Missbrauchsskandal: Offener Brief von Betroffenen

Die Kirche kann es nicht allein

Wer in der Kirche sexuellen Missbrauch erlebt hat, erfährt von der Institution kaum Gerechtigkeit. Jetzt muss der Staat eingreifen. Dieser offene Brief von Betroffenen erschien zur Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz im Februar in der Zeit-Beilage Christ & Welt. Der hpd veröffentlicht ihn im Wortlaut.

Wir, die Autoren, haben uns seit über zehn Jahren für Aufarbeitung, Hilfe und Entschädigung der Opfer sexuellen Kindesmissbrauchs insbesondere im Kontext der katholischen Kirche engagiert. Diese Themen gehören ins Parlament, um dort diskutiert zu werden. Wir brauchen Hilfe, trotz der Erfolge der letzten Jahre. Hier sind unsere Forderungen:

  1. Wir schlagen die Einsetzung einer Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission durch das Parlament vor, die den Aufarbeitungsprozess für das jahrzehntelange systematische institutionelle Versagen in den Kirchen begleitet. Die Institutionen müssen dort über ihre Fortschritte berichten, Betroffene müssen gehört werden.

    Die Kirche kann es nicht allein. Das hat sie in den vergangenen Jahren zur Genüge bewiesen. Aufarbeitung ist keine "innerkirchliche Angelegenheit", sondern eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung.

    Und: Ohne Aufarbeitung kann Prävention nicht gelingen. Nur wer die Verbrechen und Versäumnisse der Vergangenheit aufklärt, offenlegt und Ausgleich sucht, tut das Notwendige, um Kinder heute besser zu schützen. Eine Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission auf gesetzlicher Basis wäre ein Weg, den andere Staaten bereits gegangen sind.
     

  2. Die Stärkung, Vernetzung und juristische Beratung von Betroffenen muss endlich auch finanziell unterstützt werden. Selbsthilfe braucht einen Rahmen, der die Möglichkeiten des ehrenamtlichen Engagements übersteigt. Es gibt ein starkes Bedürfnis nach Austausch, ohne sich erklären zu müssen. Viel zu lange waren die Opfer mit ihrer Geschichte allein.
     
  3. Gemeinsam mit den Betroffenen muss eine unabhängige Anlaufstelle geschaffen werden. Bereits bestehende Fachberatungsstellen vor Ort können dabei mitwirken, wenn sie sich mit den Besonderheiten kirchlich sozialisierter Opfer vertraut gemacht haben. Dabei müssen alle Betroffenen sexueller Gewalt in der Kirche einbezogen werden, nicht nur jene, die der Täterorganisation genehm sind.
     
  4. Für die Unterstützung der etwa 5.000 lebenden Opfer, die sich bislang gemeldet haben, schlagen wir die Gründung eines "Opfergenesungswerks" vor, das von den Kirchen finanziell ausgestattet wird, aber unabhängig operiert und Betroffene mit beteiligt.
     
  5. Die Opfer der Missbrauchsverbrechen und der Vertuschung durch kirchliche Leitungs- und Personalverantwortliche müssen endlich angemessen entschädigt werden. Die verbesserten Anerkennungsleistungen, die die Kirche nun endlich gewähren will, zeigen, dass der öffentliche Druck gewirkt hat. Das Parlament sollte klären, wie angemessene Entschädigungen aussehen sollten. Die Vorschläge, die unter Einbeziehung von Betroffenen 2019 entwickelt wurden, liegen vor. Ebenso das Konzept, das die katholischen Bischöfe angefangen haben umzusetzen, dem sich aber nicht einmal alle Gliederungen anschließen wollen. Auch für die EKD muss eine klare institutionelle Verantwortungsübernahme durchgesetzt werden statt intransparent festgelegter "individueller Leistungen". Eine vom Parlament beauftragte Kommission sollte mit einem klaren zeitlich begrenzten Auftrag beauftragt werden, eine Lösung zu erarbeiten, die nicht nur die Interessen der Institution, sondern auch die der Betroffenen abbildet.

Von Entschädigung ist keine Rede mehr

Im Januar 2010 haben Opfer sexueller Gewalt in der Kindheit durch Priester der katholischen Kirche angefangen, öffentlich zu sprechen.

Sofort wurde ihnen "Aufklärung" und "rasche, unbürokratische Hilfe" versprochen. Die Bundeskanzlerin forderte "Wahrheit und Klarheit". Nichts davon ist bis heute verwirklicht worden. Der "Runde Tisch Sexueller Kindesmissbrauch" wurde von der Politik eingerichtet, die sich danach in die Beobachterrolle an der Seitenlinie begeben hat. Damit wird sie der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe nicht gerecht. Mit dieser Zurückhaltung muss Schluss sein. Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs braucht den Rückhalt des Parlaments, um gegenüber den Kirchen erfolgreich auftreten zu können. Dieses Amt sollte gestärkt werden, etwa durch eine regelmäßige Berichtspflicht.

Matthias Katsch
Matthias Katsch
(Foto: © Barbara Dietl)

2011 wurde von der katholischen Kirche den Opfern eine symbolische "Anerkennungszahlung" von bis zu 5.000 Euro angeboten. Die evangelische Kirche versprach "individuelle Leistungen". Beide Kirchen erklärten sich bereit, sich an einem Fonds der Bundesregierung zur Finanzierung von Sachleistungen zu beteiligen. Ohne Beratung und Information haben nur sehr wenige Betroffene den Weg zu diesen Angeboten gefunden. Sicher kein Zufall.

Menschen, die als Kinder nicht nur Opfer der grausamen Gewalterziehung in den von den Kirchen betriebenen Heimen wurden, sondern dabei auch sexuellen Missbrauch erlitten hatten, wurde der Zugang verwehrt.

Aus dem in der Bundestagsdebatte vom März 2010 angekündigten Gesprächsforum mit den Betroffenen wurde leider nichts. Ihren Platz am Runden Tisch der Institutionen mussten sie sich erst erkämpfen. Vor allem haben wir uns einen Platz in der Öffentlichkeit erkämpft.

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner – nach dieser Devise haben wir Betroffenen in den vergangenen Jahren ein oft verzweifeltes Engagement aufgebracht. Leider werden auch bis heute Selbsthilfe und Selbstorganisation der Betroffenen sexualisierter, körperlicher und seelischer Gewalt durch Mitarbeiter und Kleriker der katholischen Kirche nicht unterstützt, weder von den Verursachern noch vom Staat.

Als im Herbst 2018 die MHG-Studie vorgelegt wurde, erklärten die Verantwortlichen in der katholischen Kirche erneut ihre Bereitschaft zur Aufarbeitung. Sogar von Entschädigung war auf einmal die Rede. Davon ist zweieinhalb Jahre später wenig geblieben. Statt eines einheitlichen Vorgehens hat der Beobachter es nun mit bis zu 27 Aufarbeitungsprojekten in den einzelnen Bistümern zu tun. Dazu kommen ein Dutzend größerer und mehrere hundert kleine Orden, die zum Teil noch nicht einmal mit der Aufklärung angefangen haben und bis heute keine Linie finden, ob sie wenigstens die verbesserten Anerkennungszahlungen der Bischöfe für ihre Opfer übernehmen wollen. Von Entschädigung ist keine Rede mehr.

Hilf dir selbst, sonst hilft dir keiner – nach dieser Devise haben wir Betroffenen in den vergangenen Jahren ein oft verzweifeltes Engagement aufgebracht.

Die Opfer warten seit nunmehr zehn Jahren auf eine angemessene Entschädigung. Kinder wurden oft fahrlässig in Gefahr gebracht, weil Täter nur versetzt wurden. Mit der Bewältigung der lebenslangen Folgen des erlittenen sexuellen Missbrauchs werden die Opfer alleingelassen, weil die Verbrechen von der Bistumsleitung und den Dienstvorgesetzten der Täter nicht aufgedeckt, sondern vielmehr vertuscht und verheimlicht wurden. Damit wurden den Tätern weitere Verbrechen ermöglicht, das Leid der Opfer verlängert und ihnen vielfach der Weg zu Hilfe und therapeutischer Bearbeitung ihrer Traumata erschwert.

Mit symbolischen Anerkennungszahlungen, wie sie die Kirche immer wieder anbietet, ist vielen Betroffenen nicht geholfen. Eine angemessene Entschädigung sollte sich an den von einer unabhängigen Arbeitsgruppe unter Mitwirkung von Expertinnen und Experten, darunter auch Betroffene, im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeiteten Empfehlungen vom September 2019 orientieren.

Betroffene brauchen Aufklärung

Es darf dabei keine erneute traumatisierende Belastung der Opfer geben und auch keine Demütigung durch einseitig verordnete symbolische Beträge. Das Parlament sollte sich an die Seite der Betroffenen stellen und als "ehrlicher Makler" einen Ausgleich suchen. Die Betroffenen haben ein Recht auf Aufklärung und auf Entschädigung. Sie brauchen auch in Zukunft Hilfe, Beratung und Unterstützung. Ein "Opfergenesungswerk", das dauerhaft einen Beitrag für die Gesundung der Opfer leistet, könnte beispielgebend für den Umgang auch mit anderen Opfergruppen in unserer Gesellschaft werden.

Auch wenn die Kirchen alles getan haben, um den Eindruck zu erwecken, die Taten in den Sakristeien und Sprechzimmern, in den Schlafsälen und Duschräumen ihrer Internate seien mit Missbrauchsverbrechen an anderen Tatorten, etwa in einer Familie oder einem Sportverein, auf gleicher Ebene vergleichbar: Dem ist nicht so.

Karl Haucke
Karl Haucke (Foto: privat)

Wenn ein Radfahrer von einem Lkw überfahren wird, ist dies eine fürchterliche, individuelle Tragödie mit einem gesellschaftlichen Rahmen. Wenn ein Unternehmen die häufigen und regelmäßig von seinen Fahrern verursachten Unfälle an Radfahrern systematisch vertuschen, die Fahrer dafür an andere Standorte versetzen und die Opfer zum Schweigen verdammen würde, bis das Unternehmen sich sicher sein könnte, dass alles verjährt ist – dann hätten wir eine Ahnung vom Ausmaß des institutionellen Verbrechens.

Diese Verbrechen bleiben in unserer Rechtsordnung weitgehend ungesühnt. Obwohl die Kirchen und ihre Einrichtungen als Körperschaften öffentlichen Rechts Vorzüge in Anspruch nehmen – die Taten der Priester selbst sind zumeist verjährt, Verdeckung der Taten und Versetzung der Täter sind nicht strafbar und Unternehmen wie die kirchlichen Institutionen können nicht vor Gericht gestellt werden. Wenigstens können und müssen wir dann doch diese Verbrechen aufklären sowie ihre Ursachen und Verantwortlichen benennen! Betroffene brauchen diese Aufklärung, um die Wirkung anderer auf ihre Biografien endlich verstehen zu können – erst damit kann eine Befriedung beginnen.

Eine Großinstitution mit moralischem Anspruch und eigenem Rechtscharakter in unserer Gesellschaft hat systematisch Kindesmissbrauch durch ihr Personal vertuscht und gehofft, irgendwie damit durchzukommen, weil sie in großen Teilen das Wohl der Institution über das Wohl von Kindern und Jugendlichen gestellt hat.

Bis heute hat Kirche nach unserer Beobachtung nicht akzeptiert und verstanden, dass sie als Institution schuldig geworden ist und für die Folgen haften muss. Das wenig opferfreundliche Rechtssystem in Deutschland trägt dazu bei, dass es kein einziges Urteil gibt, in dem einem der tausenden Opfer der katholischen Kirche eine angemessene Entschädigung zugesprochen wurde. Da niemand etwas daran ändern will, bliebe nur der Weg zu den internationalen Gerichten. Denn Deutschland hat sich international auf die Wahrung der Menschenrechte und gegen Folter sowie auf die Werte der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet.

Bis heute hat Kirche nach unserer Beobachtung nicht akzeptiert und verstanden, dass sie als Institution schuldig geworden ist und für die Folgen haften muss.

Kein Bischof wollte die Konsequenzen aus seiner persönlichen Verantwortung ziehen und zurücktreten.

Ein zaghafter Gesprächsprozess über Entschädigungen wurde begonnen, doch schon nach wenigen Monaten wieder abrupt beendet.

Es reichte für eine Vereinbarung mit dem Beauftragten der Bundesregierung, deren Umsetzung aber bislang nicht erfolgt ist. Bis heute ist keine einzige Kommission an den Start gegangen. In einigen Bistümern wie Münster wurden stattdessen eigene wissenschaftliche Kommissionen in Auftrag gegeben, die bereits mit der Auswertung begonnen haben. In Limburg wurde mit Betroffenen ein erstes Gutachten erarbeitet und vorgestellt.

In Köln beauftragte das Erzbistum ein Anwaltsgutachten. Doch nun weigert sich die Bistumsleitung, dieses Gutachten zu veröffentlichen. Und die Betroffenen werden zur Rechtfertigung missbraucht.

Schont die Politik die Kirchen?

Natürlich sollte der Kölner Kardinal Verantwortung übernehmen für die Instrumentalisierung der Betroffenen und seinen Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs in der Vergangenheit; ebenso wie der jetzige Erzbischof von Hamburg und vormalige Generalvikar von Köln, Stefan Heße. Aber müssten dann nicht eigentlich alle Bischöfe, denen man Ähnliches vorwerfen kann, Konsequenzen ziehen?

Auch das kürzlich in Berlin veröffentlichte Anwaltsgutachten hat die Probleme dieser Art von Darstellung sehr deutlich gemacht. Die für Betroffene relevanten Informationen über Tatorte und Verantwortliche sind durch leere Seiten ersetzt. Potenzielle Opfer können sich darin nicht wiederfinden. Eine Vernetzung ist unmöglich. Angehörige und Freunde können mit diesen Informationen nichts anfangen. Dies alles geschieht unter dem Deckmantel des Schutzes der Betroffenen: "Das ist doch gut für dich" – das sagten auch unsere Täter schon und missbrauchten uns.

Patrick Bauer
Patrick Bauer (Foto: privat)

Reihum werden jetzt in den Bistümern Betroffenenbeiräte eingerichtet. Dass Kirche sich beraten lässt, ist vernünftig und folgt den guten Erfahrungen, die die Politik damit gemacht hat, als der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs 2015 einen Betroffenenrat als politisches Beratungsgremium geschaffen hat. Die Kirche hat den Rat von Expertinnen und Experten, und das sind Betroffene, bitter nötig. Betroffene, die in sogenannten Beiräten sich zur Mitwirkung bereit erklärt haben, um so vermeintlich Einfluss auf Entscheidungen in den Bistümern nehmen zu können, wurden jedoch enttäuscht.

In Köln ist ein solcher Beirat an der Bistumsleitung gescheitert. Auch in Münster und Hildesheim verzweifeln Betroffene an der Aufgabe, als Einzelkämpfer in bischöflichen Gremien Interessen von Opfern vertreten zu sollen. Oft machen sie die Erfahrung, dass sie nur das absegnen sollen, was die Kirche bereits vorab entschieden hat.

Ohne eine wirkliche Stärkung der Betroffenenselbstorganisation besteht die Gefahr der Instrumentalisierung von strukturell ungleichen, machtlosen Betroffenen durch die Institution. Die Ereignisse in Köln zeigen dies überdeutlich.

Manchmal ist es zum Verzweifeln. Von Betroffenen wird diplomatisches Geschick und Einfühlungsvermögen in die Nöte der Institution erwartet, welche umgekehrt aber nicht erbracht wird.

Die Institution bringt nicht mal das basale Empathievermögen auf, um die Betroffenen zu fragen, was sie brauchen, sondern lässt sie wieder und wieder Forderungen öffentlich formulieren.

Von Betroffenen wird diplomatisches Geschick und Einfühlungsvermögen in die Nöte der Institution erwartet, welche umgekehrt aber nicht erbracht wird.

Auch die Bitte an Politik um Hilfe und Unterstützung ist bislang nicht erfolgreich. Es entsteht der Eindruck, man wünscht in einer neutralen Rolle zu bleiben, weil Kirche und Staat in vielen Feldern Partner sind. Die Trennung von Kirche und Staat wird dabei zum gefühlt vorgeschobenen Argument.

Es gibt inzwischen Betroffene, die sich fragen: Schont die Politik etwa die Kirchen, weil man genau um die gemeinsamen Leichen im Keller weiß, etwa beim dunklen Kapitel der Heimerziehung?

Es ist viel erreicht worden in den letzten zehn Jahren: Sichtbarkeit und Sprachfähigkeit haben zugenommen. Das ist vor allem ein Verdienst von Betroffenen, die in ihrer Kindheit und Jugend Opfer sexualisierter Gewalt, von Missbrauch waren. Zahlreiche Anstrengungen vor Ort für verbesserte Prävention sind gemacht worden. Doch das Machtungleichgewicht zwischen Opfern und Täterorganisation besteht weiter.

Die Betroffenen brauchen Unterstützung, damit ihr Ringen um Ausgleich und Gerechtigkeit nicht am Ende vergeblich bleibt. Deshalb appellieren wir an die Öffentlichkeit, uns (...) auf der Online-Petitionsplattform WeAct zu unterstützen.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von Christ & Welt.

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