich oder äußerlich unter Druck gesetzt sehen, von einer derartigen Option Gebrauch zu machen und ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten."

"An der Weise des Umgangs mit Krankheit und Tod entscheiden sich grundlegende Fragen unseres Menschseins und des ethischen Fundaments unserer Gesellschaft", so die beiden Kirchenvorsitzenden. "Die Würde und der Wert eines Menschen dürfen sich nicht nach seiner Leistungsfähigkeit, seinem Nutzen für andere, seiner Gesundheit oder seinem Alter bemessen. Sie sind – davon sind wir überzeugt – Ausdruck davon, dass Gott den Menschen nach seinem Bild geschaffen hat und ihn bejaht und dass der Mensch sein Leben vor Gott verantwortet."

Wer die Einflussnahme der beiden christlichen Großkirchen auf das Gesetzgebungsverfahren von § 217 StGB verfolgt hat, ahnt dass der Schlusssatz der Pressemitteilung als Kampfansage für die Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts am Lebensende in Hinblick auf nun folgende Gesetzgebungsverfahren zu verstehen ist:

"So wollen und werden wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass organisierte Angebote der Selbsttötung in unserem Land nicht zur akzeptierten Normalität werden."

"Aushalten von Schmerzen für uns Menschen auch ein Weg der Christusnachfolge"

Der Leiter des Katholischen Büros in Berlin, Prälat Karl Jüsten, – sozusagen der Cheflobbyist der katholischen Kirche beim Deutschen Bundestag – formuliert seine Erschütterung über das Urteil im Interview auf katholisch.de noch deutlicher:

"Wir haben durch diesen Richterspruch zum ersten Mal eine Neubewertung unserer Grundwerteordnung in Bezug auf das Recht auf Leben und Selbstbestimmung erlebt. Bisher war das Bundesverfassungsgericht stets ein Garant für unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur in Deutschland. Wir konnten immer davon ausgehen, dass das menschliche Leben in all seinen Phasen unter dem besonderen Schutz des Staates und seiner Gesetze stand. Durch den Karlsruher Urteilsspruch ist diese Gewissheit erschüttert worden. Wenn es professionellen Organisationen künftig in Deutschland erlaubt ist, Menschen geschäftsmäßig beim Suizid zu begleiten, ist das eine Zäsur, die das hohe gesetzliche Schutzniveau für das menschliche Leben ins Wanken bringt."

Nebenbei offenbart Jüsten, dass sich hinter dem kirchlichen Lobbyismus gegen die Selbstbestimmung am Lebensende vor allem die christliche Leidensideologie verbirgt:

"Das Leiden gehört zu unserem Menschsein dazu. Gott selbst ist in seinem Sohn Jesus Christus Mensch geworden und hat das Leid angenommen, das über ihn kam. Gott hat uns damit deutlich gemacht, dass das Leid im Dasein des Menschen angelegt ist und dazugehört. Insofern ist das Annehmen und Aushalten von Schmerzen für uns Menschen auch ein Weg der Christusnachfolge."

Auf den Hinweis, dass das ja nun eine Antwort sei, die vor allem gläubigen Menschen helfe, erwidert Jüsten:

"Natürlich. Aber vielleicht kann auch derjenige, der nicht glaubt, aus der christlichen Perspektive zumindest ein wenig Hoffnung und Kraft schöpfen."

Eine zynische Übergriffigkeit gegenüber nicht-religiösen Menschen, die sprachlos macht.

"Der Tod ist nicht die entlastende Lösung"

Schockiert vom Urteil des Bundesverfassungsgerichts zeigt sich auch die SPD-Bundestagsabgeordnete und parlamentarische Staatssekretärin im Bundessozialministerium Kerstin Griese. Auf Grieses Initiative ging der 2015 von der Mehrheit des Parlaments beschlossene Gesetzentwurf des nun vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten § 217 StGB zurück.

Gegenüber dem rbb Inforadio sagte Griese, die Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche ist, sie sei "durchaus besorgt, dass das Urteil Auswirkungen hat in dem Umgang mit alten, kranken, schwachen oder sterbenden Menschen".

Sie wolle nicht, dass "assistierter Suizid am Ende eine normale therapeutische Behandlung ist", erklärte Griese. Überhaupt sei es so, "dass der Tod nicht die entlastende Lösung sei. Oft sei den Menschen schon geholfen, wenn man ihnen zuhöre und ihnen eine professionelle palliative Begleitung ermögliche. Wenn man über die Leiden und die Nöte des Lebens sprechen könne, verbessere sich schon vieles."

Wie zynisch eine solche Aussage in den Ohren von trotz palliativmedizinischer Versorgung Leidenden, nicht mehr autonom Handlungsfähigen und seit Jahren Sterbewilligen klingen mag, scheint außerhalb des Vorstellungsvermögens der Pfarrerstochter Griese.

Vor allem ein Teil des Urteils beunruhige sie sehr, erklärte Griese: "Was mich überrascht hat und auch etwas irritiert hat, ist, dass das Gericht gesagt hat, es gilt für alle Menschen in allen Lebensphasen – also auch für Menschen, die nicht erkrankt sind."

"Haben bald auch Jugendliche mit Liebeskummer das Recht auf Suizid?"

Diesen Aspekt greift auch Matthias Dobrinski in einem Kommentar auf dem Internetportal der römisch-katholischen Kirche in Deutschland auf. Polemisch fragt er, ob künftig jeder Jugendliche mit schlimmem Liebeskummer das Recht habe, sich den ihm gemäßen Verein zur Lebensbeendigung zu suchen. Der studierte katholische Theologe Dobrinski ist Mitglied der Gesellschaft katholischer Publizisten Deutschlands e. V. und arbeitet als innenpolitischer Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, wo er unter anderem für die Berichterstattung über Kirchen und Religionsgemeinschaften zuständig ist.

"Fetisch der Selbstbestimmung" und "Freie Bahn für Sterbehilfeorganisationen"

Ulrich Lilie, evangelischer Theologe und Präsident der Diakonie, erklärte im Interview mit dem Deutschlandfunk, dass es einen "Fetisch der Selbstbestimmung in dieser Debatte" gebe, "der wirklich auch einer realistischen Überprüfung nicht standhält".

Prof. Dr. Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin e. V. und Leiter des Zentrums für Palliativmedizin am katholischen Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg warnt vor "freier Bahn für Sterbehilfeorganisationen".

Die Malteser, eine katholische Hilfsorganisation, teilen selbstverständlich Radbruchs negative Beurteilung des Sterbehilfeurteils. Sie warnen vor einer Erosion allgemeiner Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts:

"Mit dem heutigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird das Recht des Einzelnen auf ein unversehrtes selbstbestimmtes Leben in ein nunmehr festgeschriebenes Recht auf Sterben geradezu verdreht. Damit wird die Schutzwürdigkeit eines jeden Lebens als gesellschaftlicher Konsens in Frage gestellt."
 

"Wer Sterbehilfe erlaubt, macht über kurz oder lang Sterben zur Pflicht"

Die Deutsche Palliativstiftung betitelt ihre Pressemitteilung zum Sterbehilfeurteil mit "Verfassungsgericht setzt Selbstbestimmung der ohnehin Starken über den Schutz der Schwächsten". "Jetzt wird die Erleichterung der Selbsttötung für Kranke und Lebensmüde zur normalen Dienstleistung", ist in der Mitteilung zu lesen, die weitere erstaunliche Aussagen enthält:

"Es ist kein Wunder, dass sich auch das Bundesverfassungsgericht gegen den eindeutigen Willen des Parlaments hat verleiten lassen, künftig lebensverkürzende Maßnahmen auch hierzulande zu fördern und damit die Schwächsten allein zu lassen."

Es "darf niemand gegen seinen Willen zum Suizid gezwungen werden. Mit der Nichtigkeitserklärung des § 217 StGB wird dies aber unausweichliche Folge sein: Denn wer Sterbehilfe erlaubt, macht über kurz oder lang Sterben zur Pflicht – erst recht in einer so ökonomisierten Gesellschaft wie der unseren."

Verantwortlich für die Pressemitteilung im Sinne des Presserechts zeichnet Dr. med. Thomas Sitte, Palliativmediziner, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Palliativstiftung und bekennender Christ.

Noch bemerkenswerter sind die öffentlich geäußerten Ansichten des Stiftungsrats der Deutschen Palliativstiftung Carsten Schütz, der – laut Pressemitteilung – "die Übergriffigkeit des sich allmächtig wähnenden Senats [des Bundesverfassungsgerichts – Anm. d. Red.]" folgendermaßen kritisiert:

"Wenn ein entgrenztes Gericht selbst in so fundamentalen gesellschaftlichen Fragen wie dem Sterben die eindeutige Mehrheitsentscheidung des Parlaments nicht mehr achtet, hat es offensichtlich jeden demokratischen Respekt verloren."

Die Äußerung des Juristen Dr. iur. utr. Carsten Schütz, Doktor des weltlichen und kirchlichen Rechts, Direktor des Sozialgerichts Fulda und Pfarrgemeinderatsmitglied der katholischen Kirche in Dipperz, zeugt ihrerseits wiederum nicht von sonderlich großem Respekt gegenüber dem Bundesverfassungsgericht sowie der Mehrheitsmeinung des deutschen Volkes. Mehrfach haben Umfragen bestätigt, dass sich die deutsche Bevölkerung mit deutlicher Mehrheit für Möglichkeiten der Sterbehilfe ausspricht – ein Mehrheitswille, der bei der Verabschiedung des nun durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärten § 217 StGB vom Parlament vollkommen ignoriert wurde.

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