Ein Plädoyer gegen die Todesstrafe

Gnadenlos

Donald Trump ist einer der glühendsten Anhänger der Todesstrafe – das betont er auch in seinem Wahlkampf. Nicht nur seine Anhänger, die Hälfte der Amerikaner stimmen ihm zu. Warum der Glaube an die Todesstrafe weltweit noch immer lebendig ist – und der Kampf dagegen nötiger denn je ist. Ein Plädoyer von Helmut Ortner.

Es ist wie jedes Jahr. Diesmal ist es  ein Dienstagvormittag im April 2020: Vorne sitzen die  Sprecher von Amnesty International, in den Stuhlreihen – immerhin gut besetzt – die Journalisten und Medienvertreter. Sie alle erwartet eine  nüchterne, mitunter deprimierende Pressekonferenz: Die Menschenrechtsorganisation legt in Berlin ihren Bericht über Todesurteile und Hinrichtungen vor.

Die Informationen stammen aus unterschiedlichen Quellen: Offiziellen Statistiken der Ministerien und Verwaltungen, Berichten unterschiedlicher Organisationen der Zivilgesellschaft sowie Medienberichten – Zahlen und Informationen, die sich auf Basis eigener Recherche hinreichend bestätigen lassen. Ein schwieriges Unterfangen. In zahlreichen Ländern veröffentlichen die Regierungen keinerlei Informationen über ihre Anwendung der Todesstrafe. Im Gegenteil: Dort, wo die Öffentlichkeit davon erfahren könnte, ist jede Form der Veröffentlichung untersagt und wird mit Strafe und Repression geahndet. Der Einsatz der Todesstrafe wird als Staatsgeheimnis eingestuft. Wer Nachforschungen anstellt, wird als Staatsfeind verfolgt und angeklagt. In Staaten wie China, Vietnam, Nordkorea, Jemen, Malaysia ist es vor diesem Hintergrund unmöglich, verlässliche Angaben zu bekommen.

Die Zahlenangaben des Berichts spiegeln also – mit wenigen Ausnahmen – allenfalls Mindestwerte wider. Insgesamt liegen die Zahlen der zum Tode verurteilten Menschen sowie der vollstreckten Hinrichtungen wahrscheinlich höher. Dennoch: Die jährliche Schreckensbilanz ist ein wichtiges Dokument, sie garantiert ein Mindestmaß an Information und Gegenöffentlichkeit, benennt Realitäten und beschreibt Entwicklungen – deprimierende wie erfreuliche.

Die Zahl der offiziell vollstreckten Todesstrafen ist zurückgegangen, die der Todesurteile vielerorts gestiegen

Beispielbild
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Helmut Ortner: Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe."

Einerseits: Die Zahl der offiziell vollstreckten Todesstrafen ist zurückgegangen, um fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Von (mindestens 690) im Jahr 2018 auf 657. Dies ist die niedrigste Zahl an Hinrichtungen seit einem Jahrzehnt, die Amnesty International verzeichnet hat. Andererseits ist der Menschenrechtsorganisation zufolge in zahlreichen Ländern ein starker Anstieg an Todesurteilen zu konstatieren. In Irak verdoppelten sich die Hinrichtungen beinahe, von mindestens 52 in 2018 auf mindestens 100 in 2019. Vor allem aber  Saudi-Arabien führte eine Rekordzahl von Hinrichtungen durch: Während es 2018 149 Fälle waren, stieg die Zahl 2019 auf 184, eine Steigerung um 23  Prozent und die höchste Zahl, die Amnesty International für den autoritär geführten Staat dokumentiert hat. Das Regime in Saudi-Arabien setze die Todesstrafe aber auch als "politische Waffe" gegen Oppositionelle der schiitischen Minderheit ein, berichtet Amnesty. Als Beispiel nennt die Menschenrechtsorganisation eine Massenhinrichtung von 37 Personen, unter denen sich 32 schiitische Männer befanden.

Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed bin Salman, der seit 2017 die Politik des Landes bestimmt und sich gerne als Motor eines Reformprozesses präsentiert –  der jedoch nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen von einer verstärkten Repression gegen Kritiker begleitet wird –, hat im Frühjahr 2020 ein Dekret erlassen, in dem er mitteilte, er wolle die Todesstrafe für Minderjährige abschaffen. Die Todesstrafe werde nicht mehr gegen Angeklagte verhängt, die zum Tatzeitpunkt minderjährig gewesen seien. Höchststrafe für Verbrechen von Minderjährigen sei stattdessen nunmehr eine zehnjährige Haft in einem Jugendgefängnis. Und auch auf die Strafe des Auspeitschens wolle man in Zukunft verzichten. Zuvor stand das Auspeitschen als Strafe auf Tötungsdelikte, aber auch auf die Störung der "öffentlichen Ordnung" sowie auf außereheliche Beziehungen. Die Richter sollen in diesen Fällen künftig Haft- oder Geldstrafen oder die Verpflichtung zur gemeinnützigen Arbeit verhängen. Soviel zum Reformeifer des "modernen" Kronprinzen.

Saudi-Arabien: Ein Land, das weiterhin Todesstrafen vollstreckt – und dennoch auch zukünftig mit keinerlei nachhaltigen Protesten der internationalen Staatengemeinschaft rechnen muss. Ein Land, das im Jahr 2020 die Präsidentschaft in der G20-Staatengruppe der führenden Wirtschaftsmächte innehat. Proteste sind nicht zu erwarten. Denn wenn es um wirtschaftliche Interessen geht – hierfür steht exemplarisch der Umgang mit Saudi-Arabien – rücken ethische Grundsätze in den Hintergrund. Geschäft ist Geschäft.

Die Frage etwa, wie es in den Herkunftsländern der Handelspartner um die Menschenrechte bestellt ist, wird in der deutschen Wirtschaft "pragmatisch" thematisiert. Mit dem Export von Waren und Dienstleistungen nach Saudi-Arabien zum Beispiel haben deutsche Unternehmen in den vergangenen Jahren Milliarden verdient. Sie handeln mit einem Land, das Todesstrafen vollstreckt, barbarische Körperstrafen exekutiert.

Doch für die Wirtschaft scheint das kein Hindernis zu sein: Die Unternehmen liefern weiter in das autoritäre Königreich – und schweigen. Deutsche Unternehmen haben in der jüngeren Vergangenheit so ziemlich alles an ihre saudischen Geschäftspartner verkauft, was an Wehrtechnik auf dem Markt ist: Die Listen aus den Jahren 2015 und 2016 reichen von Maschinenpistolen über Luftaufklärungssysteme, Komponenten für Kampfflugzeuge, Waffenzielgeräte und Flugkörper bis zu Panzerhaubitzen.

Dabei gehören inzwischen 270 deutsche Firmen – von den meisten Dax-Konzernen bis zu Mittelständlern – zu den Unterzeichnern des UN Global Compact, der Initiative der Vereinten Nationen zur Förderung von nachhaltiger Entwicklung und Unternehmensführung. Die Beteiligten verpflichten sich auf zehn Prinzipien. An erster Stelle: Die Unterstützung und Achtung der Menschenrechte. Auffällig jedenfalls ist, dass sich nur wenige deutsche Wirtschaftsvertreter namentlich zitieren lassen. "Wir bekommen dann große Probleme", heißt es immer wieder. "Wenn man sich überall einmischen würde, weiß man nachher nicht mehr, wem man damit geholfen und wem man geschadet hat", formuliert es der Sprecher eines in Saudi-Arabien engagierten Industriekonzerns. Die Politik sei gefragt ...

Diese beobachtet zwar seit Jahren die innenpolitischen Verhältnisse und die Menschenrechtslage mit wachsendem Verdruss und geißelt, freilich inoffiziell, die Steinzeitlichkeit des Systems, akzeptiert aber zugleich das autoritäre Land als potenten Handelspartner und regional wichtigen politischen Akteur, etwa im Kampf gegen den Terrorismus, obwohl auch aus Saudi-Arabien heraus Terrorismus entstand und gefördert wurde. Anders gesagt: Saudi-Arabien ist politisch einer dieser Staaten, auf die man inzwischen gerne verzichten würde, aber nicht kann.

Wie viele Verstöße gegen eigene Werte kann man dulden?

Doch wie viele Verstöße gegen eigene Werte kann man dulden, nur um einen solchen Partner nicht zu verlieren? Wie viele Waffen kann man liefern in ein Land, das die Region nicht stabilisiert, sondern Krieg und Terror eskalieren lässt? Wie lange kann der notwendige Pragmatismus über die unerlässlichen Prinzipien dominieren, ohne die eigene Glaubwürdigkeit zu beschädigen? Wie oft kann man wegsehen, wenn Menschen hingerichtet werden? Es entbehrt nicht einer gewissen Heuchelei, wenn die deutsche Regierung einerseits öffentlich und lautstark vor Erdogans autoritärem Machtzuwachs warnt, der dabei auch an die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei denkt, und anderseits zu den realen Verhältnissen in Saudi-Arabien schweigt.

Neben Saudi-Arabien fanden die  meisten Hinrichtungen 2019 in China, Iran, Irak und Ägypten statt – in dieser Reihenfolge. Es ist davon auszugehen, dass die mit Abstand meisten Hinrichtungen weltweit wie in den Jahren zuvor in China stattfanden – doch ist das wahre Ausmaß der Anwendung der Todesstrafe in China nicht bekannt. So sind die Tausende von Hinrichtungen, die in China mutmaßlich vollzogen wurden, in der globalen Zahl von mindestens 657 vollstreckten Todesurteilen nicht enthalten.

Nicht nur in China, in zahlreichen Ländern, namentlich dem Irak, dem Iran, Nordkorea und Saudi-Arabien, erging die Todesstrafe nach Gerichtsverfahren, die nicht den internationalen Rechtsstandards für einen fairen Prozess entsprachen. Dies schloss in einigen Fällen ein, dass "Geständnisse" durch Folter erpresst wurden. In nahezu allen Regionen der Welt bedienten sich Regierungen der Todesstrafe auch weiterhin, um auf echte oder vermeintliche Bedrohungen der Sicherheit von Staat oder Öffentlichkeit zu reagieren. In mindestens sieben Ländern wurde die Todesstrafe im Zusammenhang mit terroristisch motivierten Straftaten angewendet, beispielsweise wurden die meisten Exekutionen im Nahen Osten und in der Region Nordafrika damit begründet. Einige Länder erweiterten ihren Strafkatalog um terroristische Akte, die nun ebenfalls die Todesstrafe nach sich ziehen können. Selbst jugendliche Straftäterinnen und Straftäter unter 18 Jahren wurden exekutiert.

Ebenso wurden Todesurteile für Straftaten verhängt, die nicht die hohen Vorgaben erfüllen, zu den "schwersten Verbrechen" zu zählen, auf die das Völkerrecht die Todesstrafe beschränkt. Fragwürdig ist ohnehin, dass die Definition dessen, was als "schweres Verbrechen" zur Anklage kommt, allein den Machthabern der jeweiligen Staaten obliegt. So exekutierte Saudi-Arabien Menschen, die offiziell wegen "Terrorismus, Anstiftung zu Gewalt und krimineller Verschwörung" verurteilt worden waren. Auch Vergehen wie Blasphemie, also Gotteslästerung, "Beleidigung des Propheten oder der Religion" werden in dem Land mit der Todesstrafe geahndet. Wer der Homosexualität und des Ehebruchs überführt wird, dem droht ebenso die Todesstrafe.

Festzuhalten bleibt: die Hinrichtungsmethoden, die angewendet werden, umfassen das gesamte Tötungsinstrumentarium, vom mittelalterlichen Enthaupten bis zur klinischen Giftspritze.

  • Enthaupten (Saudi-Arabien)
  • Erhängen (Afghanistan, Bangladesch, Botsuana, Indien, Irak, Iran, Japan, Pakistan, Palästinen­sische Gebiete [Hamas-Behörden in Gaza], Sudan)
  • Erschießen (Belarus, China, Jemen, Gambia, Nordkorea, Palästinensische Gebiete Hamas-Behör­den in Gaza], Somalia, Taiwan, Vereinigte Arabische Emirate)
  • Giftinjektion (China, USA)

Amnesty International ist nach wie vor in Sorge, dass in der Mehrheit der Staaten, in de­nen Menschen zum Tode verurteilt oder hingerichtet werden, die Todesstrafe nach Prozes­sen verhängt wird, die nicht den internationalen Rechtsstandards für ein faires Gerichtsverfah­ren entsprechen. Oft basieren diese Todesurteile und Hinrichtungen auf "Geständnissen", die möglicherweise durch Folter oder Misshand­lung zustande gekommen sind. Dies ist insbesondere in folgenden Staaten der Fall: Afghanistan, Be­la­rus, China, Irak, Iran, Nordko­rea, Saudi-Arabien und Taiwan. Im Irak und Iran wurden einige dieser "Geständnisse" vor dem Prozess im Fernsehen ausgestrahlt, wodurch das Recht auf Unschuldsvermu­tung der Angeklagten weiter beschnitten wurde.

Zwingend vorgeschriebene Todesurteile sind mit Menschenrechtsprinzipien unvereinbar

Zwingend vorgeschriebene Todesurteile sind mit Menschenrechtsprinzipien unvereinbar, da sie die persönlichen Umstände eines Angeklagten oder die speziellen Umstände einer Straftat nicht berücksich­tigen. Sie werden in folgenden Staaten verhängt: Barbados, Indien, Iran, Malaysia, Malediven, Pakistan, Singapur, Thailand sowie Trinidad und Tobago.

Es werden weiterhin Menschen wegen Verbrechen zum Tode verurteilt oder hingerichtet, bei denen keine vorsätzliche Tötung vorliegt. Damit wird die Schwelle der "schwerste(n) Verbrechen", die Arti­kel sechs des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte für die Verhängung eines Todesurteils setzt, nicht erreicht. Aus einer Reihe von Staaten ist bekannt, dass sie die Todesstrafe für Drogendelikte anwenden, darunter China, Indien, Indonesien, Iran, Jemen, Malaysia, Pakistan, Saudi-Ara­bien, Singapur, Thailand und Vereinigte Arabische Emirate.

Weitere Straftatbestände, die mit der Todesstrafe geahndet werden, sind Ehebruch und homo­sexuel­ler Geschlechtsverkehr (Iran), religiöse Vergehen wie die Abkehr vom Glauben (Iran), Gottesläste­rung (Pakistan), Hexerei (Saudi-Arabien), Wirtschaftsdelikte (China), Vergewaltigung (Saudi-Arabien) und Formen des schweren Raubes (Kenia, Sambia, Saudi-Arabien). Außerdem wurde die Todesstrafe verhängt für verschiedene Arten von Verrat, Handlungen gegen die nationale Si­cherheit und andere Verbrechen gegen den Staat (wie etwa im Iran für "moharebeh" – Feindschaft gegen Gott), und zwar unab­hängig davon, ob bei den Vergehen ein Mensch ums Leben kam oder nicht. Solche Todesurteile ergin­gen in Gambia, Kuwait, Libanon, Nordkorea, den Palästinensische Gebieten (Palästinensische Behörde im Westjor­danland; Hamas-Behörden in Gaza) und Somalia. In Nordkorea werden oft Todesurteile gefällt, obwohl die in Frage stehende Tat nach inländischem Recht nicht von der Todesstrafe bedroht ist. Dies geschieht häufig durch Militär- und Sondergerichte beziehungsweise -tribunale, auch gegen Zivilper­sonen, nicht nur in Nordkorea, sondern auch in Ägypten, Demokratische Repu­blik Kongo, Libanon, in den Palästinensischen Gebieten und der Demokratischen Republik Somalia.

In wenigen Staaten gibt es auch Reformen

Gibt es nirgendwo bescheidene Änderungen, einen Funken Hoffnung? Doch, in wenigen Staaten gibt es auch Reformen, auch das zeigen die Recherchen von Amnesty International. China und Vietnam verringerten die Anzahl der Straftatbestände, die mit der Todesstrafe geahndet werden können. Malaysia kündigte Reformen an, um Gesetze zu überprüfen, die die Todesstrafe zwingend vorschreiben. Burkina Faso, Guinea, Kenia und die Republik Korea (Südkorea) zogen Gesetzesentwürfe in Betracht, mit denen die Todesstrafe abgeschafft werden soll.

Als Amnesty International vor mehr als vier Jahrzehnten erstmals mit Kampagnen für ein Ende der Todesstrafe begann, hatten gerade 16 Länder diese Strafe völlig aus dem Gesetz gestrichen. 1977 war ein Jahr des Aufbruchs. Heute hat sich die Mehrzahl der Länder der Erde vollständig von der Todesstrafe getrennt und Dutzende weitere haben über ein Jahrzehnt lang keine Todesurteile vollstreckt beziehungsweise haben eindeutig signalisiert, diese Form der Bestrafung ganz und gar einstellen zu wollen. Trotz einiger gegenläufiger Entwicklungen, die 2019 kennzeichnen – vor allem der Hinrichtungszahlen aus Iran, Irak, Pakistan und Saudi-Arabien ­–, geht der langfristige Trend in Richtung einer weltweiten Abschaffung der Todesstrafe.

Festzuhalten ist: Am Ende des Jahres 2019 hatten 106 Länder (die Mehrheit der Staaten weltweit) die Todesstrafe im Gesetz für alle Verbrechen abgeschafft und 142 Länder (mehr als zwei Drittel aller Staaten weltweit) sie per Gesetz oder in der Praxis ausgesetzt oder ebenfalls abgeschafft. Das lässt hoffen.

Der Text ist ein Auszug aus der aktuellen Neuerscheinung "Helmut Ortner: Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe". Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Helmut Ortner: Ohne Gnade. Eine Geschichte der Todesstrafe. Mit einem Nachwort von Bundesrichter a. D., Prof. Dr. Thomas Fischer. Nomen Verlag. 240 Seiten, 22 Euro.

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