Sterbehilfedebatte

Die erstaunliche Wandlungsfähigkeit kirchlicher Positionen

"Kirchenrepublik Deutschland" geht auch andersrum: Als ein Landesbischof Zugeständnisse an das Recht auf Letzte Hilfe macht, wird er von einem Unionsabgeordneten getadelt. Dabei hat sich die Kirche schon immer angepasst, wenn ihre Positionen gesellschaftlich nicht mehr haltbar waren. Ist die CDU etwa christlicher als die Kirche selbst? Und wie passt das zu einem säkularen Staat? Ein Kommentar.

Vielleicht werden die Kirchen eines Tages behaupten, das Recht auf Inanspruchnahme von Sterbehilfe sei ihre Idee gewesen. So wie sie es oft tun, wenn ihre ursprüngliche Position gesellschaftlich nicht mehr vermittelbar ist. Das wohl bekannteste Beispiel für diese Strategie sind die Menschenrechte, die zwar in ihrer Entstehung vehement von den Kirchen bekämpft wurden, die sie heute jedoch als ureigenste christliche Erfindung vor sich hertragen. Das geht so weit, dass der Papst andere zur Einhaltung derselben auffordert, während sein Vatikanstaat – dessen absolutistisches Staatsoberhaupt er ist – die UN-Menschenrechtscharta noch nicht einmal unterzeichnet hat.

Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar, das den "Sterbehilfeverhinderungsparagrafen" 217 StGB für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte, war der Aufschrei groß: Es war gar von einem "Selbstbestimmungsfetisch" die Rede und von einem "entgrenzten" Gericht ohne jeden demokratischen Respekt. Was dieses wegweisende Urteil aber politisch bedeutet, das haben die Kirchen sehr wohl verstanden. Und so ging man nach der anfänglichen Empörungs- und Warn-Phase dazu über, das Recht auf Letzte Hilfe vorsichtig und in eventuellen Ausnahmefällen nicht mehr vollständig abzulehnen.

Nun sind wir in Phase drei angekommen: Ralf Meister, der evangelische Landesbischof von Hannover, erklärte gegenüber der Neuen Osnabrücker Zeitung, der Mensch habe ein Recht auf Selbsttötung und dass diese auch aus christlicher Perspektive zulässig sei. Die obligatorische theologische Zurechtbiegung ging dann so: "Wenn mir Gott das Leben schenkt, hat er mir an dem Tag, ab dem ich Erdenbürger bin, auch die Berechtigung zur Gestaltung dieses Lebens gegeben." Obendrein plädierte der Landesbischof sogar noch dafür, dass Ärzte ein tödliches Medikament verschreiben und verabreichen dürfen. Er forderte Respekt vor jenen, die den Zeitpunkt ihres Todes selbst wählen wollten und um angemessene Hilfe bäten.

Wer will schon eine Niederlage eingestehen, wenn man sie auch als Triumph verkaufen kann?

Es ist immer grundsätzlich zu befürworten, wenn das organisierte Christentum wieder einmal von einer vordemokratischen Vorstellung seiner Glaubensinhalte abrückt. Allerdings tut es das wohl nicht, weil man nach ausführlicher Prüfung der Argumente zu einem neuen Schluss gelangt ist, sondern weil die aufgeklärte Gesellschaft es dazu zwingt. Die christliche Position zum "Selbstmord" ist nämlich eigentlich eindeutig: Er darf nicht sein, da das Leben ein Geschenk Gottes sei, das der Mensch nicht ablehnen dürfe, allein dieser Gott dürfe es ihm wieder nehmen. Aber wer will schon eine Niederlage eingestehen, wenn man sie auch als Triumph verkaufen kann?

So weit, so bekannt. Doch jetzt wird es grotesk: Alexander Krauß, Gesundheitspolitiker der CDU und studierter evangelischer Theologe, der hpd-Lesern bereits durch seine fragwürdige Aussage, Gottesdienste stärkten in der Corona-Pandemie das Immunsystem, bekannt ist, empört sich über die im Aufweichungsprozess befindliche kirchliche Positionierung. Wenn Gott das Leben geschenkt habe, dann stehe es dem Menschen nicht zu, über dessen Ende zu bestimmen, kann man auf seiner Website lesen. "Dem Selbstmord das Wort zu reden, sei gerade für einen Kirchenmann erbärmlich", heißt es dort weiter.

Dieser Diskussionsbeitrag ist bemerkenswert: Die CDU in Person von Herrn Krauß gibt sich christlicher als die Kirche selbst – um nicht zu sagen: fundamentalistischer. Da hat der gesellschaftliche Fortschritt der Kirche wieder einmal mühsam etwas abgerungen, und dann kommt ausgerechnet ein Bundestagsabgeordneter daher und äußert sein Missfallen darüber.

Hier offenbart sich das Problem, wenn Theologen in die Politik gehen und nicht verstehen, dass sie Volksvertreter eines als säkular konzipierten Staates ohne bestehende Staatskirche sind. Das bedeutet, dass nicht nur die Einbringung religiöser Positionen in die Politik unzulässig ist, sondern auch, dass sich Politiker nicht in Glaubensfragen einmischen sollten.

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