Einmal mehr hat die Große Koalition vergangenen Donnerstag ein Gesetz verabschiedet, das absehbar gegen jede gängige Auslegung unserer Verfassung verstößt. Die Umwandlung der Steuer-ID in eine allgemeine Personenkennziffer hat nicht nur im Bundesrat, der Opposition und bei buchstäblich sämtlichen Datenschützern der Republik Widerspruch geerntet. Sondern auch vom Bundesverfassungsgericht war sie schon 1983 als Paradebeispiel für einen übergriffigen Staat angeführt worden, der damit "den einzelnen Bürger in seiner ganzen Persönlichkeit (...) registrieren und (...) katalogisieren" würde. Dies müsste heute mehr denn je gelten.
In konservativen Kreisen ist es seit etlichen Jahren Usus: Man verabschiedet einfach mal, was man sich wünscht, und schaut dann später, wie man die verfassungsrechtlichen Scherben zusammenkehrt. Ob Volkszählung, Großer Lauschangriff, Rasterfahndung, Onlinedurchsuchung, BKA-Gesetz, Bestandsdatenauskunft, Antiterrordatei, Vorratsdatenspeicherung, Gesichtserkennung, ... Locker ein Dutzend Mal haben sich die Bundesinnenminister von Zimmermann bis Seehofer sehenden Auges ins Knie geschossen. Im besten Fall sind die Folgen Rechtsunsicherheit, verschleppte Reformen, Verwaltungskosten und die Mühen einer neuen Gesetzgebung. Im schlechteren Fall kommen sie damit durch – auch das kommt leider vor.
"Die Büchse der Pandora öffnen und dem Bösen sagen, dass es nicht rauskommen soll – hat ja schon immer gut funktioniert." Dirk Burczyk auf netzpolitik.org
Klar ist: Je leichter unsere Daten zusammengeführt werden können, desto größer ist das Risiko eines Missbrauchs. Eine zentrale Profilbildung galt in Deutschland – mit Verweis auf die NS- und die SED-Diktatur – bisher als Merkmal eines totalitären Staates. 13 Jahre lang hatte man geschworen, die Steuer-ID niemals für einen solchen Zweck zu nutzen. Doch nun setzt man im Innenministerium auf das Verblassen dieser Erfahrungen. Dafür erntete die Innenministerkonferenz den Big Brother Award 2020. Und übrigens kann auch in demokratischen Ländern eine Personenkennziffer zu einem Albtraum werden – Aadhaar aus Indien lässt grüßen.
Zweierlei Trost: 21 europäische Nationen haben eine solche Personenkennzahl bereits eingeführt. Und ein Mittlersystem ("4-Corner") soll die Datenweitergabe regulieren. Nachvollzogen werden kann diese dann in einem "Daten-Cockpit", das allerdings leider ohne Steuerfunktion auskommen muss. Positivbeispiele wie Österreich, das mit einer datenschutz-freundlichen Stammzahl aufwarten kann, wurden als zu umständlich abgetan. Von innovativen selbstsouveränen Konzepten gar nicht zu reden. Auch mit der schweizer Online-Identität SwissID ist die Kennziffer nicht vergleichbar, denn hier bestimmt das Subjekt darüber, wer welche Informationen erhält. Bei den rund 50 angeschlossenen Bundesbehörden dürfte man kaum vor die Wahl gestellt werden, ob man sein Einverständnis abgibt – keine Arme, keine Kekse.
"Die Einordnung der (…) Steuer-ID als allgemeines oder bereichsübergreifendes Personenkennzeichen birgt erhebliche Schwierigkeiten." Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages
Sagen wir es, wie es ist: Das Einrasten des langsam immer weiter gedrehten Überwachungs-Zahnrades ("function creep") ist vorprogrammiert. Schon gewöhnen wir uns an Gesichtserkennung, an Fingerabdrücke für Reisezwecke, an ein Mitlesen unserer Kommunikation durch staatliche Stellen im In- und Ausland. Gerade wurden wieder Pläne der Bundesregierung bekannt, die Erfassung von Autokennzeichen zu allgemeinen Fahndungszwecken freizugeben – nachdem jahrelang Stein und Bein geschworen wurde, diese Daten würden nur zur Berechnung der LKW-Maut erfasst. Und auch die EU-Kommission leistet sich einen Vorstoß, sämtliche elektronische Kommunikation auf Darstellungen sexualisierter Gewalt gegen Kinder hin zu scannen. Bald dann auch gegen Terror und Drogenhandel, garantiert.
Und es ist ja verständlich: Man hat technische Möglichkeiten auf der einen Seite und zum Beispiel ein latentes Fahndungsproblem auf der anderen Seite – was läge näher, als die vorhandenen Daten auch auszuwerten? Im Einzelfall, auf richterliche Anordnung ist das kein Problem, weil hier eine gewisse Hürde und Mühe zu überwinden ist. Wenn man aber auf Knopfdruck immer wüsste, wer wann wo war, wer wie denkt und was tut – rein technisch heute kein Problem mehr – ja, dann wäre man allwissend. Und die Polizeiarbeit wäre so viel billiger. Und das Böse für immer besiegt.
"'Der Datenschutz macht uns kaputt', hab' ich letztens noch bei Unternehmergesprächen gehört." Marc Heinrichmann, CDU/CSU in der Bundestagsdebatte
In der Folge könnte man auch gleich damit beginnen, präventiv vorzugehen, Kriminalität, organisiertes Verbrechen, sexuelle Abartigkeit oder Aufstände im Keim zu ersticken. China ist auf dem Weg in einen solchen Staat, sehr konkret und greifbar. Selbstverständlich werden dort die Befugnisse zum Machterhalt eingesetzt, es ist der Beginn einer bleiernen Ära. Und ohne es recht zu merken, akzeptieren auch wir in Deutschland und Europa Stück für Stück Gesetze, die als entscheidende Bausteine eines Überwachungsstaates taugen.
Nein, die Personenkennziffer ist nicht der Weltuntergang und auch kein Fahrschein in die Dystopie. Aber ihr Missbrauch – wenn er denn stattfindet – wird natürlich nicht geahndet werden. Ihr Gebrauch wird mittelfristig zu genau der Zentralisierung unserer Daten führen, die heute abgestritten und von den Skeptikern befürchtet wird. Es wird Forderungen geben, biometrische Daten einzuarbeiten. Und Menschen, die im Kleinen oder im Großen darauf angewiesen sind, im System hier oder da durch die Maschen zu schlüpfen, werden noch etwas gnadenloser behandelt werden.
Die Ereignisse der letzten Jahre in den USA, in der Türkei oder in Russland, in Polen oder Ungarn, sollten uns zu denken geben, welches Instrumentarium wir den Mächtigen von morgen an die Hand geben.
12 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Die Politik hat kapiert, dass das Bundesverfassungsgericht schlimmstenfalls "Nein, aber..." sagt und so scheibchenweise Fortschritte in Richtung Totalüberwachung möglich sind.
Würde ein Regierungswechsel etwas daran ändern? Vermutlich nur die Begründung: Statt allles unions-typisch mit "Sicherheit" zu begründen würde eine rot-grün geführte Regierung die selben Maßnahmen mit "Klima- und Umweltschutz" und "gegen Rechts" rechtfertigen.
Denn in einem sind sich die herrschenden Eliten einig: Sie wollen selber die Macht und die Bürger unterm Deckel halten. Rückgabe von Macht an die Bürger hat z.Z. keine Partei im Programm. Vielleicht ändert sich da noch was, die Wahlprogramme für den 26.09.2021 werden gerade erstellt. Derweil schafft die Regierung Fakten.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Liebe Anja Sander, das "scheibchenweise ... in Richtung Totalüberwachung" trifft den Nagel m.E. auf den Kopf.
Wir werden das erleben.
A.S. am Permanenter Link
Lieber Hans Trutnau, Bürgerräte sind für die Mächtigen eine feine Idee solange sie in der Lage sind, die Bürgerräte zu manipulieren. So lässt sich dann "Demokratie" heucheln.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"... Bürgerräte zu manipulieren. So lässt sich dann "Demokratie" heucheln" - ich schrieb ja: Machterwerb und -erhalt; wie auch immer, Frau Sander. Das ist alles nicht sehr erquicklich.
Hans Trutnau am Permanenter Link
"... Paradebeispiel für einen übergriffigen Staat" - 'übergriffig' passt. Noch besser passte 'übergriffige Politik'.
Edmund Schmidt am Permanenter Link
"... Und Menschen, die im Kleinen oder im Großen darauf angewiesen sind, im System hier oder da durch die Maschen zu schlüpfen, werden noch etwas gnadenloser behandelt werden."
Ulrica Griffiths am Permanenter Link
Wer noch nie in einem Unrechtsstaat gelebt hat oder wer in Geschichte gepennt hat, dem ist nicht klar, dass der Schlusssatz auf jeden von uns urplötzlich zutreffen kann.
Edmund Schmidt am Permanenter Link
Also sollte man lieber entweder in Kauf nehmen zu den Dummen zu gehören oder selbst zum "pfiffigen" kleinen oder großen Betrüger werden? Wer nicht so pfiffig ist darf betrogen werden?
pi am Permanenter Link
Danke für die Kommentare – tatsächlich ist es lohnend, das einmal zuende zu denken.
Wenn wir uns in ein "gnadenloses", sprich perfektes System hineinbegeben, dann müssen wir hoffen, dass es keine groben Ungerechtigkeiten in sich birgt. Das Empfinden, was gerecht sei, ist aber an Ideen und Zeit gebunden. Vor 35 Jahren war es z.B. normal, als homosexueller General sofort gefeuert zu werden, um nur mal ein Beispiel zu nennen.
Auch heute sind Entscheider z.B. erpressbar, wenn sie eine heimliche Affäre haben. Wir haben heute Entscheidungen über Kreditwürdigkeit, die sich an unbekannten Faktoren in selbstlernenden Systemen festmachen. Du fährst nur einen Subaru? Du hattest mal Krebs oder eine psychische Krise? Deine Nachbarn haben Probleme mit der Abzahlung? Wohnungssuchende Juristen sind bei Vermietern unbeliebt und schwindeln diesen deshalb einen "gleichwertigen" Beruf vor – was legal ist. Usw.
Richtig furchtbar kann es sein, wenn man zu einer verfolgten Volksgruppe gehört. Was den Uiguren in China widerfährt, ist auch in Ungarn, den USA oder in Deutschland nicht dauerhaft ausgeschlossen. Es gibt also gute Gründe, Systeme nicht unendlich zu vernetzen. Hat man deswegen etwas zu verbergen oder ist ein Schwindler? Vielleicht. Vielleicht ist man aber auch Whistleblower oder Anti-Mafia-Staatsanwalt. Man sollte davon ausgehen, dass es okay ist, etwas zu verbergen zu haben.
Die Frage lautet also: Wollen wir totale und immer ehrliche Information, die nie vergisst? Wer schützt uns vor Missbrauch und Leaks durch nicht nicht-ehrliche? Welchen Preis zahlen wir für die absolute Ehrlichkeit und wollen wir das tun? Und welche Konsequenz hat es, wenn wir eine Toleranz künstlich einbauen wollen? Nicht ganz einfach ...
Edmund Schmidt am Permanenter Link
Hierzu möchte ich gerne auf den Kommentar von Leon Paysan am 5. Februar verweisen, dem ich voll zustimme.
Leon Paysan am Permanenter Link
Als Informationssicherheitsbeauftragter einer Landesbehörde mache ich mir Gedanken um das Ende der Passworte durch die Entwicklungen im Bereich der Quantencomputer.
Ja, diese Daten könnten auch vom Staat missbraucht werden. Diese Gefahr besteht jedoch auch ohne zentrale ID, da die Daten so oder so in der Welt sind und mit den verfügbaren technischen Mitteln leicht zusammengeführt werden können. Ein totaliärer Staat findet in jedem Fall eine Möglichkeit, an diese Daten zu kommen, mit oder ohne zentrale ID.
Die Methode, Gesetz raushauen und gucken, was das Verfassungsgericht macht, ist sicher keine gute Herangehensweise. Grundsätzlich müssen wir die Diskussion aber führen, wie wir uns in Zukunft auch im Internet sicher und verlässlich authentisieren können.
Aus der Arbeit einer Behörde sehe ich auch die Notwendigkeit, die Authentisierung zu zentralisieren. Es ist so viel effizienter, eine einzige Authentisierungskomponente zu entwickeln, als jeweils eine neue für hunderte von Verfahren zu entwickeln.
Wie immer stehen hier Nutzen und Gefahren einander gegenüber, das ist nun mal das Dilemma der Moderne.
Unsere Demokratie dürfte da ein gutes Milieu sein, im Hin und Her, im Vor und Zurück zu einer ausgewogenen Lösung zu finden.
Eine kritische Grundhaltung ist sehr gut, ein gesundes Staatsvertrauen aber auch nicht schlecht.
In meiner Behörde arbeiten jedenfalls viele engagierte Menschen mit großem Einsatz daran, effiziente Verwaltung möglich zu machen und dabei Datenschutz und Grundrechte jederzeit im Auge zu behalten.
Lasst uns einfach gut aufpassen, das unser Staat nicht in die falschen Hände gerät.
pi am Permanenter Link
Da stimme ich in vielem zu.