Corona: Die psychische Pandemie

Während die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland abnimmt, breitet sich weitgehend unbemerkt eine zweite, eine psychische Pandemie aus. Soziale Distanzierung, eingeschränkte Freizeitangebote, Existenzsorgen durch finanzielle Engpässe und nicht zuletzt die potenziell tödliche Infektion – diese Mischung bildet den Nährboden für ganz unterschiedliche psychische Probleme, allen voran Angststörungen und Depressionen.

So bezeichnet der Psychiater Prof. Ulrich Hegerl, Präsident der European Alliance Against Depression (EAAD), Depression als "zweitgrößte Gefahr nach Covid in Europa", und Wolf Hartmann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zwangsstörungen, rechnet mit einer Zunahme von Zwangsstörungen durch die Corona-Krise.

Zu vergleichbaren Einschätzungen kommen Fachleute in anderen von der Pandemie betroffenen Ländern. In der chinesischen Provinz Hubei, die als Ausgangspunkt der weltweiten Infektionswelle gilt, verzeichnete man bereits Anfang des Jahres einen Anstieg von psychischen Problemen. Schon am ersten Tag der strengen Ausgangssperre stand das psychotherapeutische Sorgentelefon nicht mehr still. Eine bald darauf eingerichtete Online-Plattform verzeichnet etwa 24.000 Userinnen und User.

Besonders betroffen von psychischen Belastungen durch die Corona-Krise seien Angehörige von medizinischen und pflegenden Berufen. Bemerkenswert ist die enorme Nachfrage nach psychotherapeutischer Hilfe vor allem deshalb, weil psychische Probleme in China traditionell als Schwäche betrachtet und totgeschwiegen werden. Die aktuelle Situation könnte zum Aufbau eines Systems psychotherapeutischer Versorgung im Land beitragen.

In Frankreich befragt das Meinungsforschungsinstitut Ifop 1.000 Personen mehrfach im Abstand von jeweils einigen Wochen. Nach der zweiten Befragungsphase Anfang April zeigten sich bei 37 Prozent Anzeichen psychischer Nöte. Im Vergleich zu einer Untersuchung von 2017 weist dies auf eine "Verschlechterung der mentalen Gesundheit während der Ausgangsbeschränkung" hin.

Angst, Panikattacken und affektive Störungen wie Stimmungsschwankungen und Depression seien auch die häufigsten Symptome der Hilfesuchen, die sich in Italien an die kostenlose psychologische Hotline wenden. Das berichtet die Psychologin Maddalena Castelletti, Betreiberin des Telefondienstes, bei dem landesweit über 4.000 Psychologinnen und Psychologen zur Verfügung stehen. Italien gehört zu den besonders schwer betroffenen Ländern mit einer hohen Anzahl von Infektionen und Todesfällen durch Covid-19. Zwischen März und Anfang Mai galten dort rigorose Ausgangsbeschränkungen.

Der deutsche Psychiater Ulrich Hegel, der auch Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ist, befürchtet, dass die psychischen Belastungen durch die Pandemie zu einem Anstieg der Suizid-Zahlen führen wird. Derzeit gehen die Zahlen eher zurück. Seit den frühen 80er Jahren hat sich die Zahl von über 18.000 auf 9.400 (2017) halbiert.

Dass es in Zukunft vermehrt zu Corona-Suiziden kommen wird, hält auch der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos nicht für ausgeschlossenen. In den wenigen Wochen seit Beginn der Krise seien ihm im Institut für Rechtsmedizin an der Berliner Charité bereits acht dokumentierte Fälle begegnet, in denen sich Menschen aufgrund von Corona-Angst das Leben genommen hätten. Infiziert war keiner von ihnen, vielmehr deute alles darauf hin, dass die Verunsicherung sie in den Tod getrieben habe.

Unter der Rufnummer (0800) 774 22 44 hat der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen eine kostenlose und anonyme Corona-Hotline geschaltet. Mitglieder des BDP stehen dort täglich von 8:00 bis 20:00 Uhr für ein Gespräch zur Verfügung.

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